Unsere Leserin Helga Wagner & ihre Tochter Gerlinde im „Welt der Frauen“-Gespräch.
Welt der Frauen-Leserin Helga Wagner (72) aus Wolfsberg in Kärnten unterrichtete 30 Jahre lang Sport an einem Gymnasium und leitet noch heute die Turnstunde „Der gesunde Rücken“ im örtlichen Turnverein. Auch ihre Tochter Gerlinde Wagner (50), die als Krankenschwester auf der Geriatrie und Intensivstation arbeitet und sich nebenher vor zwei Jahren mit einer Pasta-Manufaktur selbstständig machte, konnte sie in deren Kindheit für Bewegung begeistern. Doch kaum war diese in der Pubertät, war Schluss damit. Was dahinter steckte? Wir fragten erst bei der Mutter nach und baten anschließend die Tochter zum Gespräch.
„Gerlinde ist meine einzige Tochter. Ich bewundere sie dafür, dass sie an ihre Vision glaubt und niemals zweifelt. Sie ist mutig, zielstrebig und gibt immer 100 Prozent. Doch unser Verhältnis hat eine Zeitlang sehr gelitten. Ich war selbst schuld daran, denn als Sportlehrerin wollte ich auch sie zu Höchstleistungen anspornen. In der Pubertät war ihr das zu viel. Sie rebellierte gegen mich und meine Vorstellungen, wurde zum Sportmuffel, begann zu rauchen und nahm stark zu. Es war hart, ihr Anderssein zu akzeptieren. Um ehrlich zu sein, haben wir bis heute keine Gemeinsamkeiten. Schlimm, was? Was mich dennoch mit Gerlinde verbindet, ist die grenzenlose Liebe einer Mutter zu ihrem Kind.“
„Bei der Annäherung zwischen meiner Mutter und mir war ihr Lebensgefährte Werner, mit dem ich seit 23 Jahren liiert bin, sehr unterstützend. Er tut Mama gut, und er tut mir gut! Er ist eine absolute Vaterfigur“, sagt Gerlinde Wagner. Seither zelebrieren Mutter und Tochter gerne gemeinsame Frühstücke. Seit vielen Jahren machen sie auch gemeinsam Urlaub.
„“
„Ich war eine Revoluzzerin.“
Gerlinde, sind Sie selbst Mutter?
Nein, ich hatte nie einen Kinderwunsch und auch nie einen Partner, mit dem ich mir Kinder vorstellen hätte können. Auch mein Beruf als Krankenschwester ist wegen der Nacht-und Wochenenddienste nicht sehr familienfreundlich. Ich wollte es keinem Kind antun, dass es wegen meiner Berufstätigkeit im Hort oder bei den Großeltern aufwächst. Vielleicht ist mein Denken altmodisch. Trotzdem bin ich davon überzeugt, dass sich eine Frau im Job nicht hundertprozentig verwirklichen kann, wenn sie auch Mutter ist. Der triftigste Grund, warum ich mich gegen Kinder entschied, war aber meine eigene Prägung.
Inwiefern?
Als ich zur Welt kam, waren meine Eltern 22 und 23 Jahre alt, also sehr jung. Meiner Mutter war ihre Selbstverwirklichung als Lehrerin so wichtig, dass sie schon acht Wochen nach meiner Geburt wieder arbeiten ging. Zwei Jahre später folgte die Scheidung. Meine Eltern waren halt grundverschieden. Außerdem hat mein Vater, er war Verkäufer in einem Möbelgeschäft, meine Mutter mit einer anderen betrogen. Diese Frau hat er dann in zweiter Ehe geheiratet und mit ihr zwei Söhne bekommen. Meine Mutter und ich wohnten fortan mit meinen Großeltern im gleichen Haus. Mama war Alleinerzieherin und engagierte sich in der Schule noch mehr als zuvor. Oft war sie mit ihren Klassen auf Skikursen und Sommersportwochen. Abends leitete sie Kurse im Turnverein. Sie wollte ihren Eltern etwas beweisen, ihnen gefallen, und sehnte sich nach deren Anerkennung. Das war der Motor für ihre Leistungsorientiertheit. Bestimmt handelte sie nach bestem Wissen und Gewissen, doch als Kind hatte ich lange Zeit das Gefühl, dass sie mich nicht mag.
Wer kümmerte sich um Sie, wenn Ihre Mutter arbeiten war? Ihre Großmutter?
