Wenn Zocken zum Problem wird

Wenn Zocken zum Problem wird
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  • Veröffentlicht: 18.10.2023
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Wo verläuft die Grenze zwischen Spiel und Sucht? Und wo gibt es Hilfe?

Frau Wolpers, Ihr Sohn bekam zu seinem zehnten Geburtstag ein Smartphone und rutschte relativ schnell in die Computerspielsucht. Wie hat sich das gezeigt?

Wolpers: Gemeinsame Mahlzeiten und Unternehmungen mit ihm wurden immer schwieriger. Wir hatten bestimmte Regeln, etwa wie viele Stunden er im Internet surfen darf, und es kam immer häufiger zu Regelbrüchen. Er log uns an, nahm Handys von anderen Familienmitgliedern, weil wir ihm seines entzogen hatten. Später gelangte er unter abenteuerlichen Bedingungen zu seinem Handy, um nachts zu spielen. Das Computerspiel vereinnahmte alle seine Gedanken. Es ging nur noch darum, wann er wieder spielen konnte. Er ging zwar in die Schule – er war ja noch sehr jung –, aber alle anderen Interessen traten zurück. Mit seinen Freunden traf er sich kaum mehr im echten Leben.

Wann war für Sie klar, dass es „so nicht mehr weitergeht“?

Wolpers: Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, fi el an Halloween. „Fortnite“ lud zu einem Event, das die ganze Nacht lang ging. Unser Sohn wollte bei einem Freund übernachten und mit ihm gemeinsam spielen. Ich erlaubte ihm das nur bis 20.30 Uhr, dann wollte ich ihn abholen. Daraufhin brach unser Sohn zusammen. Er wurde ganz bleich, fing an zu schwitzen und begann, mit Donald-Duck-Heften um sich zu werfen. Ich wusste nicht mehr weiter und rief eine befreundete Psychologin an. Sie brachte unseren Sohn zur Ruhe und zum Reden. Dazu kommt, dass unser Sohn für In-Game-Käufe viel Geld ausgegeben hatte, insgesamt 800 Euro! Das führte alles dazu, dass ich sagte: „So, jetzt reicht es, wir brauchen dringend Unterstützung, weil das nicht mehr normal ist.“

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„Wenn ein Mensch sich nur noch mit einer Sache beschäftigt und sich freiwillig nicht mehr anderen Dingen zuwenden will – egal, ob beruflich, schulisch oder in Freizeitaktivitäten –, wird es gefährlich.“
Kurosch Yazdi

Herr Yazdi, wie können Eltern die Grenze zwischen Spiel und Sucht, zwischen normalem und krankhaftem Verhalten erkennen?

Kurosch Yazdi: Krankhaft wird es dann, wenn andere Dinge des Lebens aufgrund des Computerspiels dauerhaft eingeschränkt werden. Ein gesundes Kind ist vielfältig, es hat verschiedene Interessen, es spielt zum Beispiel gerne Fußball, geht gern ins Kino, schaut fern und spielt gerne am Computer. Wenn ein Mensch sich nur noch mit einer Sache beschäftigt und sich freiwillig nicht mehr anderen Dingen zuwenden will – egal, ob beruflich, schulisch oder in Freizeitaktivitäten –, wird es gefährlich. Darüber hinaus gibt es auch konkrete Suchtkriterien, die man medizinisch abprüfen könnte. In der ICD-11- Klassifikation der WHO sind das drei Diagnosekriterien: der Kontrollverlust (etwa bei Häufigkeit und Dauer des Spielens), die wachsende Priorität des Spielens vor anderen Aktivitäten und das Weitermachen auch bei negativen Konsequenzen. Im Großen und Ganzen kann man sagen: Es ist dann krankhaft, wenn das normale Leben und die normalen Verpflichtungen nicht mehr möglich sind. 

Ist die Zahl der computerspielsüchtigen Kinder und Jugendlichen seit der Coronapandemie gestiegen?

Yazdi: In Österreich haben wir dazu wenige Zahlen. Es gibt aber Studien aus Deutschland, die zeigen, dass gerade seit der Coronapandemie die Anzahl der computerspielsüchtigen Menschen gestiegen ist. Auch aus unserer Ambulanz am Kepler Universitätsklinikum Linz kann ich das bestätigen. Und die PatientInnen werden immer jünger. Haben wir vor zehn Jahren noch 20- bis 25-Jährige behandelt, haben wir jetzt schon Neun- oder Zehnjährige.

Was sind die Hauptgründe dafür?

Yazdi: Je leichter eine Droge verfügbar ist, desto mehr Menschen werden süchtig davon. Immer jüngere Kinder haben Handys, WLAN-Zugang und Laptops.

Wo gibt es Beratung, Hilfe und Therapie für computerspielsüchtige Kinder und Jugendliche?

