Die Kinderpsychologin Gertrude Bogyi erzählt, was sie in Gesprächen mit traumatisierten Kindern gelernt hat, wie sie mit dem „Knödel im Hals“ umgeht und warum es so wichtig ist, ehrlich zu sein.
Was brauchen Kinder in einer akuten Krise, wenn ein Elternteil stirbt?
Gertrude Bogyi: Ich habe sehr oft erlebt, dass Kinder angelogen werden. Immer wieder kommt es vor, dass sie zum Beispiel von ihren Angehörigen nicht auf die Krankenstation gelassen werden, in der ihre Mutter gerade im Sterben liegt. Das ist gut gemeint, aber es hilft dem Kind nicht. Deshalb war es mir so wichtig, eine Anlaufstelle zu schaffen, die auch präventiv arbeitet. Wir müssen das Kind möglichst früh begleiten und ihm von Anfang an die Wahrheit sagen.
Warum ist das so wichtig?
Wir wollen immer, dass die Kinder uns die Wahrheit sagen. Aber wenn wir selbst nicht ganz ehrlich sind, können wir Ehrlichkeit von ihnen eigentlich auch nicht verlangen. Wenn Kinder angelogen werden, schwindeln sie später selbst. Wir wissen zudem, dass Kinder, denen nicht die Wahrheit gesagt wird, psychische Auffälligkeiten entwickeln können.
Wie erklärt man einem Kind, dass sich ein Elternteil selbst getötet hat?
Generell neigen Kinder dazu, sich die Schuld zu geben, wenn sie sich Unerklärliches erklären wollen. Sie sagen zum Beispiel bei einer Scheidung: „Ich war schlimm, darum ist der Papa ausgezogen.“ Ein Suizid verursacht im Umfeld immer wahnsinnige Schuldgefühle, besonders bei Kindern. Deshalb ist es ganz wichtig, dass man dem Kind sagt: „Der Papa oder die Mama hat sich selber getötet, weil …“
Es ist sehr wichtig, dem Kind den Grund zu nennen und zu erklären, dass es sich um eine ganz, ganz schwere seelische Erkrankung handelt und Mama beziehungsweise Papa vielleicht nicht die richtige Hilfe gefunden hat. Wichtig ist auch die Schuldentlastung. Wir rollen ein Stück Papier zu einer Röhre und lassen das Kind hindurchschauen. So erklären wir die suizidale Einengung: Man sieht nicht mehr links und rechts und welche Möglichkeiten es gäbe, und da erscheint der Suizid wie der einzige Ausweg.
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„Auch wenn mir oft die Tränen gekommen sind oder ich den Knödel im Hals gespürt habe, habe ich gewusst: Es ist gut, dass ich da bin.“
Wie verhindert man, dass sich psychische Leiden vererben?
Viele denken: „Die Kinder werden schon fragen, wenn sie etwas interessiert.“ Das stimmt aber nur bei sachlichen Themen! In emotionalen Belangen spüren sie, wenn die Erwachsenen nicht reden wollen. Und dann sind sie mit dem Problem ganz allein. Die Wahrheit ist den Kindern zumutbar. Das habe ich – wie das meiste – von den Kindern gelernt.
Oft kamen die Kinder wegen Problemen in der Schule in die Ambulanz. Erst wenn die Noten nicht passen oder die Lehrerin es empfiehlt, gehen viele zur Beratung. Als sie dann bei mir waren, merkte ich, dass es gar nicht um die Schule ging. Ich erinnere mich an den Fall eines zehnjährigen Buben, der nicht mehr lernen wollte. Mutter und Sohn saßen bei mir, und als ich fragte, was mit dem Papa passiert sei, hat die Mama ganz schnell geantwortet, er sei an einem Herzinfarkt gestorben. Ich habe sofort gespürt, dass da etwas nicht stimmte.
Wie haben Sie reagiert?
Ich habe die Mutter hinausgeschickt und den Buben gefragt, was denn los sei. Er hat geantwortet: „Ich weiß eh, dass sich der Papa vor den Zug geworfen hat, aber die Mama weiß nicht, dass ich es weiß. Und sie wäre auch unglücklich, wenn sie wüsste, dass ich das weiß.“ Ich darf das übrigens zitieren, weil ich den Buben um Erlaubnis gefragt und ihm gesagt habe, dass ich das gerne erzählen möchte, weil Erwachsene davon so viel lernen können. Die Kinder wollen die Erwachsenen schonen, und so entstehen bei ihnen Symptome. Dieser Bub hat die Schule geschwänzt und ist heimlich mit dem Rad zu der Unfallstelle gefahren, an der sich der Papa umgebracht hat. Er hatte sogar selbst herausgefunden, wo es passiert war.
Wie ist es weitergegangen?
Ich habe die Mama wieder ins Zimmer geholt und ihr gesagt: „Sie haben es gut gemeint, aber Sie müssen die Wahrheit sagen.“ Der Bub ist ganz zornig geworden und hat gemeint: „Mama, weißt du, was es heißt, wenn du im Supermarkt an der Kassa stehst und hinter dir die Leute über einen Mann sprechen, der sich vor den Zug geworfen hat – und du weißt ganz genau, dass das dein Papa ist? Und du kannst nicht nach Hause gehen und die Mama fragen?“
Gemeinsam trauern
Was macht die Wahrheit mit den Kindern?