Bis zu meinem achten Lebensjahr, ja. Dann starb Oma an Krebs – so wie alle Verwandten in ihrer Linie. Meine Großmutter war eine sehr dominante Person. Ich habe nur negative Erinnerungen an sie. Als Frau eines Geschäftsmannes legte sie großen Wert darauf, in der Gesellschaft gut dazustehen. Deshalb achtete sie immer penibel darauf, dass alles seine Ordnung hatte. Ihre Normvorstellungen wollte sie auch mir, der Linkshänderin, überstülpen. Jedes Mal, wenn ich meine Hausaufgaben machte, riss sie mir die Seiten aus dem Heft und schrie: „Jetzt schreib endlich schön – mit deiner richtigen Hand!“ Auch gegenüber meiner Mutter war Oma nie sonderlich herzlich. Im Gegenteil: Sie erzählte Mama sogar, dass sie – im Vergleich zu ihren Brüdern – nicht gewollt gewesen war! Solche Worte hinterlassen Spuren… Mein emotionaler Anker war mein Großvater. Er hieß Friedrich und vereinte in sich all das, was wichtig war, um mir trotz allem eine gute Kindheit zu ermöglichen. Opa war verständnisvoll, einfühlsam und immer da, wenn ich ihn brauchte.
Wie entwickelte sich Ihr Verhältnis zu Ihrem Vater?
Mein Vater hatte sich einen Sohn gewünscht, denn seine sieben Brüder hatten ausschließlich Söhne – und alle spielten Fußball! Als dann ich geboren wurde, war er entsprechend enttäuscht. Er gab mir nie das Gefühl, seine Tochter zu sein. Da war nie Nähe und Wärme. Für ihn war ich nicht existent. Das blieb auch nach seiner Scheidung von meiner Mutter so. Für seine beiden Söhne aus zweiter Ehe tat er wiederum alles – emotional und finanziell. Mit Beginn der Pubertät begriff ich, dass ich mir das nicht gefallen lassen muss. Ich erklärte meinem Vater, dass mich sein Verhalten kränkt und verletzt. Geändert hat er es nicht. Deshalb brach ich den Kontakt zu ihm ab. Ich wollte diesen Schmerz einfach nicht mehr fühlen und weiterhin zu Kreuze kriechen, wo ich doch eh keine Liebe zurückgeschenkt bekam! Insgeheim dachte ich: „Wenn ihm etwas an mir liegt, wird er sich schon melden.“ Doch er schrieb mir nur an Geburtstagen und zu Weihnachten ein SMS und legte ein Päckchen vor die Tür. Als Erwachsene konfrontierte ich ihn erneut mit seiner Lieblosigkeit mir gegenüber. Leider sieht er das bis heute anders und schiebt nach wie vor die Schuld an der Trennung meiner Mutter zu.
Auch von Ihrer Mutter distanzierten Sie sich als Teenager. Warum?
Bis zur Pubertät tat ich bei allen Sportarten, die sie ausübte, mit: schwimmen, Ski fahren, laufen ecetera. Auch in ihrer Gymnastikgruppe war ich dabei, in der Hoffnung, dass meine Mutter mich endlich sieht. Doch bei jedem Auftritt oder Wettbewerb bevorzugte sie andere, schlankere und sportlichere Kinder und stellte mich in die letzte Reihe. Das tat weh! So fing ich mit 13 Jahren an, mein Bedürfnis nach Liebe zu kompensieren und durch übermäßiges Essen zu stillen. In meiner Glanzzeit wog ich 140 Kilo!
Wie reagierte Ihre athletische Mutter auf Ihr „Kampfgewicht“?
Sie hielt mir Vorträge, montierte ein Schloss an den Kühlschrank, schickte mich in den Ferien auf Diät-Camps für fettleibige Jugendliche und vermittelte mir, dass Dicksein nicht gesellschaftstauglich ist. Wenn man permanent hört „Du bist zu dick“ und „Du bist nicht schön!“ macht das etwas mit einem. Meine Mutter ist eine sehr gesunde und bewusste Frau – auch beim Essen. Viele Jahre hat sie sich sehr kasteit, um ja gute Figur zu machen.
Projizierte Ihre Mutter Ihre Vorstellungen und Wünsche auch in anderen Bereichen auf Sie?
