Meine Hände schwitzten und meine Beine zitterten. Ich hatte immer gedacht, ich würde meinem Mann vertrauen – und dann das. „Trau dich“, schrie er. Ich krallte mich am Felsen fest und schaute nach unten. Ich wusste, wenn mein Mann das Seil auslässt, stürze ich 100 Meter tief ab. Allerdings wusste ich auch, dass ich keine wirkliche Alternative hatte, wieder runterzukommen, als mich ins Seil fallen zu lassen. Irgendwann lockerte ich den Griff, ließ den Felsen los und mein Mann seilte mich behutsam ab. Ich bekam damals nicht nur eine Lektion in Sachen Alpinklettern, sondern auch in Sachen Zutrauen.
Vertrauensentscheidungen laufen nicht immer so bewusst ab. Wir verlassen uns ständig und oft ohne Nachdenken auf Dinge und Menschen. Wenn wir mit dem Auto fahren, Essen kaufen oder mit dem Partner/der Partnerin ein persönliches Gespräch führen. Wir vertrauen in uns selbst, in andere, in gesellschaftliche Institutionen und Prozesse und vielleicht auch in eine höhere Führung.
Vertrauen sei ein „Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität“, definiert es der Soziologe Niklas Luhmann. Vertrauen macht das Leben also irgendwie einfacher. Wer in der heutigen Zeit ausschließlich auf Kontrolle und eigenes Wissen setzen würde, müsste einen unglaublichen Aufwand betreiben und käme dennoch oft an Grenzen. Denn kein Mensch verfügt über genügend Informationen, um exakt abschätzen zu können, ob eine Handlung die gewünschten Folgen hat oder ob ein anderer Mensch genau das tut, was man von ihm erwartet. Kurzum: Ohne Vertrauen geht es nicht. Es gäbe keine Beziehungen zwischen Partnern, Eltern und Kindern, keine Freundschaften und auch keine Beziehungen in der Arbeits- und Konsumwelt.
VERTRAUEN UND RISIKO
„Vertrauen ermöglicht Interaktionen zwischen Menschen, die sich schlecht oder gar nicht kennen“, beschreibt es der Historiker Jakob Tanner, der an der Universität Zürich das interdisziplinäre Forschungsprojekt „Vertrauen verstehen“ geleitet hat, bestehend
aus HirnforscherInnen, ÖkonomInnen und GeisteswissenschaftlerInnen. Die Kehrseite der Medaille ist jedoch, dass Vertrauen ein großes Risiko birgt, nämlich hintergangen, betrogen oder ausgenutzt zu werden. Vertrauen sei eine riskante Vorleistung, so Tanner.
Wer weiß, ob der Kfz-Mechaniker die Schrauben beim Reifenwechsel ordentlich angezogen hat? Ob der Fisch wirklich frisch ist? Auch der Treue des Partners und der Partnerin kann man sich nie hundertprozentig sicher sein. Deshalb sollte man auch nicht „blind“ vertrauen, sondern sehr wohl achtsam sein und manchmal auch misstrauisch. Vertrauen und Kontrolle stehen damit nicht unbedingt im Gegensatz zueinander, sondern können sich ergänzen.
WIE VERTRAUEN ENTSTEHT
Die Fähigkeit, vertrauen zu können, hat vermutlich eine biologische Grundlage. Das Hormon Oxytocin dürfte eine zentrale Rolle beim Aufbau von Vertrauen zu anderen Menschen spielen. Es entsteht in der Hirnanhangdrüse unter anderem beim Stillen, bei Berührung und Zärtlichkeit. Wenn man es ProbandInnen in die Nase sprüht, gehen diese in spieltheoretischen Experimenten größere Risiken ein und vertrauen also ihrem Gegenüber eher.
Das Grundvertrauen bildet sich in der frühen Kindheit. Haben wir ursprünglich eine sichere Bindung erfahren, so ist das die Basis für Vertrauen. Je mehr unsere Bezugspersonen auf uns eingestimmt waren, uns zu neuem Verhalten ermutigt und uns gelobt haben, desto größer wurde unser Vermögen, auf uns selbst und die Welt um uns herum zu bauen. Selbstvertrauen und Vertrauen in andere hängen damit unmittelbar zusammen. „Wenn ich meiner selbst wenig sicher bin, übertrage ich die eigene Unsicherheit auf andere Personen“, erklärt die Diplompsychologin Friederike von Tiedemann. „Dann brauche ich jemanden, der an mich glaubt, das schafft ein hohes Maß an Abhängigkeit.“ Die beste Voraussetzung für eine glückliche Beziehung sei, bei sich selbst zu Hause zu sein, nach dem Motto „Ich liebe dich nicht, weil ich dich brauche, sondern ich komme mit mir gut zurecht, finde mein Leben schön, mit dir ist es aber schöner“.
