Weg mit den Verboten

Weg mit den Verboten
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  • Veröffentlicht: 26.03.2014
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Gesundheit geht vor Genuss, Daten werden gespeichert, Sicherheitsvorschriften verschärft: Unser Leben scheint immer mehr von Verboten und Kontrollen durchzogen. Sind wir auf dem Weg in eine moderne Verbotsgesellschaft oder entstehen auch neue Freiheiten?

Begonnen hat es in den 1990er-Jahren. Damals tauchten die ersten Geschichten aus den USA auf, die etwa davon erzählten, dass eine Frau erfolgreich eine Fast-Food-Kette verklagte, weil sie sich an deren Kaffee den Mund verbrüht hatte – eine Gefahr, vor der sie, so argumentierte die Klägerin, vonseiten des Unternehmens mit keinem Wort gewarnt worden sei. Es mag ein extremes und besonders absurdes Beispiel sein, aber die Tatsache, dass eine solche Klage überhaupt jemals möglich wurde, ließ schon erahnen, dass da etwas im Gang war.

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In vielen Bereichen des Lebens haben sich in den letzten 20 Jahren immer mehr Regeln und Verbote festgesetzt.

„Der Ruf nach Regulierung ist lauter als die warnenden Stimmen, dass mehr Eigenverantwortung wichtig wäre“, sagt der Sozialwissenschaftler Peter Zellmann. Im Zuge dieser Entwicklung sei „eine Verbots- und Regulierungswut über uns hereingebrochen. Kein Bereich ist nicht von immer mehr Vorschriften betroffen.“ Am Ursprung dieser Entwicklung stehen, da sind sich alle ExpertInnen einig, die Globalisierung und mit ihr der Umstand, dass die äußere Welt in einem verunsichernden Ausmaß unübersichtlich geworden ist. Diese große Verunsicherung ist ein Grund für den Ruf nach mehr Kontrolle und nach mehr Verboten.

Ob Kindergarten oder Schule, Straßenverkehr oder Ernährung, Pensionssysteme oder Freizeitgestaltung – in den letzten zehn bis 20 Jahren sind so gut wie alle Bereiche des Lebens von einem Mehr an Regeln, Verboten und Kontrollmechanismen durchtränkt worden. Plötzlich ist das Radfahren ohne Sturzhelm zu gefährlich, das Rauchen in Lokalen und öffentlichen Gebäuden verboten.

Schule und Universität sind weniger vom freien geistigen Austausch als vom Ausfüllen verpflichtender Dokumentations- und Evaluationsformulare bestimmt. Der Straßenverkehr gleicht einem Schilderwald. Lebensmittelkontrollen werden immer strenger, sogar der freie Austausch von Saatgut soll, wenn es nach der EU geht, demnächst einem strengen Reglement unterworfen sein. Von einem „Nanny-Staat“ sprach kürzlich das deutsche Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“, der seine BürgerInnen „mit strengen Vorschriften oder sanftem Druck zu richtigem Verhalten“ anleite.

ÜBERWACHUNG VON AUßEN
Immer weiter dringt der Staat mit seinen Kontrollmechanismen in das Leben der und des Einzelnen vor, und die technischen Möglichkeiten dazu werden immer ausgefeilter. Ein paar Stichworte dazu lauten: „Vorratsdatenspeicherung“ und „Elektronische Gesundheitsakte“. Auch mit den geplanten neuen elektronischen Stromzählern, den sogenannten „Smart Meters“, werde es möglich sein, „die Nutzung einer Wohnung permanent zu überwachen“, sagt Hans Zeger von der „Arbeitsgemeinschaft Daten“.

Mit großer Skepsis verfolgt der Datenschützer das, was uns da allen ins Haus steht oder bereits betrifft, gerade auch in Hinsicht auf die Vorratsdatenspeicherung: „Wer mit wem wann telefoniert, wird ohne Verdacht und unterschiedslos, ob es ein privater Bürger oder ein KLEIN_15_montage Kopieinternationaler Terrorist ist, gespeichert.“ Sicherheitspolitik und Terrorbekämpfung hielten als Generallegitimation für die immer weitere Einschränkung von Grund- und Freiheitsrechten her.

