Sie brachten Töchter und Söhne zur Welt und sozialisierten sie so, wie es gesellschaftlich definierte Geschlechterrollen vorschreiben – bis sich ihre Kinder als Transgender outeten. Drei Mütter über Verwandlungen, Identität, Trauer, Verlustängste und das Kind, das einem neu geschenkt wird.
Ich liebe und anerkenne Denny, wie sie/er ist
Ich habe vier Töchter. Bei jeder Schwangerschaft wünschte ich mir einen Sohn, auch deshalb, weil ich selbst immer ein Bub sein wollte. Vor einigen Monaten sagte mir dann meine Drittgeborene, Denise, die wir alle Denny nennen, dass sie als Mann weiterleben möchte. Geahnt habe ich das schon lange. Aus heutiger Sicht fing Dennys Transformation zu einem Jungen bereits als Kind an. Schon im Kindergarten lehnte sie Kleider und Röcke vehement ab. Puppen oder Glitzer? Nein, das war nicht ihres. Stattdessen spielte sie mit ihrem Baukasten draußen im Gatsch.
„Wie ein Bua“
Sie war hart im Nehmen, wie ein „verhunzter Bua“ eben. Die Kinder in der Schule hielten Denny tatsächlich für den Bruder meiner anderen Töchter. In der Pubertät trug sie zum Schwimmen keine femininen Bikinis, sondern Boxershorts mit Sport-BH. Doch stutzig wurde ich erst, als Denny auch mit 16 Jahren noch keine Anstalten machte, sich zu schminken, auszugehen oder mit Burschen zu flirten, sondern sich lieber zu Arbeitern auf Baustellen gesellte. Mit 17 hatte sie aber dann doch ihren ersten Freund. Diese Beziehung hielt zwei Jahre, dann lernte sie ein Mädel kennen. Ich spürte sofort, dass Denny verliebt war. Im Beisein dieses Mädchens verhielt sie sich noch mehr wie ein Mann. „Mir kommt vor, du stehst auf Frauen“, sagte ich eines Tages zu meiner Tochter und gab ihr zu verstehen, dass das völlig in Ordnung sei. Meine Unvoreingenommenheit und das Wissen, dass ich sie so oder so liebe und anerkenne, halfen ihr, ihre Wahrheit zu leben.
Trotzdem schien mir, dass Denny noch etwas beschäftigte. Vor fünf Jahren begann sie am Bau zu arbeiten und ihren Busen mit Brustbindern und Kompressionsshirts einzuengen. Jetzt war offensichtlich, dass sie sich in ihrem Körper nicht wohlfühlte. Als ich Denny von einer Bekannten erzählte, die Transgender ist, und anbot, ein Treffen zu arrangieren, wollte sie davon nichts hören. Ich spürte: Mein Kind braucht Zeit. Schließlich bat Denny mich aber doch um ein Gespräch mit der Transgender-Frau. Dieser Austausch war sehr erleichternd für meine Tochter. Sie beschloss, ein Mann zu werden, auch wenn der Weg dahin schmerzvoll und kompliziert sein würde.
Es braucht viel Mut
Inzwischen hat Denny Beratungsgespräche an der Transgenderambulanz in Graz und die verpflichtende Psychotherapie absolviert. Ein Gutachten belegt, dass tatsächlich eine Geschlechtsdysphorie und ein Transgender-Empfinden vorliegen. Vor Kurzem bekam Denny ihre zweite Hormonspritze. Ihre Stimme klingt seither tiefer, der Bartwuchs setzt ein, ihr Wesen verändert sich noch weiter. Fällt ein zweites Gutachten auch positiv aus, kann die Freigabe für die geschlechtsangleichenden OPs erfolgen.
Um eine männliche Brust zu bekommen, wird sich Denny einer Mastektomie unterziehen. Dabei werden die weiblichen Brustdrüsen und das Brustgewebe entfernt. Für den Aufbau eines künstlichen Penis braucht es sieben oder mehr Eingriffe. Diese Strapazen sind ihr bewusst, trotzdem nimmt sie sie in Kauf. Sie möchte endlich auf die Herrentoilette gehen können, ohne schief angeschaut zu werden. Und sie möchte endlich ihren Namen amtlich auf „Dennis“ umändern. Ich bewundere Denny für ihren Mut und ihre Zielstrebigkeit. Unsere Familie, ihre FreundInnen und ArbeitskollegInnen unterstützen sie, wo es nur geht. Wir wünschen uns alle, dass sie sich wohlfühlt in ihrer Haut.
Ist er die Tochter, die ich mir so sehr wünschte?
Mein Sohn, mein einziger und Erstgeborener, heißt Roland. Er ist mein Heiligtum, und das wird er bleiben, auch wenn er sich einen Frauennamen zugelegt hat. Dass ich so an ihm hänge, liegt an meiner Verlustangst: Bei meiner Scheidung, Roland war damals drei Jahre alt, wollte mein Ex-Mann ihn mir wegnehmen. Zum Glück wurde Roland mir zugesprochen. Doch dieses Trauma sitzt tief. Ob an Rolands Kindheit etwa auffällig war? Nur, dass er sich im Fasching stets als Mädchen verkleidete. Er war so glücklich in dieser Rolle! Als er 13 war, schickte ich ihn zu einem Sprachkurs nach London. Während seiner Abwesenheit räumte ich sein Zimmer auf und fand unter seiner Matratze Unterwäsche von mir.
Pubertäre Experimente?