Yazdi:

Es fehlt leider ein spezialisiertes, flächendeckendes Netz an BeraterInnen und BehandlerInnen im Bereich Onlinesüchte. Beratung gibt es zum Beispiel auf der Internetseite saferinternet.at. Eine spezifische stationäre kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung für Onlinesüchte gibt es in Österreich nicht. Wir bieten am Kepler Universitätsklinikum Linz eine ambulante Gruppenpsychotherapie an. Das ist sinnvoll, weil viele dieser Menschen voneinander lernen und sich gegenseitig bestärken, mit der Therapie weiterzumachen. Die Behandlung dauert zehn bis zwölf Wochen, parallel dazu bieten wir eine Elterngruppe und nach der Therapie noch Einzel-Nachgespräche an. Medikamente, die zugelassen sind, gibt es derzeit noch nicht.

Foto: Ralph Wentz
„Suchtmanager zu sein, war für uns Eltern eine riesige Herausforderung, zumal wir nicht genug technisches Wissen hatten.“
Ulrike Wolpers

Frau Wolpers, Ihr Sohn hat eine ambulante Therapie gemacht. Wie geht es ihm heute?

Wolpers: Es geht ihm super! Wir hatten großes Glück und konnten rasch mit einer familiengestützten Verhaltenstherapie beginnen. Auch in Deutschland gibt es nur wenige Therapieplätze. Zuerst gab es für unseren Sohn sechs Wochen lang einen kalten Entzug. Suchtmanager zu sein, war für uns Eltern eine riesige Herausforderung, zumal wir nicht genug technisches Wissen hatten. Das heißt, wir mussten schnell kompetent werden, um unseren Sohn anleiten zu können. Gott sei Dank hatte er eine starke Motivation. Das Ziel war, kompetent zocken zu lernen. Das Spiel „Brawl Stars“, das die Sucht ausgelöst hatte, darf er nicht mehr spielen, aber er dürfte zum Beispiel noch „Fortnite“ spielen. Wichtig ist, dass Eltern sich die Zeit nehmen und hinschauen, was die Kinder im Internet machen. Und man sollte versuchen, auch im normalen Leben etwas Spannendes zu erleben.

Herr Yazdi, gibt es bei Computerspielsucht so etwas wie eine Heilung?

Yazdi:  Von Heilung kann man in diesem Zusammenhang nicht sprechen. Heilung ist bei einer chronischen Erkrankung generell ein schwieriger Begriff. Ich würde sagen: abstinent von Computerspielen oder der Applikation, die für einen problematisch ist. Manche lernen tatsächlich, kompetent Computer zu spielen, aber es sind die wenigsten. Wenn ich einmal von „Brawl Stars“ abhängig war, ist es schwierig, später kontrolliert „Brawl Stars“ zu spielen.

Ist „Brawl Stars“ ein Spiel, das ein besonders großes Suchtpotenzial hat?

Yazdi: Das Spiel, das im europäischen Raum in den vergangenen Jahren die meisten Spielsüchtigen produziert hat, ist nicht „Brawl Stars“, sondern „Fortnite“. Davor war es „League of Legends“ und davor „World of Warcraft“. Alle Spiele sind so programmiert, dass die Jugendlichen möglichst viel Zeit damit verbringen. Aber nicht jedes Kind hat dasselbe Suchtpotenzial. Es gibt Kinder, die spielen „Brawl Stars“ und es passiert nichts.

Wolpers:  Das war beim besten Freund meines Sohnes auch so. Deshalb habe ich die Gefahr unterschätzt. Jetzt weiß ich: Man sollte genau hinschauen, wie es dem Kind geht. Und zwar engmaschig, also nicht nur alle drei Wochen, das kann unter Umständen zu lange sein. Man sollte die Medienerziehung in den Alltag integrieren, so wie Zähneputzen. Übrigens profitieren alle von der Medienkompetenz der Eltern. Die Kinder finden es toll, wenn die Eltern mitreden können. Das heißt nicht, dass man in alle Details involviert sein muss, sondern dass man sich dafür interessiert und versteht, worum es in dem Spiel geht.

Was würden Sie anderen Eltern raten?

Wolpers: Medienerziehung braucht heute viel Zeit. Das heißt: Wenn die klassischen Erziehungsaufgaben weniger werden, weil die Kinder größer und selbständiger werden, braucht es viel Zeit, um den technischen Medienschutz zu kontrollieren. Es dient dem Gesundheitsschutz der Kinder und der gesamten Familie, wenn Eltern sich die Zeit nehmen und hinschauen, was die Kinder im Internet machen. Viele Eltern fühlen sich damit überfordert, aber es ist ihre Verantwortung. Eine gute Orientierung hinsichtlich Altersvorgaben und Beschreibung der Spiele bietet die Initiative „Schau hin, was dein Kind mit Medien macht“.

Yazdi:
Das kann ich so unterstreichen.
„Kinder sollten möglichst spät ein eigenes Handy bekommen und möglichst spät sowie möglichst wenig Computerspiele spielen. “
Kurosch Yazdi

Manche Eltern verbieten Computerspiele, andere sagen: Kinder müssen lernen, damit umzugehen. Was ist der richtige Weg?

