Wer Berührung zärtlich annimmt und schenkt, streift den Himmel. Gedanken zu einem Hauch Liebe und seine Bedeutung für uns Menschen.
Beobachten Sie einmal Paare, deren Tanz nur eine nüchtern einstudierte Schrittabfolge ist. Selbstbezogen tapst jeder starr und holprig nach vorne, zur Seite und zurück. Beide wünschen sich Distanz statt Nähe. Ein wahrer Augenschmaus sind hingegen Sabine Klein und Thomas Mayr. Als sich ihre Wege bei einem Tangofestival kreuzten, mussten sie oft Tanzpartner wechseln. Doch bald war Sabine klar: Mit keinem fühlt es sich besser an als mit Thomas!
Seither sind sie ein Liebespaar und führen seit 2008 eine Tanzschule in Wien. „Tanzen ist ein intimes Ritual, Tango Improvisation pur. Nur wer sich auf Nähe einlässt und sich selbst spürt, fühlt, welcher Schritt als Nächstes folgt. Dann entsteht aus einer tiefen inneren Emotion eine bestimmte Bewegung, auf die der andere reagiert. Tango ist Selbstfindung“, sagen sie und schweben in Harmonie über das Parkett.
Das Geheimnis ihrer Synchronizität heißt zärtliche Führung und zärtliche Hingabe. Dieses vertrauensvolle Zusammenspiel ermöglicht Thomas, sich bei jeder Umdrehung auch mitfühlend Sabine zuzuwenden. Auf ihr Tempo zu achten. Jedes Signal ihres Körpers zu verstehen. Und bei ihr zu bleiben. Selbst dann, wenn sich ihre Hände und Blicke für einige Momente loslassen.
Es war einmal zur Weihnachtszeit
Ich saß mit Bekannten an einem Tisch, er zwei Plätze neben mir. Wir kannten uns kaum. Charmant unterhielt er alle ringsum, doch sein Inneres hielt er fest unter Verschluss. Irgendwann lehnte ich mich zurück. Und da war sie. Seine Hand. Als hätte sie die ganze Zeit darauf gewartet, meine zu berühren. Seine Geste war sanft, kraftvoll und impulsiv zugleich. Sie enthielt den Ausdruck stiller Zuneigung und Erleichterung, eine quälende Distanz überwunden zu haben. Sie verriet sein Verlangen nach Nähe und (An-)Erkennung. Vor allem aber manifestierte sie in diesem Moment die spürbare Befreiung seines Wesens.
„Zärtlich zu sein ist die Möglichkeit, mit unseren Händen das zu sagen, wozu uns die Worte fehlen“, meinte einmal der deutsche Schriftsteller Bernhardt Bless. Zu Recht. Denn gewünschte Zärtlichkeit ist eine nonverbale Sprache. Neben Anerkennung, Hilfsbereitschaft, Zweisamkeit und herzlichen Geschenken ist sie die erste und elementarste der „fünf Sprachen der Liebe“, die der amerikanische Beziehungsberater Gary Chapman benennt.
Die Sprache der Liebe
Kein Ausdruck ist ehrlicher. Wer in der Kindheit besonders viel umarmt wurde, versteht Zärtlichkeit ein Leben lang als Muttersprache und bekundet durch sie auch als Erwachsener seine Liebe. Zwar fällt es nicht jedem oder jeder leicht, zärtliche Signale zu senden. Doch jeder, der sie empfängt, versteht, was gemeint ist: vom Säugling bis hin zu Menschen, die sich nicht (mehr) mitteilen können. WachkomapatientInnen etwa, Schwerbehinderte oder Demenzkranke.
In unserer sexualisierten Gesellschaft wird Zärtlichkeit jedoch oft einseitig und reduziert betrachtet. Der Lyriker Hans Lohberger zum Beispiel verstand sie als „zielgehemmte Erotik“, der Immunbiologe Gerhard Uhlenbruck als „dritte Dimension des Sex“. Viele große DenkerInnen wussten aber, dass das Phänomen „Zärtlichkeit“ nur am Rande mit Sexualität zu tun hat. Küssen, Kosen und Kuscheln sind nur drei Varianten, ihren Facettenreichtum zu streifen – den „Flaum der Intimität“, wie einst Friedrich Nietzsche treffend meinte.
„Die Zärtlichkeit zögert und scheut sich, den anderen zu berühren. Ihre Berührung ist leicht und flüchtig sanft. Sie bleibt immer in einem kleinen Abstand zum Geliebten.“
Er versteht sie als ruhiges Verweilen. Als Kontrast zur stürmischen Leidenschaft. Diese will beherrschen, zupacken, festhalten. Zärtlichkeit hingegen schickt sanfte Schauer und lässt den geliebten Menschen frei. Sie verfolgt keinen Zweck, ist über Motive egoistischer Lustbefriedigung erhaben. Sie ist eine Gabe, ein Geschenk an den anderen.
Woher kommt der Begriff Zärtlichkeit?