Ja. Sie wollte unbedingt, dass ich das Gymnasium, in dem sie unterrichtete, besuche. Das war eine Katastrophe, denn meine schulischen Leistungen waren nicht entsprechend. Sie wollte auch, dass ich maturiere, studiere und etwas Besonderes werde. Aber ich war eine Revoluzzerin, die gegen ihre Pläne arbeitete. Mit 16 Jahren brach ich schließlich das Gymnasium ab und wechselte in eine Internatsschule nach Graz. Der Abstand von Zuhause tat mir gut. Auch während meiner Ausbildung zur Krankenpflegerin in Klagenfurt und den ersten Berufsjahren wahrte ich Distanz zu meiner Mutter und beschränkte unsere Gespräche und Telefonate nur auf oberflächliche Themen. Natürlich spürte sie trotzdem immer, wenn es mir nicht gut ging.
Mit 30 Jahren haben Sie auf der Intensivstation begonnen, weil sie Lust auf eine Herausforderung hatten. Sind Sie dann aufgeblüht?
Nein, ich musste erst 40 Jahre alt werden, damit ich einigermaßen aufblühen konnte! Aufgrund meines hohen Gewichts hatte ich ein sehr geringes Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein. Hinzu kam, dass ich nur Partner anzog, die mich in meinem Tun nicht sehr bestätigten. Nach der Trennung von meinem damaligen Lebensgefährten, da war ich um die 35, begab ich mich in psychologische Betreuung und fing im Rahmen einer Psychotherapie an, mein Leben aufzuarbeiten. Dadurch erkannte ich Beziehungsmuster, die schon in meiner Kindheit bestimmend waren. In Folge nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und redete Klartext mit meiner Mutter, denn ich wollte mir ihre Sichtweise anhören, um gewisse Dinge, die in der Vergangenheit vorgefallen waren, besser verstehen zu können. Wir haben damals sehr, sehr viel geredet und konnten so einige Unklarheiten und Missverständnisse bereinigen.
Haben diese Aussprachen auch Ihre Mutter weitergebracht?
In jedem Fall, auch wenn bei unseren Gesprächen eine Sache erschwerend hinzukam: ihre hochgradige Schwerhörigkeit. Meine Mutter hatte nämlich mit 48 Jahren einen plötzlichen Gehörverlust erlitten. Von da an konnte sie auch ihren Lehr-Beruf nicht mehr ausüben und an Unterhaltungen teilhaben. Unsere Gesellschaft ist da brutal und nimmt keine Rücksicht. Das traf Mama schwer und trieb sie in eine Depression. Einige Jahre kam sie mit Hörapparaten ganz gut zurecht. Sogar ein Hör-Implantat ließ sie sich einsetzen. Doch wie es ihr gefühlsmäßig ging, hielt sie unter Verschluss. Ich merkte nur, dass sie oft sehr aggressiv war. Erst, als sie mir im Zuge unserer Aussprachen erklärte, dass sie den Großteil des Gesagten von den Lippen ihres Gegenübers ablesen muss, verstand ich, woher ihr Verhalten rührt.
Hat Sie Ihre Mutter diesbezüglich nie um Hilfe gebeten?
Doch. Immer wieder drängte sie mich dazu, dieses oder jenes Telefonat für sie zu erledigen. Aber ich antwortete: „Nein, ich nehme dir diese Dinge nicht ab! Du musst eine Strategie entwickeln, wie du dein Leben mit dieser Behinderung selbst meistern kannst.“ Wahrscheinlich habe ich ihr mit dieser Reaktion wehgetan, aber heute ist sie mir dankbar dafür. Denn nun weiß sie, dass sie auch alleine gut zurechtkommt. (hält inne) Sie liebt mich von ganzem Herzen – und ich sie auch! Sie ist die beste Mutter, die es gibt. Ich bin ihr so dankbar, dass sie an mich glaubt und mich zu tausend Prozent bei meiner „Pasta-Passion“ unterstützt!
Ein leidenschaftliches Projekt: „Pasta-Passion“
In der „Pasta-Passion“ isst auch das Auge mit. Jedes Eck ist heimelig gestaltet und lädt zum Verweilen ein. Dabei hat Gerlinde Wagner nur eine Mitarbeiterin, ihre beste Freundin Brigitte: „Sie ist ein Profi, was den Verkauf betrifft!“ Die Nudeln gibt es übrigens auch glutenfrei. www.pastapassion.at
Wie kam es eigentlich dazu, dass Sie eine Nudelmanufaktur betreiben?
