Warum sich Rollenklischees so hartnäckig halten und wie wir gegensteuern können.
Herr Verlan, Sie sagen, der Gender-Pay-Gap – also die ungleiche Bezahlung von Männern und Frauen – und Alltagssexismus beginnen schon im Kinderzimmer und im Kindergarten. Wie meinen Sie das?
Sascha Verlan: Studien zeigen, dass Jungen im Durchschnitt mehr Taschengeld und teurere Geschenke bekommen als Mädchen. Dafür sind Mädchen von Anfang an mehr in die Familien- und Hausarbeit eingebunden. Der Alltagssexismus beginnt tatsächlich schon im Kindergarten: „Du Mädchen!“ wird als Schimpfwort eingesetzt, und mit Äußerungen wie „So sind Jungs halt“ reagieren Erwachsene sehr nachsichtig auf erste Übergriffe. Später versucht man, das mit „Girls’ und Boys’ Days“ wieder auszugleichen. Mein Wunsch wäre, schon viel früher anzusetzen, dann muss man nachher nicht mehr so viel auffangen.
Valerie Wohlfarter: Das kann ich nur bestätigen! Ein Bub hat einmal einer meiner Töchter im Kindergarten einen Stock aus der Hand gerissen. Meine Tochter hat sich dabei ein bisschen verletzt, und es war ja auch ihr Stock. Von der Mutter des Buben kam nur ein entschuldigendes „Na ja, Jungs sind halt so“.
Julia Langeneder,
Familienredakteurin, lädt jeden Monat zum Familienrat ein.
Was wünschen Sie sich von PädagogInnen im Umgang mit Genderklischees?
Verlan: In Deutschland (Anm.: und auch in Österreich) ist die geschlechtersensible Pädagogik im Lehrplan verankert. Ich wünsche mir, dass PädagogInnen durch eine entsprechende Ausbildung in die Lage versetzt werden, dass sie das auch umsetzen können.
Wohlfarter: Es gibt einzelne Kindergärten und PädagogInnen, denen das Thema sehr am Herzen liegt, aber das ist nicht überall so. Im Kindergarten meiner Tochter haben die PädagogInnen versucht, die Geschlechterrollen aufzuweichen, indem zum Beispiel beim Martinsspiel ein Mädchen der heilige Martin war.
Warum halten sich die Geschlechterrollen immer noch so hartnäckig?
Verlan: Wir denken, wir hätten das Thema abgehakt. Aber in jeder Generation reproduzieren sich Rollenstereotype aufs Neue. Dazu kommen mediale Entwicklungen in den vergangenen 15 Jahren. Seit 2006 gibt es im deutschsprachigen Raum das „Gendermarketing“, also die Ansprache von Mädchen und Burschen mit auf sie abgestimmten Produkten, und dabei werden Stereotype bedient. Wenn es um den Haushalt geht, sind in der Werbung Frauen abgebildet, wenn es um Fleisch oder Alkohol geht, sind es Männer. Dazu kommen die sozialen Medien, Smartphones, YouTube. Das alles hat Einfluss auf die Entwicklung von Kindern. Wenn wir uns neutral dazu verhalten, werden die Kinder das reproduzieren, was sie sehen. Wir müssen daher sehr viel aktiver geschlechtersensible Pädagogik umsetzen.
Wohlfarter: Ich möchte noch ergänzen, dass sich viele Eltern schwertun, ihren Kindern weibliche Dinge anzubieten. Es ist mittlerweile normal, wenn das Mädchen eine Hose anzieht, und es ist cool, wenn es Fußball spielt. Nur sehr wenige Eltern würden einem Buben einen Rock anbieten.
Verlan: Da zeigt sich die Hierarchie. Das Weibliche wird in der Gesellschaft abgewertet. Durch Fußball und Hosen begibt sich das Mädchen in die höhere Ordnung, und das ist okay. Wenn eine Frau in die Führungsetage eines Unternehmens will, ist das besser angesehen, als wenn ein 16-Jähriger sagt: „Ich werde Erzieher.“
Julias Gäste
Wie geht geschlechtersensible Erziehung nun konkret?
Verlan: Eltern sollten ganzheitlich auf das Kind schauen und es als Individuum wahrnehmen. Fußball ist bei Burschen meist ein Selbstläufer. Dann kann man schauen: Wie lassen sich die kreativen und sozialen Fähigkeiten stärken? Man sollte Jungs ermöglichen, dass sie in der Sorgearbeit positive Erfahrungen machen. Laut Glücksforschung sind Menschen am glücklichsten, wenn sie vielseitige Interessen und Beziehungen leben können.
Wohlfarter: Für mich ist der Austausch mit anderen Eltern sehr wichtig, um Gleichgesinnte zu finden. Ich achte auch sehr darauf, welche Medien meine Kinder konsumieren. Für meine älteste Tochter sind Pferde gerade das einzige Thema. Zu Weihnachten habe ich ihr ein Buch geschenkt, in dem es eine Hufschmiedin gibt – auch da kann man Gleichberechtigungsansätze einbringen. Ich bin mir bewusst, dass auch ich die Geschlechterrollen reproduziere, die ich mitbekommen habe. Aber ich suche mir aus: Wo investiere ich Energie und Zeit für Veränderung und was lasse ich so stehen?
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