„Zärtlichkeit macht uns stark“

„Zärtlichkeit macht uns stark“
  • Teile mit:
  • Veröffentlicht: 13.10.2022
  • Drucken

Die Theologin Isabella Guanzini spricht über die unterschätzte Macht der Zärtlichkeit, die für sie der Schlüssel zu einem sinnerfüllten Leben ist.

Frau Guanzini, wenn Sie von Zärtlichkeit sprechen, woran denken Sie?

Ich denke sofort an die zärtlichen Hände, die uns schon bei der Geburt empfangen und am Leben erhalten haben. Ich denke an die hilflose Schönheit und wundervolle Verletzlichkeit eines Neugeborenen, welche eine Art Offenbarung der Lebenswahrheit sind. Wie kann man die Tatsache verdrängen, dass wir aus der Zärtlichkeit kommen? Wie schwierig und hart unser Weg in die Welt auch gewesen sein mag, so hat uns doch zumindest eine Geste der Zärtlichkeit davor bewahrt, aus ihr herauszufallen – oder an ihr zu ersticken. Denn die Zärtlichkeit benennt meines Erachtens nicht einfach die Erfahrung eines vagen Gefühls der Empathie oder der Nähe, sondern vielmehr die sensible Geistesgegenwart für die Fragilität und Verletzlichkeit aller Dinge.

Fehlt es unserer Gesellschaft an Zärtlichkeit?

In einer Zeit wie heute, die immer schneller läuft, ist die Frage der Zärtlichkeit zu einer Herausforderung geworden. Sie braucht Geduld und Aufmerksamkeit, sie kann nicht einfach käuflich erworben oder optimiert werden. In einer Zeit, die durch Optimierungsdruck herausgefordert und belastet ist, gilt es, sich zu behaupten, Schwächen zu verbergen und sich immer wieder durch Leistung zu bewähren. Aus einer solchen Sicht mag Zärtlichkeit als Schwäche erscheinen, die man sich nicht leisten kann. Für mich stellt sie jedoch eine fundamentale Art und Weise des Umgangs mit allem Leben dar. Die systematische Verdrängung der Zärtlichkeit aus der Grammatik des Lebens, wie es derzeit geschieht, erzeugt ein mangelndes Gespür für die Qualität des Zusammenlebens.

Wann sind wir zärtlich?

Wir sind etwa dann zärtlich, wenn wir eine besondere Geistesgegenwart und Sensibilität für die Situation entwickeln, wenn wir den anderen/die andere in seiner oder ihrer wirklichen Präsenz wahrnehmen, jenseits von Masken, Rollen und Vorurteilen. Die Zärtlichkeit steigt mit unserer Fähigkeit, die Sterblichkeit des Menschen wahrzunehmen: Wenn wir spüren, dass die anderen nicht für immer da sein werden, kann leichter ein zärtlicher Umgang miteinander erwachsen. Oder wenn wir einen Moment des Feierns erleben, wie beim biblischen Sabbat, der in gewisser Weise paradigmatisch für jedes Fest ist und uns das Gebot des Ausruhens schenkt. So erhält das Alltagsleben eine besondere – ästhetische, nicht produktive – Prägung und gewinnt unsere Zuneigung. Das Fest bringt deutlich zum Ausdruck, dass die Menschen nicht mit ihren Leistungen, Funktionen, Unternehmungen, sozialen Routinen gleichzusetzen sind. Das Fest verkörpert das Bedürfnis nach einem anderen Rhythmus, es ist ein Gegengesang, der jeden unbegrenzten Anspruch des Tuns aufhebt.

„Das Empfindsame, das Zärtliche scheint unschicklich geworden zu sein. Für viele Menschen – Erfolgsmenschen, Gewinnertypen – stellt die Zärtlichkeit auf jeden Fall eine unverzeihliche Schwäche dar.“

Warum fällt es uns so schwer, zärtlich zu sein, oder gar von Zärtlichkeit zu sprechen?

