„Begegnung mit der EU und Einblicke in die Stadt“ verspricht die Weltanschauen-Reise „Vielfältiges Brüssel“. Ob sich die gesamte Europäische Union tatsächlich an einer Stadt festmachen lässt und welche Überraschungen die belgische Metropole sonst noch bereithält, erläutert Christoph Unterkofler in seinen Reisenotizen.
Diese Stadt kann auch Klischee
Wir sind noch gar nicht einmal richtig aus dem Nachtzug ausgestiegen, werden wir bereits mit dem Geruch frischer Waffeln eingehüllt. Vielmehr riecht die gesamte Bahnhofshalle wie eine riesige Bäckerei, die nur auf Kundschaft wartet. Und zugegeben: Nach 14-stündiger Zugfahrt (inklusive 80-minütiger Verspätung) ist eine frischgebackene Waffel nicht nur etwas für den Leib, sondern auch für die Seele. Obwohl – und das ist wichtig: Die Fahrt mit dem Nachtzug gestaltete sich viel angenehmer als gedacht. Das sanfte Schaukeln des Zuges ließ mich bestens schlafen, und dass einem das Frühstück ans Bett serviert wird (wie gerade vorhin im Zug), ist ja auch nicht alltäglich.
Nach kurzer Pause im Hotel treffen wir uns bereits mit unserem Brüsseler Guide Raf. Und pünktlich zum Start der Tour begrüßt uns ein Regenschauer, um nur Minuten später bereits wieder von strahlendem Sonnenschein abgelöst zu werden. So überraschend das Wetter an diesem Tag ist, so überraschend sind gewöhnlich auch die Reisen von Weltanschauen. Denn vor allem ist man abseits der touristischen Pfade unterwegs, um jenen Einblick in die Städte und Dörfer dieser Erde zu bekommen, der den Begriff Einblick auch verdient. Zum Auftakt in der belgischen Metropole ist es aber fast unabdingbar, auch die bekannten Plätze, Straßen und Gassen zu beschreiten. Das historische Zentrum weiß zu beeindrucken, die klassischen Attraktionen der Altstadt wie der sehenswerte Grande Place, die königlichen Passagen und die Börse suchen ihresgleichen.
Und Guide Raf weiß mit unterhaltsamen Anekdoten und allerlei Wissenswertem aufzuwarten. Dass König Philippe einer jener Männer sei, der erst nach seiner Hochzeit wirklich aufgeblüht ist, berichtet Raf mit einem breiten Grinsen: „Jetzt macht er das aber gut.“ Dass das einstige Palais Coudenberg abgebrannt sei, weil Marmelade zubereitet wurde, entlockt dem sympathischen Stadtführer ebenfalls ein Lächeln: „Welche Marmelade das war, weiß ich nicht. Vielleicht eine mit chemischen Ingredienzen.“ Und amüsiert zeigt sich Raf auch aufgrund der Frage nach der Sprache, die denn nun in Brüssel gesprochen wird: „Es gibt Niederländischsprachige, es gibt Französischsprachige und es gibt die, die wissen gar nicht, was sie reden – aber es funktioniert …“
Funktionieren tut auch das Marketing der Stadt: Waffeln, Bier und Schokolade sind bei einem Rundgang durchs Zentrum allgegenwärtig. Dass Lütticher Waffeln nur an TouristInnen und Kinder verkauft werden, berichtet der Guide. Und dass er auf jeden Fall ein Trappistenbier empfehlen würde – also eines, das in einem Trappistenkloster hergestellt wurde. 700.000 Tonnen Schokolade produziere Belgien im Jahr, erklärt Raf fast nebenbei mit einem Blick in eine Auslage voller Schokolade. Und das habe historische Gründe. Denn während die NiederländerInnen nicht wussten, was sie mit dem Kakao der spanischen Handelsschiffe anfangen sollten, habe man dies in Belgien eben sehr wohl erkannt. Ob heute „Fair Trade“ eine Rolle bei der Schokoladenproduktion spielt? „Nur bedingt“, behauptet Raf, „den Touristen ist es wichtig, belgische Schokolade zu kaufen – der Rest ist zweitrangig.“
Ein Restaurant mit Charme und Chansons mit Herz
Das Abendprogramm bietet dann einen ersten Eindruck, wie Brüssel eben auch abseits der Touristenströme „tickt“. Sarah heißt die junge Unternehmerin, die uns in ihrem kleinen Restaurant „Entre Nous“ empfängt. Regionalität und Nachhaltigkeit sind Grundsätze, die in ihrem Lokal tatsächlich gelebt werden. Dazu sollte man erwähnen, dass es sich um jene Art von Lokal handelt, wo kein Sessel zum anderen passt und wo der Beton der Wände noch immer nicht verputzt ist. Nur ist man nicht sicher, ob dies hier gewollt „hip“ gemacht ist oder ob dies gänzlich nachrangig ist, weil eben das Konzept im Vordergrund steht.
„Wir wollen es anders machen als die anderen“, sagt die gebürtige Italienerin, „indem wir die Produkte nicht importieren, sondern diese vielmehr von lokalen Produzenten beziehen.“ Pasta, Brot und Co werden deshalb selbstgemacht, das benötigte Mehl und sonstige Zutaten stammen aus dem Umkreis. „Take-away“ gibt’s ausschließlich im Glas (mit Pfandeinsatz), der Zero-Waste-Ansatz zieht sich durch. Eingelegter Kürbis, Spinatlasagne, gebratenes Gemüse und Lammfleisch-Eintopf werden mit einem Lächeln kredenzt – auch wenn Sarah zugeben muss, dass die derzeit in die Höhe schnellenden Preise der Rohstoffe auch für sie ein Problem darstellen.
Von Problemen handeln zum Teil auch die belgischen Chansons, die Raf auf seinem Akkordeon zum Besten gibt: von Liebe und Hass, von Fischern, die ihrer harten Arbeit nachgehen oder auch von der verzweifelten Suche nach der perfekten Partnerin, die immer nur Illusion bleibt – und so keine andere Wahl lässt, als weiterzusuchen. Ja, diese Stadt kann also sehr wohl auch Klischees, selbst bei den Chansons.