Meine Lust am Kochen mit regionalen und saisonalen Produkten entdeckte ich durch die Mutter meines Ex-Freundes, die für ihre Familie trotz knappem Budget immer groß auftischte. Zunächst kochte ich nur für FreundInnen und Bekannte. Doch als diese mich darin bestärkten, mehr aus meinem Talent zu machen, meldete ich ein Kleingewerbe an und begann, zuhause gefüllte Teigtaschen und Nudeln zu machen. Zuerst verkaufte ich diese in einem Feinkostladen, in Gastronomiebetrieben und auf dem Wochenmarkt in der Wolfsberger Innenstadt. Als ich merkte, dass ich die Arbeit alleine nicht mehr schaffte, holte ich meine beste Freundin Brigitte – sie ist pensionierte Krankenschwester und seit 25 Jahren an meiner Seite – an Bord, und reduzierte meine Vollzeit-Anstellung im Spital auf Teilzeit. Binnen kürzester Zeit bauten wir extrem viele StammkundInnen auf. Doch dann kam Corona – und plötzlich hatte ich keine Einnahmen mehr.
Was haben Sie unternommen?
Ich schloss mich mit einer Bäuerin zusammen und verkaufte meine Nudeln in ihrem Hofladen. Meine StammkundInnen waren weiterhin präsent. Zusätzlich gab ich mein Mietshaus auf und pachtete eine kleine Wohnung und ein kleines Geschäftslokal in der Stadt. Das stattete ich liebevoll mit alten Möbeln aus und eröffnete im Juli 2020 meinen Pasta-Laden. Seither verkaufe ich dort jeden Samstag zwischen 9 und 13 Uhr meine Nudeln.
Ihre Kreationen haben ulkige Namen. Da gibt es zum Beispiel den „Ziegenpeter“ aus Ziegenkäse, karamellisierten Walnüssen und Chili-Birne. Den „Spargeltarzan“ aus weißem Spargel, Ricotta, Pecorino, Kartoffeln und Butterbröseln. Oder die „Haß‘n Ohren“ aus Rotkraut und Maroni. Gibt es diese Schmankerl ganzjährig?
Nein, sie variieren nach Saison. Die Leute mögen diese Abwechslung. Viele essen nach dem Einkaufen auch gleich im Geschäft zu Mittag, denn ich biete alle Pasta-Gerichte auch warm an – und mit Suppe! Besonders geschätzt wird, dass ich jeden Teig, jede Nudel frisch und in reiner Handarbeit anfertige.
Ist das nicht anstrengend?
Doch, aber ich liebe Herausforderungen. Außerdem ist Kochen ein super Ausgleich. Nur meine Perfektion wird mir manchmal zum Verhängnis. Ich schaue nämlich sehr darauf, dass alles passt – nicht nur auf dem Teller.
Planen Sie auch einen Online-Shop?
Soweit bin ich noch nicht. Dafür fehlen mir die zeitlichen Kapazitäten. Denn dann müsste ich die ganze Woche Nudeln produzieren, um sie als Frischware verschicken zu können. Momentan bin ich auch ein wenig kraftlos, weil die Situation im Krankenhaus aufgrund der Pandemie prekär ist. Jeder Dienst raubt mir irrsinnig viel Energie. Deshalb befinde ich mich in einem inneren Konflikt. Vom Herzen her hätte ich meinen Job im LKH schon vor einem halben Jahr an den Nagel gehängt, weil es nicht mehr passt. Dabei fehlen mir noch 13 Jahre bis zur Pension! Das einzige was mich vom Kündigen abhält, ist mein Kopf, und die Tatsache, dass ich dann sämtliche Ansprüche verlieren würde. Das ist viel Geld. Obwohl Geld im Leben nicht entscheidend ist. Andererseits bezahle ich damit meine Fixkosten. Das würde ich mit der Pasta-Manufaktur allein vermutlich nicht schaffen, wenn noch mehr solcher Krisen kommen, die ganze Branchen ruinieren. Ich bin doch so auf Sicherheit bedacht! Aber wie heißt’s so schön? Gut Ding‘ braucht Weile! Vielleicht reicht’s mir ja schon bald und ich treffe eine Entscheidung, die ich schon vor langer Zeit hätte treffen müssen.
Petra Klikovits
In ihrer monatlichen Onlinekolumne „Meine wunderbare Tochter“ führt Petra Klikovits bewegende Gespräche mit Töchtern, Schwiegertöchtern, Enkeltöchtern, Stieftöchtern, Adoptivtöchtern, Pflegetöchtern, Patchwork-Töchtern und anderen Bonustöchtern von Leserinnen, die auf diese via meinewunderbaretochter@welt-der-frauen.at aufmerksam machen. Mehr von Petra Klikovits lesen Sie jeden Monat in Welt der Frauen.
Fotos: privat