Menschen, denen das Grundvertrauen fehlt, weil sie weniger sensible Betreuungspersonen hatten, verfügen oft über eine schlechtere Bindungsfähigkeit oder sie suchen sich superverlässliche PartnerInnen, so von Tiedeman. Durch zuverlässige PartnerInnen könne es heilende Neuerfahrungen geben, Wunden aus der Kindheit können heilen. Vertrauen ist nämlich nichts Unabänderliches, sondern es entwickelt sich ständig durch Erfahrungen.
einen Vertrauensbruch Verarbeiten
Vertrauensbrüche hat jede und jeder schon erlebt. Je näher man sich steht, desto schmerzhafter ist die Erfahrung. Um das Vertrauen wieder aufzubauen, brauche es von beiden Seiten den Willen dazu, sagt von Tiedemann. Erstens müsse die Person, die verletzt wurde, einen Vertrauensvorschuss gewähren, der anderen Person also noch einmal eine Chance geben. Diese wiederum müsse wiederholt Verlässlichkeit zeigen und sich an die Absprachen halten, worauf die andere Person Rückmeldungen geben könne, zum Beispiel: „Danke, dass du angerufen hast, jetzt weiß ich, dass du später kommst.“ Auf jeden Fall brauche es Zeit, um das Vertrauen wiederherzustellen. Und es gelinge auch nicht in jedem Fall.
nicht alle wunden sind heilbar
Für manche Menschen wird nicht nur das Vertrauen in andere, sondern ins ganze Leben zerstört. Barbara Preitler ist Psychotherapeutin beim Verein „Hemayat“ und betreut Folter- und Kriegsüberlebende. Wie können Menschen nach einer so schweren Traumatisierung wieder Vertrauen finden?
Das sei individuell ganz verschieden, weiß Preitler. Die Traumatisierung könne sich sowohl in psychosomatischen Beschwerden äußern, sehr häufig sei auch die posttraumatische Belastungsstörung, bei der man sich an das Erlebte ständig wieder erinnert, es kommt zu einer dissoziativen Störung. Zum Beispiel: Eine Frau hat panische Angst um ihr Kind. Eigentlich gilt die Angst jedoch ihrem verstorbenen Kind, das ermordet wurde. „Wenn man nicht einmal weiß, woher die Angst kommt, ist sie noch schwieriger auszuhalten und zu bewältigen“, sagt die Therapeutin.
In der Therapie sei es wichtig, einen sicheren Ort und eine sichere Beziehung zu etablieren. So kann eine Form der Kommunikation für das gefunden werden, was jenseits des Erklärbaren ist. Das kann auch über den Sport gehen, um so den eigenen Körper wieder als kraftvoll zu erleben und seine Grenzen zu spüren, oder über Maltherapie. Wichtig sei auch, das traumatische Ereignis dort zu verorten, wo es war, in der Vergangenheit, sodass es nicht mehr das ganze Leben bestimme. „Schwere Traumata schlagen Wunden, die nie ganz heilen.“ Aber man könne lernen, mit so schweren Verletzungen wieder Vertrauen ins Leben zu finden.
Vielleicht gelingt das auch oder gerade deshalb, weil sich Vertrauen allgemeingültigen Regeln und der Vernunft entzieht. Vertrauen oder Misstrauen sind immer auch teilweise emotional bestimmte Zustände. Oder wie es Khalil Gibran formuliert hat: Vertrauen ist eine Oase im Herzen, die von der Karawane des Denkens nie erreicht wird.
Bei aller emotionalen Unerklärbarkeit lässt sich aber schon auch ganz rational sagen: Wer vertrauensvoll handelt, kann zwar immer noch scheitern, aber wer misstrauisch handelt, kann die Möglichkeit des Gelingens von vornherein blockieren.
Hätte ich damals beim Klettern nicht vertraut und mich getraut, wäre ich vieler schöner darauf folgender Bergerlebnisse beraubt worden und der Erkenntnis: Es lohnt sich, zu vertrauen, aber es ist gut, auch die Ausrüstung vorher zu kontrollieren.
Wem vertrauen Sie?
Martin Schweer ist Professor für pädagogische Psychologie und Leiter des Zentrums für Vertrauensforschung (ZfV) an der Universität Vechta.Immer wieder ist von einer „Vertrauenskrise“ die Rede. Schwindet das Vertrauen?
Prof. Schweer: Es schwindet immer wieder kurzfristig aufgrund von aktuellen negativen Erfahrungen. Prinzipiell müssen wir aber in unserer heutigen Gesellschaft mehr statt weniger vertrauen. Unser Leben wird immer weniger durchschaubar, und wir müssen uns auf Experten verlassen, die uns sagen, wie wir uns bestimmten Dingen gegenüber zu verhalten haben, das betrifft Fragen der Technisierung, des Gesundheitswesens usw.
