Mit fünf Jahren erkrankte Wilma Rudolph an Kinderlähmung. Bis sie zwölf Jahre alt war, konnte sie nicht eigenständig gehen. Mit sechzehn Jahren nahm sie als Läuferin an ihren ersten Olympischen Spielen teil. Und mit zwanzig Jahren erlief sie drei Goldmedaillen auf einmal.
Der Bus fährt über ein Schlagloch, und die Passagiere in den hinteren Reihen werden durchgeschüttelt. Wilma schlägt sich ihr Bein am Vordersitz an und verzieht schmerzerfüllt ihr Gesicht. „Schon gut“, flüstert ihre Mutter und legt ihr den Arm um die Schultern. Wilma schmiegt sich an sie und sieht aus dem Fenster.
Jede Woche, so lange sie denken kann, fahren ihre Mutter und sie mit dem Bus ins Krankenhaus in Nashville. 80 Kilometer hin, 80 Kilometer zurück, immer dicht gedrängt hinten im Bus, wo schwarze Menschen sitzen müssen. Wilma blickt an sich herunter. Ihr Bein steckt dünn und kraftlos in einer Schiene. Wird sie jemals laufen können?
Kindheit und Jugend
Im Juni 1940 kommt im US-Bundesstaat Tennessee ein Sorgenkind zur Welt. Die kleine Wilma Rudolph ist das zwanzigste von zweiundzwanzig Kindern ihrer Familie. Sie wird zu früh geboren und wiegt nur knapp zwei Kilo. Nie ist sie wirklich gesund. Mit fünf Jahren erkrankt Wilma schließlich an Kinderlähmung. Sie überlebt, doch ihr linkes Bein und ihr linker Fuß bleiben dünn und schwach. Sie kann kaum gehen, geschweige denn laufen, springen oder tanzen.
Weil es für AfroamerikanerInnen in ihrer Heimatstadt kaum medizinische Versorgung gibt, fährt ihre Mutter mit ihr wöchentlich in ein entferntes Krankenhaus. Dort bekommt Wilma eine Beinschiene aus Metall und einen speziellen Schuh angepasst. Vier Mal täglich massieren ihre Mutter oder eines ihrer vielen Geschwister ihr krankes Bein.
Die Liebe und Sorge ihrer Familie zeigen Wirkung. Mit zwölf Jahren lernt Wilma, ohne Hilfsmittel zu gehen. Endlich kann sie mit ihren Geschwistern spielen – und die spielen am liebsten Basketball. Bald rennt auch Wilma über den Basketballplatz, als hätte sie nie etwas anderes getan.
Sie schließt sich ihrer Schulmannschaft an und holt für sie Punkt um Punkt. Bei einem der Spiele beobachtet sie der Leichtathletik-Trainer der Universität von Tennessee. Er ermutigt Wilma, sich als Läuferin zu versuchen. Obwohl sie erst vierzehn Jahre alt ist, beginnt sie mit den Leichtathletinnen der Universität zu trainieren und wird schließlich sogar Mitglied ihres Teams.
Sportliche Karriere
1956, als Wilma sechzehn ist, qualifiziert sie sich mit vier ihrer Teamkolleginnen für die Olympischen Spiele in Melbourne. Gemeinsam gewinnen sie im Staffellauf die Bronzemedaille. Wilma trägt sie stolz um den Hals, als sie in die Schule zurückkehrt. Ihre Zukunft scheint klar: Sie wird die Schule abschließen und dann die Universität besuchen, für die sie nun schon seit Jahren bei Laufwettbewerben antritt.
Und dann, bei den nächsten Olympischen Spielen, will sie die Goldmedaille holen. Doch davor passiert noch etwas anderes: In ihrem letzten Schuljahr, mit achtzehn Jahren, wird Wilma Mutter. Ihr Freund und sie bekommen eine Tochter namens Yolanda. Das wird damals nicht gern gesehen, und Wilma muss sich hämische Kommentare gefallen lassen: Das war’s wohl mit der Sportkarriere!
Dreifache Olympiasiegerin
Doch Wilma lässt sich nicht aufhalten. Sie macht ihren Schulabschluss, schreibt sich an der Universität ein und konzentriert sich auf ihr großes Ziel, die Olympischen Spiele 1960 in Rom. Dort tritt sie im 100 Meter-Sprint, im 200 Meter-Sprint und dem Staffellauf an. Und Wilma rennt.
Sie gewinnt den 100 Meter-Sprint mit einer Zeit von elf Sekunden. Sie gewinnt den 200 Meter-Sprint mit einer Zeit von vierundzwanzig Sekunden. Und gemeinsam mit ihrem Team gewinnt sie auch den Staffellauf.
Damit ist Wilma die erste Amerikanerin überhaupt, die drei Goldmedaillen auf einmal gewinnt. Die Welt ist hin und weg von der Ausnahmesportlerin. „Die schwarze Gazelle“ nennen sie die italienischen Zeitungen, „die schwarze Perle“ schreiben die französischen Blätter – und in Amerika nennt man sie wahlweise schlicht „die Königin“ oder „die schnellste Frau aller Zeiten“.
Kämpferin für die Rechte schwarzer Menschen
Ihre Heimatstadt will sie mit einer großen Parade empfangen – nach Hautfarben getrennt, wie es den damals geltenden rassistischen Gesetzen entspricht. Doch Wilma lässt den Veranstaltern ausrichten, dass entweder alle gemeinsam feiern oder gar nicht. Und so wird es das erste Fest in der Geschichte der Stadt, bei dem die Rassentrennungsgesetze aufgehoben sind.
In den Jahren danach gewinnt Wilma viele nationale und internationale Bewerbe und stellt Weltrekorde auf. Und dann, mit 22 Jahren, beendet sie ihre Karriere. Ihre Triumphe bisher seien ihr genug, erklärt sie fassungslosen Reportern.
Danach arbeitet Wilma als Lehrerin, Leichtathletik-Trainerin und Sportkommentatorin und setzt sich für viele karitative Zwecke ein. Als Prominente tritt sie im Fernsehen und Radio auf, unterstützt junge Sportlerinnen und Sportler und kämpft für die Rechte schwarzer Menschen.
Und sie heiratet ihre Jugendliebe, den Vater ihrer Tochter Yolanda. Zusammen bekommen sie noch drei weitere Kinder. Im November 1994 verstirbt Wilma Rudolph, die Unaufhaltsame, mit nur vierundfünfzig Jahren an Krebs. Ihre Geschichte wird in dutzenden Filmen und Kinderbüchern weiterhin erzählt.
Ricarda Opis
wurde 1996 in Graz geboren und studierte ebendort Journalismus und Public Relations (PR). Sie erzählt am liebsten die Geschichten von Frauen und Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen. Für diese Serie verbindet sie ihre beiden größten Leidenschaften, indem sie die Geschichten großer Frauen nicht nur erzählt, sondern auch bebildert. Wenn sie nicht gerade schreibt oder zeichnet, begeistert sie sich für alles, was sonst noch kreativ ist, und die Geschichte, Kulturen und Politik des Nahen Ostens.