Yazdi: Was das Beste ist, kann ich nicht sagen. Ich bin selbst Vater von zwei Kindern und weiß auch nicht, was das Beste ist. Ich bin kein Erziehungswissenschaftler. Manche Eltern verbieten Computerspiele so lange wie möglich – auch auf die Gefahr hin, dass das Kind dauernd nach der Schule zu seinem Freund geht und dort spielt. Andere Eltern sagen: Solange das Kind bei mir zuhause spielt, habe ich es selber unter Kontrolle. Was ich sagen kann: Kinder sollten möglichst spät ein eigenes Handy bekommen und möglichst spät sowie möglichst wenig Computerspiele spielen. Sie sollten viele andere Hobbys haben, auch wenn das für die Eltern zeitaufwändig ist. Dem Kind das Computerspielen zu verbieten, ist ja nicht die Lösung. Die Lösung ist, dass ich mich selber anbiete, etwa indem ich sage: „Komm, gehen wir hinaus Fußball spielen.“

Wolpers: Genau, und das kann auch gerne einmal ein Popkonzert oder eine Kirmes (Anm. d. Red.: Kirtag) sein, irgendwas, das cool ist.

„Viele legen Wert auf gesunde Ernährung und Sport, aber nur die wenigsten wissen, dass digitale Medienerziehung und -kompetenz auch zum Gesundheitsschutz zählen.“
Ulrike Wolpers

Stichwort In-Game-Käufe: Wie kann man sein Kind davor bewahren, sich in Unkosten zu stürzen?

Yazdi: Ich denke, da sind schon die Eltern gefordert, mit entsprechenden Eltern-Apps zu regulieren, ob ihr Kind Geld ausgeben darf oder nicht. Es ist die Verantwortung der Eltern, sich mit diesen Dingen zu beschäftigen. Bei den In-Game-Käufen gibt es grundsätzlich zwei Arten: Eine, bei der etwas Konkretes angeboten wird, zum Beispiel eine bestimmte Waffe um 1,99 Euro, die man sich sonst hart erarbeiten müsste. Das ist aus meiner Sicht verachtungswürdig, weil man Kindern bei Spielen, die vermeintlich gratis sind, Geld aus der Tasche zieht. Dann gibt es noch die sogenannten Lootboxen, die eigentlich ein Glücksspiel sind. Dabei zahlen Spieler für zufällig ausgewählte Inhalte von Computerspielen in der Hoffnung, Vorteile beim Spiel zu erhalten. Glücksspiele sind für unter 18-Jährige verboten, das heißt, Lootboxen sollten eigentlich verboten sein.

Wolpers: Eine Bemerkung noch zu den Lootboxen: Für unseren Sohn wurde wie bereits erwähnt „Brawl Stars“ der Auslöser der Computerspielsucht und dort sind die Lootboxen nun seit diesem Jahr verboten. Und zur Verantwortung der Eltern: Viele legen Wert auf gesunde Ernährung und Sport, aber nur die wenigsten wissen, dass digitale Medienerziehung und -kompetenz auch zum Gesundheitsschutz zählen. Und dabei geht es nicht nur um den Worst Case, dass Kinder süchtig werden. Es gibt mehrere Abstufungen, die auch bereits die Gesundheit der Kinder beeinträchtigen. Es beginnt mit der mangelnden Bewegung, geht weiter mit der schlechteren Ernährung bis hin zu psychischen Folgen und dem Schaden, der passiert, wenn man nicht die nötigen Lernerfahrungen in der analogen Welt macht. Es braucht echten Matsch, echte Tränen, echte Abenteuer und echte Umarmungen. Es reicht nicht aus, das alles virtuell zu erleben.

Was bräuchte es auf staatlicher Ebene, um Kinder besser zu schützen?

Yazdi: Lootboxen sind für Kinder verboten, weil es sich um ein Glücksspiel handelt. Das Problem ist, dass niemand der Sache nachgeht. Man wartet auf die Klage von Privatpersonen. Eigentlich sollte der Staat sich darum kümmern, dass das eingehalten wird. In den USA werden alle internationalen Websites, die Glücksspiele anbieten, blockiert, mit dem Argument: Bei uns habt ihr keine Lizenz. Österreich könnte das genauso machen.

Wolpers: In Deutschland sind wir noch einen Schritt davor. Man diskutiert, ob diese Lootboxen überhaupt als Glücksspiel einzuordnen sind. Man müsste die Verfügbarkeit einschränken, aber davon sind wir leider noch weit entfernt. Eltern müssen also weiterhin sehr wachsam sein, denn de facto sind Kinder und Jugendliche nicht ausreichend geschützt.

 

Julia Langeneder fragt, wie Eltern ihre Kinder in der Welt der digitalen Spiele begleiten können.

Zu den Personen:

Kurosch Yazdi, Leiter der Klinik für Psychiatrie mit Schwerpunkt Suchtmedizin des Kepler Universitätsklinikums Linz, Autor („Junkies wie wir“, edition a)

Ulrike Wolpers, Wissenschaftsjournalistin, Autorin („Mein fremdes Kind. Wie wir die Computerspielsucht unseres Sohnes überwanden“, Benvento Verlag)

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