Insofern glaube ich, dass die Bedeutung des Vertrauens zunimmt. Gleichzeitig führt diese Vielzahl von Veränderungen zu Unsicherheiten und Ängsten. Es ist eine paradoxe Situation: Auf der einen Seite benötigen wir mehr Vertrauen und auf der anderen Seite ist das Vertrauen zerbrechlicher, weil wir ein höheres Maß an Unsicherheit erleben.
Was heißt Vertrauen für Sie?
Für mich heißt Vertrauen, dass wir uns in die Hand von Personen oder Institutionen begeben und uns auf diese Weise Sicherheit verschaffen. Ein klassisches Beispiel ist der Arzt. Ich muss ihm vertrauen, dass er erstens die richtige Diagnose stellt und zweitens eine vernünftige Therapie einleitet. Wir begeben uns damit in die Hand dieser Person, das ist immer ein Risiko, aber es gibt keine andere
Alternative, außer vielleicht den Arzt zu wechseln.
Sie sind auch Unternehmensberater. Wird Vertrauen als Wettbewerbsfaktor in der Wirtschaft immer wichtiger?
Absolut. Vertrauen ist eine wichtige Ressource bei der Zusammenarbeit mit anderen Unternehmen, bei der Beziehung zu Kunden und auch in der Außendarstellung. Diese Ressource rechnet sich durchaus auch in Euro. In einer Vertrauenskultur sind Mitarbeiter zufriedener, leistungsbereiter
und engagierter, die Kommunikation funktioniert besser, Konflikte lassen sich zielführender lösen.
Wie lässt sich eine Vertrauenskultur in Unternehmen fördern?
Offene Kommunikation, Partizipation und Transparenz sind ganz wichtige Faktoren der Vertrauensförderung.
Es gehört dazu, ab und an einmal auf die Nase zu fallen und enttäuscht zu werden.
Wem vertrauen Sie?
Ich vertraue einigen wenigen Menschen in meinem privaten Umfeld, würde mich aber auch ganz klar zu denjenigen zählen, die immer wieder aufs Neue versuchen, das Wagnis des Vertrauens einzugehen. Mit einer grundsätzlich sehr kritischen Haltung gegenüber unseren Mitmenschen entgehen uns nämlich viele positive Erfahrungen. Es gehört dazu, ab und an einmal auf die Nase zu fallen und enttäuscht zu werden.
Fakten zum Vertrauen
1. Männer und Frauen vertrauen anders – zumindest beim Onlineshopping. Das ergab eine Studie der Universitäten Linz und Friedrichshafen unter der Leitung von Prof. René Riedl. Mittels Magnetresonanztomografie wurden Unterschiede in Gehirnaktivierungen bei Männern und Frauen gemessen. Das Resultat: Frauen hatten größtenteils andere Gehirnregionen aktiviert, sie prüften mehr als Männer.
2. In Ländern mit höherem Wohlstand ist das Vertrauen höher. Mehr Vertrauen führt zu mehr ökonomischen Transaktionen.
3. Religiösen Menschen wird mehr Vertrauen entgegengebracht. Besonders viel Vertrauen
wird religiösen Menschen von ebenfalls Religiösen entgegengebracht.
4. Misstrauen sind immer auch teilweise emotional bestimmte Zustände. Oder wie es Khalil Gibran formuliert hat: Vertrauen ist eine Oase im Herzen, die von der Karawane des Denkens nie erreicht
wird.
5. Bei aller emotionalen Unerklärbarkeit lässt sich aber schon auch ganz rational sagen: Wer vertrauensvoll handelt, kann zwar immer noch scheitern, aber wer misstrauisch handelt, kann die Möglichkeit des Gelingens von vornherein blockieren.
Buchtipps
Verena Bentele: Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser. Kailash Verlag, 8,99 Euro
Die Autorin sagt: „Vertrauen macht uns mutig, Vertrauen hilft uns ohne Vorbehalte einem anderen Menschen zu begegnen und Vertrauen ermöglicht uns das Überwinden von Grenzen. Vertrauen heißt aber auch, dass ich mir selbst etwas zutraue und Verantwortung übernehme.“
Zum Interview
Monika Nemetschek: Schattenseiten des Lebens – und wo bleibt Gott? Tyrolia Verlag, 14,90 Euro
Erschienen in der „Welt der Frau“ Ausgabe 10/2014, aktualisiert 01/ 2021.
Wird das Seil halten, wird der Partner treu sein, gibt die Ärztin den richtigen Rat? Ohne Vertrauen wäre menschliches Miteinander nicht möglich. Einerseits. Andererseits birgt Zutrauen immer die Gefahr, ausgenützt oder verletzt zu werden. Doch das Risiko lohnt sich.