In seiner jetzigen Form tauchte der Begriff „Zärtlichkeit“ erstmals im 18. Jahrhundert auf. Als Ableitung des spätmittelhochdeutschen „zertlächeit“ und als Synonym für Anmut und große Zuneigung. Die alten Griechen verehrten Charis als Göttin der Zärtlichkeit – sie war die personifizierte Grazie. Doch die Geschichte der Zärtlichkeit ist so alt wie die Menschheit selbst, und jede Kultur fand ihren eigenen zeitgemäßen Ausdruck.
Im Mittelalter wählten die Minnesänger, in der Romantik Poeten und Poetinnen sensible Worte. Mit beflügelnden Liebesbriefen überwanden sie weite geografische Distanzen zu ihren Angebeteten – und die gesellschaftlich oktroyierte Hürde, ihr Werben möglichst sanft zu betreiben. Zärtlichkeit galt nämlich als Beweis „feiner Beschaffenheit“ und der Kunst, „das Leben leicht empfinden zu können“.
Bis heute ist das so. Wer auf ihren Spuren wandelt, kommt ihrer Spontaneität und Quecksilbrigkeit nicht aus. Einmal entfaltet sie ihr Wesen durch sinnliche Berührung. Dann wieder spiegelt sich ihr Gesicht in vertrauten Blicken. Ihr Klang in bewegenden Worten. Aber worin liegt ihr Ursprung? „Zärtlichkeit ist die Grundlage des Seins. Die gefühlte Rückversicherung, dass wir als Mensch existieren“, meint der Wiener Universitätsprofessor und Physiologe Cem Ekmekcioglu. Er ist Autor des Buches „Der unberührte Mensch“.
Aufgrund des Tastsinns reagiere schon ein acht Wochen alter Fötus auf Berührungen durch das Fruchtwasser, das ihn umspült, sagt er. „Im Laufe des Lebens verrät uns eine Geste dann, welche emotionale Färbung sie hat. Ob uns das Gegenüber annimmt oder ablehnt.“ Bis zum letzten Atemzug ermöglicht uns Zärtlichkeit also den Brückenschlag zur Außenwelt. Den haptischen Kontakt zum Du.
Der Finger Gottes
„Alles, was dem geliebten Gegenstand unangenehm sein könnte, muss sorgfältig vermieden werden“, heißt es in Pierers Universallexikon und gibt einen Hinweis darauf, dass man nicht nur mit Lebewesen, also Menschen, Pflanzen und Tieren zärtlich sein kann, sondern auch mit Dingen. Es macht einen Unterschied, ob ich ein Buch sanft auf den Tisch lege oder es lieblos hinknalle.
Zärtlichkeit reflektiert somit eine persönliche Geisteshaltung. Immanuel Kant, Aufklärungsphilosoph und Verfasser des Werks „Kritik der reinen Vernunft“, entdeckte in ihr gar das Gefühl für das Sublime. Für dasjenige, was „nur mit größtem Feinsinn wahrnehmbar“ ist. Unsere Güte für unsere Nächsten und uns selbst ist dabei entscheidend. Kurzum: die Achtung der Schöpfung.
Die Zärtlichkeit Gottes am Weltbeginn malte Michelangelo ins Deckenfresko der Sixtinischen Kapelle. Das Bild „Die Erschaffung Adams“ zeigt den ersten Menschen, wie er sehnsüchtig seinen linken Zeigefinger nach Gottvater ausstreckt. Dieser hält ihm den rechten Zeigefinger entgegen, um auf Adam den Lebensfunken überspringen zu lassen.
Auch die Gestalt Jesu verkörpert Gottes Zärtlichkeit. Weihnachten erinnert uns daran. Als Kind liegt Christus in der Krippe. Nackt, verletzlich und angewiesen auf die Milde der Menschen. Als Erwachsener offenbart er seine Liebe durch gemeinsame Mahlzeiten, Worte, Handauflegungen und Küsse. Besonders zärtlich ist er mit Kranken und SünderInnen, mit Kindern, Frauen und denjenigen, die am Rand stehen. Beispielgebend zeigt Jesus vor, dass Zärtlichkeit heilt. Den Berührten und den Berührenden gleichermaßen. Weil sie einander in ihrer Essenz begegnen.
„Selig die Zärtlichen, denn sie erben das Land“, heißt es in der Bergpredigt, „Deine Zärtlichkeit gibt mir Freude und Glück“ im alttestamentlichen Hohelied der Liebe. Heute, über 2.000 Jahre später, ist es Papst Franziskus, der zur „Revolution der Zärtlichkeit“ ermutigt. Nur sie könne ein Gegengewicht schaffen zum Materialismus und Individualismus.
Auch der brasilianische Befreiungstheologe Leonardo Boff setzt auf die spirituelle Kraft. Zärtlichkeit, meint er, lasse menschliche Tiefe erkennen, die Verbundenheit zum Universum und die Alchemie von Nähe und Frieden. Ein berührender Gedanke, den auch Fjodor Michailowitsch Dostojewski hatte, Russlands größter Schriftsteller und Psychologe des 19. Jahrhunderts. „Die Welt“, so hoffte er, „soll durch Zärtlichkeit gerettet werden.“