Die Rede von der Zärtlichkeit scheint heute geradezu eine Provokation zu sein. Angesichts der komplexen Herausforderungen hypermoderner Städte und der ökologischen Katastrophen scheint Zärtlichkeit machtlos und bedeutungslos zu sein. Mit anderen Worten, Zärtlichkeit passt überhaupt nicht zum Zeitgeist: Das Empfindsame, das Zärtliche scheint unschicklich geworden zu sein. Für viele Menschen – Erfolgsmenschen, Gewinnertypen – stellt die Zärtlichkeit auf jeden Fall eine unverzeihliche Schwäche dar. Man könnte das auch noch zuspitzen: Wo Zärtlichkeit unsere Verletzlichkeit wahrnimmt und das Ego aufs Spiel setzt, stellt sie sogar eine Gefahr dar.

Sie sprechen bei Zärtlichkeit von einer sanften Macht. Welche Kraft hat sie?

Die Zärtlichkeit stellt meines Erachtens keine sentimentale Schwäche dar: Sie ist vielmehr ein durchdringender Affekt, eine Art des Wahrnehmens und des Erkennens. Jede Person hat in jeder Situation die Macht und Möglichkeit, das soziale Zusammenleben menschlicher oder unmenschlicher zu machen. Wir finden uns immer vor einer Wahl: die Präsenz des anderen zu verdrängen oder sogar als unerträgliche Last zu betrachten, oder physische Kontakte und Begegnungen zu spüren und gut aufzunehmen, sodass das menschliche Miteinander für alle wärmer, sensibler und zärtlicher wird.

Macht hat ein schlechtes Image. Wenn wir von ihr sprechen, denken wir meist an ihre negativen Seiten, wie Unterdrückung, Erniedrigung, Gewalt, und Herrschsucht. Wie wichtig wäre es, ein positives Bild zu etablieren?

Es besteht kein Zweifel, dass die Menschen die Vorstellung von Macht nicht nur mit Gewalt oder Herrschaft, sondern auch mit einer mehr oder weniger anonymen Kraft von oben verbinden. Der Gedanke geht heute zu den großen Wirtschafts- und Finanzapparaten, Eliten und großen Interessenverbänden, die die Fäden der exorbitanten, globalen Manöver ziehen. Macht kann aber auch in einem anderen Sinne verstanden werden, nämlich als das, was eine Bewegung auslöst und etwas Neues entstehen lässt. Ich habe auch das Wort „Revolution“ verwendet, da ich das politische Potential der Zärtlichkeit zum Ausdruck bringen wollte. Solch eine Revolution ist ein Prozess, der sich Tag für Tag, Gestus für Gestus, Wort für Wort verwirklicht.

„Unsere Gefühle prägen und färben wesentlich unser Zusammenleben. Sie sind wie Abdrücke, die Menschen einander hinterlassen. Jeder Abdruck ist wesentlich und kann sogar revolutionär sein, um ein neues, humaneres Miteinander aufzubauen. Das Berühren, Weichwerden, Zärtlichkeit-Empfinden ist eine gegenseitige Sinngebung, bei der jeder seine Spur auf dem Körper und der Seele des anderen hinterlässt.“

Wie kann Zärtlichkeit Beziehungen verändern?

In unserer Gesellschaft des Grolls und der Verdrängung unserer geteilten Sterblichkeit ist Zärtlichkeit die grundlegende menschliche Fähigkeit, Beziehungen zu knüpfen, die die Welt zusammenhalten. Unsere Gefühle prägen und färben wesentlich unser Zusammenleben. Sie sind wie Abdrücke, die Menschen einander hinterlassen. Jeder Abdruck ist wesentlich und kann sogar revolutionär sein, um ein neues, humaneres Miteinander aufzubauen. Das Berühren, Weichwerden, Zärtlichkeit-Empfinden ist eine gegenseitige Sinngebung, bei der jeder seine Spur auf dem Körper und der Seele des anderen hinterlässt. Gerade dieses soziale Empfindungsvermögen, das bei jeder Begegnung und Berührung wie ein Molekülstrom von einem Körper zum anderen fließt, hilft uns, eine gemeinsame Welt zu erschaffen. Jedes Ereignis kann eine Gelegenheit sein, um unserer Erfahrung einen Sinn zu geben, um die – oft stumpfsinnige und selbstzentrierte – „Standardeinstellung“ unserer unmittelbaren Beziehung zur Welt zu transformieren.

