Weihnachtsgeschichte: Als der Schuster nicht zu finden war

Weihnachtsgeschichte: Als der Schuster nicht zu finden war
  • Teile mit:
  • Veröffentlicht: 24.12.2020
  • Drucken

Eine Weihnachtsgeschichte aus Rom.

Die Schuhe!

Plötzlich schoss es ihm. Die roten Schuhe! Hastig stand er von seinem Schreibtisch auf, drehte sich um Richtung Wohnzimmer. »Frau Struda!« Er blickte sich um. »Frau Struda?« Es war ganz still an diesem Nachmittag. Seine Haushälterin war irgendwo in dem riesigen Haus unterwegs und hörte ihn nicht. Sie hatte ihr Handy nicht mitgenommen. Wie sollte er sie nun erreichen? Aber die Schuhe! Ohne sie konnte er abends nicht auftreten. Unmöglich.

Die ganze Welt erwartete das. Rot, nur für ihn. Rot für die Liebe, die Hingabe, die Auserwählung. Kurz hielt er sich am Türrahmen fest. Hatte Frau Struda nicht etwas von einer Schusterei in der Nähe erzählt, wohin sie die Schuhe zum Ausbessern der Absätze hatte bringen lassen? Viertel nach vier. Er hatte noch Zeit. Was, wenn er sie selbst holte? Plötzlich juckte es ihn nach Jahren der Bekanntheit inkognito in die Stadt zu gehen und seine Schuhe selbst abzuholen.

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.

Warum nicht? Die Ansprache hatte er fertig, Geschenke gab es ohnehin nicht zu verpacken, er und Frau Struda hatten sich darauf geeinigt, und alle im Haus waren mit ihren eigenen Dingen beschäftigt. »Bin die Schuhe holen« kritzelte er auf einen kleinen Block, den er auf der Küchenanrichte von Frau Struda fand. Im Schlafzimmerschrank angelte er eine Hose aus früheren Tagen vom Kleiderhaken, unverdächtiges Grau, ein bisschen eng am Bund, aber der Wollpulli, den er auch im Sommer bei Wanderungen gerne trug, deckte gnädig die leichte Wölbung zu. Er musste wieder mehr auf seine Figur achten. Die Kameras waren gnadenlos.

Wenige Minuten später passierte er den Wächter an der Pforte, der seine Hellebarde kurz zum Gruß senkte, ihn aber nicht erkannte. Gut gegangen, dachte er bei sich selbst, und legte den Jackenkragen wieder um. Er eilte durch die Kolonnaden hinaus auf die breite Straße, hinein in die Stadt. Laut brandete der Verkehr um ihn auf, Hupen, Bremsen. Die Passanten rempelten, bepackt mit Geschenksäcken, den alten Herrn mit der schwarzen Baskenmütze an. Wann war er das letzte Mal alleine und zu Fuß in der Stadt unterwegs gewesen? Es musste Jahre her sein. Eine fast diebische, kindliche Freude stieg in ihm auf. Mit dem linken Fuß kickte er übermütig eine glitzernde kleine Kugel zur Seite, die jemand verloren haben musste. Ging ja noch. So schlecht war er im Fußball nicht gewesen, auch wenn er im Seminar den Spitznamen »Plato« getragen hatte. Er eilte an üppig dekorierten Schaufenstern vorbei, bog einmal links, einmal rechts ab. Slalom am Weihnachtsabend, er lachte leise. Skifahren, ohne Bodyguard, das wäre wieder einmal schön.

Wie lange war er schon unterwegs?

Es kam ihm vor, als seien es Stunden. Er beobachtete ein älteres Paar, das sich miteinander gegen den Wind stützte, der nun aufkam. Schnee! Damals in der Heimat, Laternen und das Früchtebrot auf dem Tisch. Wo war er? Wie hieß die Straße des Schusters doch gleich? Als er aufgebrochen war, stand der Laden wie ein Bild vor seinem inneren Auge. Er meinte, den Weg genau zu kennen. Die dicht bevölkerten Straßen der Innenstadt hatte er hinter sich gelassen. Doch nirgends ein Laden, der dem ähnelte, den er anzusteuern gedachte.