Es ist irrsinnig erlösend – für alle Beteiligten. Der Bub hat sich dann bei der Mama auf den Schoß gesetzt, und die beiden haben bitterlich geweint. Ich bin rausgegangen und habe sie eine halbe Stunde gemeinsam trauern lassen. Sie hatten sich vorher sehr voneinander entfernt, und plötzlich waren sie wieder vereint. Wenn die Eltern bei einem Unfall umkommen, schaue ich mir mit den Kindern sogar die Zeitungsberichte mit den Fotos vom Autowrack an. Diese Bilder sollen nicht nur die anderen Kinder in der Schule sehen und hinter dem Rücken tuscheln! Das betroffene Kind muss das sehen, weil es erlösend ist, wenn es spürt, dass da jemand ist, der das Ganze mit ihnen gemeinsam aushält.
Gehört das auch zur Ehrlichkeit – zu zeigen, dass mich etwas traurig macht?
Ja, unbedingt. Wir sind ja keine Roboter. Ich habe den Kindern erklärt: „Weißt du, das ist jetzt auch für mich sehr traurig.“ Während meiner Ausbildung habe ich einen elfjährigen Buben betreut, der aus der Schule nach Hause kam und mit ansehen musste, dass seine Mutter sich aus dem vierten Stock gestürzt hatte. Es hat ihm dann im wahrsten Sinne des Wortes die Rede verschlagen. Er hat wochenlang geschwiegen, eines Abends saß ich ihm gegenüber, und er sagte: „Ich weiß, ich bin schuld, weil ich auf die Mathematikaufgabe einen Fünfer gekriegt habe. Und die Mama war ganz verzweifelt und hat sich gefragt, wie das jetzt weitergehen soll.“ Das ist aus ihm herausgeplatzt. Ich habe ihm dann einfach den Arm um die Schulter gelegt und ihm gesagt, dass er sicher nicht schuld sei!
Meist lernen wir, man solle abgegrenzt sein als Psychologin. Ich mag dieses Wort – „Abgegrenztheit“ – nicht. Man kann sich nur einlassen. Mit schlechtem Gewissen habe ich damals meiner Ausbilderin erzählt, dass ich den Jungen in den Arm genommen habe. Sie hat super reagiert und gesagt: „Na und? Wie hätten Sie dem Buben denn besser Anteilnahme gezeigt, als ihn zu umarmen? Nur zerfließen dürfen Sie nicht!“ Oft gehen selbst die Mütter zum Weinen aufs Klo, damit das Kind es nicht sieht. Was lernt dieses Kind? Dass Weinen und Trauer nicht okay sind. Wie oft hören Kinder: „Brauchst nicht traurig sein.“ Ein Abschied ist ein Abschied! Es ist auch ganz wichtig, Kinder auf Begräbnisse zu lassen. Wissen Sie, wie oft ich von meinen kleinen Klienten den Satz „Sie haben mich nicht mitgenommen!“ gehört habe?
Ist das immer noch so?
Ja. Es hat sich diesbezüglich mittlerweile zwar etwas zum Besseren verändert, aber Trauer und Tod sind leider immer noch sehr tabuisiert bei uns. Wenn ein Elternteil stirbt, muss ein seelisch gesundes Kind nicht unbedingt in Psychotherapie. Das Wichtigste ist, wie sein soziales Umfeld damit umgeht. Ich habe immer dafür gekämpft, dass man auf Intensivstationen die Kinder zu den Sterbenden lässt. Das ist kein Schock für ein Kind! Aber es muss ein Erwachsener dabei sein, der dem Kind vorher zum Beispiel erklärt: „Die Mama kann jetzt nicht sprechen, die Mama wird mit einer Maschine beatmet.“
Kennst du mich noch?
Ich habe erlebt, wie Kinder ihre Mutter auf der Intensivstation besucht haben und sie noch einmal streicheln und ihr ein Bussi geben konnten. Sie waren dabei – und das hilft ihnen ein Leben lang, mit der Trauer umzugehen. Ich hatte eine Klientin, die vier Jahre alt war, als ich sie dabei begleitete, sich auf der Intensivstation von ihrer sterbenden Mutter zu verabschieden. Sie ist dann nach Deutschland übersiedelt. Als sie 13 Jahre alt war – ganz typisch, mitten in der Identitätsfindung –, hat sie mir plötzlich geschrieben: „Kennst mich noch? Ich komme nach Wien und will noch einmal mit dir auf die Intensivstation gehen.“ Das hat mir gezeigt, wie viel Vertrauen sie nach all den Jahren noch zu mir hatte. Ich habe dann alles arrangiert und wir waren gemeinsam auf dieser Intensivstation, auf der ihre Mutter gestorben war. Es war sogar noch eine Krankenschwester dort, die sich an die tragische Geschichte erinnern konnte. Wir saßen dann über eine Stunde dort und sind alles noch einmal durchgegangen.
Zur Person
Gertrude Bogyi, 1951 in Wien geboren, war Psychologin an der Universitätsklinik für Neuropsychiatrie für das Kindes- und Jugendalter in Wien und Pionierin der Arbeit mit Kindern, deren Eltern im Sterben liegen. Daneben baute sie den Verein „Boje“ auf, eine niederschwellige Beratungsstelle für Kinder und Jugendliche, die in ihrem Umfeld Gewalt, Missbrauch, Tod oder Suizid erlebt haben.
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