Das Gegenteil von Zärtlichkeit ist Brutalität, Härte, Hass. Es scheint, als falle es uns leichter, diese Gefühle zu empfinden. Was macht uns so wütend?

Das psychische Leben der urbanen Individuen wird oft durch ein Übermaß an Informationen, Bildern, Begegnungen, Reizen und Impulsen und nicht zuletzt an Arbeitslast überfordert. Das kann die Menschen paralysieren. Einerseits erzeugt dieser überlastete Zustand den Gegeneffekt der Unterkühlung, der Distanz und des Selbstschutzes, der die Menschen für die Realität unempfindlich macht, denn sie sind zu müde, um andere wahrzunehmen oder zu berühren. Darüber hinaus versteckt solche Reserviertheit oft eine leise Aversion, eine gegenseitige Fremdheit und Abneigung, ein allgegenwärtiges Misstrauen. Es entsteht eine Art gefühllose, zielorientierte und immunisierte Haltung, welche Tag für Tag die symbolische und menschliche Landschaft transformiert. Müdigkeit macht nervös, streitsüchtig und misstrauisch, sie ist ohne jede Zärtlichkeit. Manche haben sogar von einer „Gesellschaft des Grolls“ gesprochen, es ist als ob sich Teilchen von unnötiger Intoleranz, Feindseligkeit und Aggressivität in der urbanen und virtuellen Atmosphäre ausstreuen und den Blutkreislauf unserer Städte durchdringen. Die sozialen Medien verstärken und vervielfältigen solche primitiven und unvermittelten Impulse, welche die gesellschaftliche Stimmung durchaus prägen.

Wie bringen wir mehr Zärtlichkeit in unser Leben?

Wir sollten empfänglicher für die Zeichen der Fragilität werden, die uns alle trifft, sodass die allgegenwärtige Härte weicher werden könnte. Wir sollten nie die allerersten Gesten des Lebens vergessen, die wir alle gleich nach unserer Geburt von den anderen zu empfangen begonnen haben. Inmitten unserer Vernünftigkeit und unseres wundervollen technischen Wissens und Denkens sollten wir nicht die Tatsache verdrängen, dass Menschsein eine Aufgabe und eine Berufung bis zu unserem Tod bleibt.

Was hat Zärtlichkeit mit Gott zu tun?

Die Zärtlichkeit hat nicht zuletzt eine tiefe theologische Dimension, die mit dem unvollendeten und prekären Zustand der Welt zusammenhängt. Die Zärtlichkeit Gottes besteht in der Sorge, dass nichts verloren geht. So schreibt Papst Franziskus in „Evangelii Gaudium“: „Jeder Mensch ist Objekt der unendlichen zarten Liebe des Herrn, und er selbst wohnt in seinem Leben.“ Wir können aber auch das Bild in den Blick nehmen, das die christliche Tradition besonders prägt: Ein Kind ist uns geboren. Dieses Kind ist das Versprechen eines neuen Anfangs. Es ist auf die Welt gekommen, um uns zu sagen, dass ein neuer Beginn trotz allem möglich ist. Das zärtlichste und schwächste Geschöpf, ein neugeborenes Kind, das der Welt und den Eltern völlig ausgeliefert ist, ist das Zeichen einer unglaublichen Kraft, die das Neue, ein neues Leben und seine unendlichen Möglichkeiten, freizusetzen vermag.

 

Buch zum Thema:
Isabella Guanzini
Zärtlichkeit. Eine Philosophie der sanften Macht
C.H.Beck 2019

Dieser Beitrag ist in der „Welt der Frauen“ Oktober-Ausgabe erschienen. Erhältlich als Einzelheft in unserem Shop, zum Testabo geht es hier.