Wie hieß der Schuster?

Frau Struda hätte es gewusst. Aber sie war weit weg. Unerreichbar. Sollte er einfach irgendwo hineingehen und die Leute bitten, ihn telefonieren zu lassen? Die Fassaden der Häuser waren grau geworden, die Hauseinfahrten wenig einladend. Langsam wurde es dunkel. Das schwache Licht der Straßenlaternen wies ihm den Weg. Aber wohin? Wie spät war es? Oh Gott! Die Uhr lag auf seinem Schreibtisch. Noch einmal um die Ecke biegen. Vielleicht war das Geschäft ja dort?

Aber hier gab es weder Schuster noch Schneider, nur einen Telefonshop. Die beiden dunkelhäutigen jungen Männer saßen auf Plastikstühlen, beleuchtet vom schwachen Licht einer einzelnen Neonröhre. Sie schienen auf Kundschaft zu warten, drehten ihr Handy, drückten auf ihre Computertastatur. Sollte er sie um Hilfe bitten? Er trat ein. »Kann ich von Ihnen aus telefonieren?« Die beiden musterten ihn freundlich. Ob er bezahlen könne? Siedend heiß stieg es in ihm auf. Seit Jahren hatte er kein eigenes Geld mehr eingesteckt. Sein Sekretär erledigte das stets diskret. »Ich habe es mir überlegt, danke, nein, entschuldigen Sie, ein Irrtum«, stotternd trat er den Rückzug an.

Draußen war es finster geworden.

Er sah sich um. Da, in diese Richtung musste er. Lieber heim und lieber ohne rote Schuhe. Vielleicht hatte Frau Struda sie ohnehin schon abgeholt? Er zog den Kopf zwischen die Schultern. »Aiuto!« »Helfen Sie mir!« Hatte er richtig gehört? Er blieb stehen. »Aiuto!« Die Straße vor ihm war leer. Er blickte nach links. Eine Frau eilte mit einem kleinen Tannenbaum vorbei.

»Aiuto!« Das Geräusch kam von rechts. Er ging ein paar Schritte zurück und fiel fast über ein graues Bündel, das in einer Hauseinfahrt lag. »Aiuto!« Er bückte sich. »Hallo!« Keine Reaktion. »Wer sind Sie?« »Aiuto« kam es ganz schwach. Dann ein Stöhnen, lang und kehlig, gefolgt von einem Schrei, der aus der Tiefe eines Körpers zu kommen schien. »Was ist denn? Was haben Sie?« Er wurde nervös, schob sich näher an das Bündel heran, sah, dass es eine Frau war. Dunkelhäutig, jung, fast noch ein Kind. Sie umfasste mit beiden Händen ihren runden Leib und sah ihn flehend an: »Aiuto!«

Er verstand nicht.

Wieder stöhnte sie. Ihr Körper bäumte sich auf wie unter einer elementaren Kraft. »Bambino!« Nun verstand er. Er griff der jungen Frau unter den Arm, sie stützte sich auf ihn. Wieder wand sich ihr Leib. Er drohte mit ihr zu Boden zu sinken. Sie tasteten sich vor, hinein in das Haus. Mühsam erreichten sie die Stufen zu einem alten Lift. Mitfahren. Ja, das musste er. Ein Kind, eine Geburt. Oben würde ihr Mann sein, er würde die Rettung rufen. Oder ihre Mutter. Oder sonst irgendjemand. Er würde sie bis zur Tür begleiten und dann rasch umkehren.