In welcher Form von Selbstzensur sich das im privaten Umfeld auswirken kann, beschreibt die 29-jährige Wiener Musikerin, Komponistin und Produzentin Anna Schauberger (siehe auch Kasten Seite 16). Sie habe früher im Kontakt mit einem engen amerikanischen Freund oft die Formulierung “You are the bomb” – im Sinne von „Du bist der Hammer!“ – verwendet. Heute unterlässt sie es: „Wir haben uns diesen Satz seit vielen Jahren nicht mehr geschrieben, obgleich sich an unserer Freundschaft nichts geändert hat. Manchmal würde ich gerne vor Begeisterung ausrufen: ‚Du bist die Bombe!‘ Stattdessen denke ich es mir nur, und denke im selben Atemzug an eine Explosion, an Überwachung und Vorratsdatenspeicherung.“

Der bekannte deutsche Blogger und Buchautor Sascha Lobo sieht in der – vor allem auch digitalen – Kontrollgesellschaft die Gefahr einer „demokratieaushöhlenden Ungewissheit“: „Angenommen, man müsste in zwei Monaten beruflich in die USA fliegen. Schreibt man dann auf Facebook unverfälscht seine Meinung über Obamas Drohnenangriffe? Verfasst man die Mail mit der Empörung über die NSA noch im gleichen Ton? Oder schreckt man zurück, seine Meinung zu äußern, um die Reise nicht zu gefährden?“

DER ZENSOR SITZT INNEN
Für den Philosophen Robert Pfaller steckt hinter der Selbstbeschneidung und dem Ruf nach immer mehr Verboten eine Neidgesellschaft, die langsam verlernt, gut zu leben und zu genießen. In einem Gespräch mit der deutschen Wochenzeitung „Die Zeit“ sagte Pfaller: „Die derzeitigen Vorschläge zur Verbesserung von Sicherheit, Gesundheit, Nachhaltigkeit und so weiter werden nicht in einer diskutierbaren, abwägenden Weise eingebracht, sondern als ständig neue Paniken, die sofort nach Verboten verlangen.“

Die Wiener Pastoraltheologin Regina Polak will in diesem Zusammenhang weniger von einer Verbots- als von einer Kontrollgesellschaft sprechen. Eines ihrer signifikantesten Merkmale sei es, so Polak, dass die „Kontrollinstanzen sowohl in den Strukturen unserer Gesellschaft KLEIN_16_montage Kopiestecken als auch direkt vom Individuum internalisiert sind“. Wir erzeugen unsere Unfreiheit mitunter selbst, ohne uns dessen bewusst zu sein. „Kein Polizist, sondern der innere Zensor ruft ‚Halt!‘, wenn die Hand im Kaufhausregal zur ethisch unreinen Baumwolle greift“, formuliert das überspitzt der Journalist Matthias Dusini in einem Artikel zum Thema Verbotsgesellschaft in der „Neuen Zürcher Zeitung“.

Pastoraltheologin Polak kennt einen Grund für dieses Verhalten: Früher hätte einem die Zugehörigkeit zu einer klar abgesteckten Gruppe viel Last abgenommen. In einer globalisierten Welt gebe es diese klaren Gruppen und Zugehörigkeiten nicht mehr. Also wanderten Verbotsmechanismen ins Innere der Menschen. „Ständige ängstliche Selbstbeobachtung und -kontrolle beherrschen viele Menschen vom Aufwachen bis zum Einschlafen“, sagt die britische Psychotherapeutin und Feministin Susie Orbach. Sie machten auch auf der Ebene unserer Körper einen tiefen Kontroll- und Verbotswahn aus. „Heute zeigen ‚richtige‘ Ernährung und die ‚richtige‘ Figur die Zugehörigkeit zur Moderne an; ‚nicht richtige‘ Ernährung und eine ‚nicht richtige‘ Figur hingegen stehen für ein beschämendes Versagen oder für die Ablehnung der Werte, an denen wir uns zu orientieren haben“, so Orbach.

ANDERE FREIHEITEN
Unfreiheit allerorten also? Nicht ganz. Es gibt eine ganze Reihe von Bereichen, in denen die und der Einzelne durchaus einen deutlichen Zugewinn feststellen. „Subjektiv kann man mehr Freiheit empfinden“, sagt der Sozialforscher Peter Zellmann. Auch Regina Polak sieht deutlich „ungleichzeitige Entwicklungen“, die sehr widersprüchlich sein können: also einerseits eine klare Zuspitzung der Kontrollgesellschaft, umgekehrt aber auch Bereiche, in denen eine Lockerung der Regeln stattfindet – dazu gehören Konsum, Sexualität und Religion. Das hat auch die Online-Umfrage „Wo drückt der Schuh?“ der „Katholischen Aktion“ gezeigt, deren Ergebnisse Anfang des Jahres präsentiert wurden.

Die katholischen Gläubigen nehmen gegenüber früher ein ganz klares Mehr an Freiheiten für sich Anspruch, als es kirchliche Ver- und Gebote eigentlich erlauben würden. 75 Prozent der Befragten finden es etwa richtig, dass junge Menschen schon vor der Heirat zusammenleben, 88 Prozent wenden sich gegen den Ausschluss geschiedener Wiederverheirateter von Kommunion und Beichte, und 93 Prozent zeigen sich überzeugt, dass sich auch gläubige Katholikinnen nicht an das kirchliche Pillenverbot halten.