Der Lift hielt. »Ah, ahhhh!« Die junge Frau ging in die Knie. Jetzt nicht stehen bleiben. »Kommen Sie, kommen Sie, wir sind gleich da!« Sie legte ihren Kopf mit den dunklen quirligen Locken auf seine Schulter. Gut, dass ihn seine Brüder nicht sahen. Ein Schelm, der Böses dachte. Sie nestelte einen Schlüssel aus ihrer Manteltasche und sperrte die alte Tür auf. Kaum hatte sie die Wohnung betreten, ging alles ganz schnell. Sie ließ sich zu Boden gleiten, deutete ihm noch, nach rechts in das kleine Bad zu gehen. Er hatte keine Zeit für Panik. I

Instinktiv wusste er: Wasser, heißes Wasser. Handtücher. Er warf seine Jacke ab, krempelte die Ärmel seines Pullovers hoch. Im Bad fand er einen Eimer, ließ ihn mit heißem Wasser volllaufen, in einer Ablage neben dem abgestoßenen, altmodischen Heizkörper fand er einige durchgewetzte Handtücher. Im Vorbeihuschen sah er sich im leicht vergilbten Spiegel, der schief an der Wand hing. War das wirklich er? So zerzaust hatte er sich schon lange nicht mehr gesehen.

Er kniete sich zur Frau auf den Boden.

Sie griff nach seiner Hand, drückte sie mit aller Kraft. Schnell schob er die Tücher unter ihren Körper, zog ihr die Hose hinunter. »Gott, verzeih mir«, murmelte er und trachtete, nicht weiter hinzusehen. »Maria, io, Maria« presste die junge Frau hervor. Eine Ironie, er musste schmunzeln. Sein Taufname war Joseph. Sie presste, presste, hielt sich an ihm fest, bäumte sich auf, und dann glitschte es zwischen ihren Beinen hervor. Ein rosiges Bündel, verschmiert mit weißem Schleim, eine dunkle blutige Schnur führte von seinem Nabel noch zwischen die Beine Marias. Er griff nach dem kleinen Menschen. Das hatte er früher einmal in einem Film gesehen. Hob ihn auf. Das Baby schrie, und wie. Da begann Joseph zu lachen. Er lachte, lachte, lachte, Maria fiel ein, lachte mit, das Baby schrie, bis alle drei erschöpft innehielten. Mit einem der Tücher wischte er den Buben mit warmem Wasser ab. Irgendwo, er konnte sich später nicht mehr erinnern, fand er ein Messer, mit dem er die Nabelschnur durchtrennte.

Er legte Maria das Baby auf den Bauch.

»Grazie, mille grazie!« Erst jetzt fiel ihm der schwere Akzent der jungen Frau auf. Woher kam Maria? Wie viel Italienisch konnte sie? Joseph hatte sich neben sie auf den Boden gesetzt. Blickte auf sie und das Kind. Erschöpft, erstaunt.

Plötzlich ein schwerer Schritt am Gang, ein Schlüssel drehte sich im Türschloss, und ein langer, dunkler Schatten fiel über ihn. »Simon!« Die junge Frau griff nach ihm. Der schrankbreite wuschelköpfige Mann sank zu Boden, bedeckte das Gesicht Marias mit Küssen, nahm das Baby und wiegte es ganz sacht. Maria murmelte ihm etwas ins Ohr. »Grazie!« Simon umarmte Joseph und rieb die bartstoppelige Wange an der seinen. Unbemerkt wischte Joseph die Tränen aus seinen Augenwinkeln an Simons Jacke ab.

Als er zwei Stunden später die feierliche Mette im hell erleuchteten Petersdom zelebrierte, trug er braune Schuhe, Straßenschuhe. Das fiel weiter niemandem auf. Nur das innere Leuchten, das in dieser Nacht von ihm ausging, schien ungewöhnlich.

»So entspannt hat man unseren Heiligen Vater lange nicht mehr gesehen«, meinten die Kommentatoren. Allein Frau Struda wusste, wer gemeint war, als er, abweichend von den festgelegten Texten, eine Fürbitte für Maria, Simon und das Baby sprach.

Aus: Nina Stögmüller, Heidi Vitéz. Ist das Christkind wirklich blond? Heitere Weihnachtsgeschichten für große Kinder, Verlag Anton Pustet, 168 S., € 19,90

Foto: Istock