Ich war schockiert, doch an welche Freundin ich mich auch wandte, immerzu wurde ich belächelt. Solche „pubertären Auswüchse“ seien ganz normal. Roland sei „bestimmt nur in einer Experimentierphase“, meinten alle. Daraufhin legten sich meine Sorgen. Ich beschloss, ihn nicht darauf anzusprechen, wollte nicht in seine Intimsphäre eingreifen. Die Jahre verstrichen. Roland wuchs zu einem ansehnlichen Jüngling heran. Er war so fesch, dass sich Homosexuelle seinerzeit in der Disco den Hals nach ihm verdrehten.
Als er mit Mitte 20 das erste Mal Vater wurde, war ich erleichtert. Diese Beziehung scheiterte, aber bald stellte mir Roland die nächste Freundin vor. Sechs Jahre waren die beiden ein Paar. Eines Abends, als Rolands Freundin von der Arbeit kam, fand sie ihn in Frauenkleidern vor, in voller Montur. Sie forderte von ihm, dass er sich therapieren lässt, doch er lehnte ab. Daraufhin machte sie Schluss und erzählte meiner Tochter von Rolands Doppelleben. So erfuhr auch ich davon. Doch noch bevor ich meinen Sohn darauf ansprechen konnte, lernte er schon seine nächste Frau kennen, die Mutter seiner jüngeren drei Kinder. Als er heiratete, fiel mir ein Stein vom Herzen. Ich wusste offiziell ja von nichts. Wobei: Ruhe hatte ich trotz Verdrängen keine. Alles fühlte sich so ambivalent an. 17 Jahre lang. Erst dann outete sich Roland.
Make-up und Stöckelschuhe
Der Auslöser war ein Autounfall, der ihn massiv in seiner Freiheit einschränkte. Plötzlich war er nicht mehr mobil, hatte keine Möglichkeit mehr, jene Bedürfnisse zu stillen, die er davor heimlich ausgelebt hatte. Seine Frauenklamotten, die Perücke und das Make-up hatte er im Auto versteckt gehabt und nach der Arbeit übergeworfen, um zumindest für ein paar Stunden Frau sein zu können, tanzen zu gehen und sich frei und lebendig zu fühlen. Hätte er das nicht getan, wäre er depressiv geworden, gestand er mir im Zuge seines Outings. Diese Wahrheit, die ich so gefürchtet hatte, fühlte sich auf einmal total erleichternd an! Endlich hatte ich Gewissheit, tappte nicht mehr im Dunkeln. Seine Worte berührten mich so sehr, dass ich beschloss, diesen schwierigen Weg der Geschlechtsumwandlung mit ihm zu gehen. Ich nahm ihn mit offenen Armen in meiner Wohnung auf, verwöhnte ihn, ging mit ihm shoppen und übte mit ihm, in Stöckelschuhen zu gehen.
Doch gleichzeitig machte ich mir selbst Vorwürfe: Als ich nämlich mit Roland schwanger war, war ich die ganze Zeit über davon überzeugt gewesen, eine Tochter zu erwarten. Als ich dann einen Knaben im Arm hielt, war ich überrascht, aber ich liebte ihn von der ersten Sekunde weg.
Diese Erinnerung erzeugte enorme Schuldgefühle in mir, noch dazu, wo ich mir einmal einen Spaß erlaubt hatte und Roland als Baby für ein Foto mit dem Nachbarsmädchen ein Kleidchen übergezogen hatte. Warum fällt es mir jetzt, wo mich das Leben überrascht und mir die Tochter schenken möchte, die ich damals wollte, so wahnsinnig schwer, diese anzunehmen? Der Mensch, den ich so liebe, ist doch noch immer derselbe! Warum begreife ich das nicht? Sind wir Menschen alle so darauf konditioniert, in Schubladen zu denken, dass wir ohne Zuordnungen orientierungslos sind, blind für das Wesentliche?
Geschlechtsumwandlung: der Körper ändert sich
Als Roland Brüste bekam und Perücken trug, konnte ich ihn nicht mehr anschauen, so fremd war er mir. Aber als er dann später ohne Kunsthaare vor mir stand, fiel ich ihm um den Hals und wollte ihn nie wieder loslassen. Dieser Schmerz, mich von meinem Sohn verabschieden zu müssen, war so heftig, dass ich Hilfe in einem Sanatorium suchte. Aber vielleicht muss ich gar nicht ihn loslassen, sondern nur meine Angst und meine Vorstellung von ihm. Inzwischen wohnt Roland alleine. Seine Haare trägt er jetzt schulterlang und rot gefärbt. Das gefällt mir. Auch sein Stil, sich zu schminken, hat etwas. Seinen neuen Namen bringe ich immer noch nicht über die Lippen. Seine Kinder, die ihn vollends akzeptieren, dürfen ihn ja auch weiterhin „Papa“ nennen. Warum soll ich dann meinen geliebten Sohn aufgeben? Er wird immer mein „Bua“ bleiben.
Jessica Pichler wuchs als Roland auf und führte lange Jahre ein Doppelleben. Das Outing, lieber als Frau leben zu wollen, kam als Erwachsene – nach mehreren Beziehungen mit Frauen.
Die Klarheit machte es leichter für alle
Hört Christoph seinen Geburtsnamen „Alina“, beutelt es ihn. Seit seiner Namensänderung 2017 kann er sich damit nicht mehr identifizieren. Als Alina musste er oft ein Begleitschreiben mit sich tragen, das bestätigte, dass sein knabenhaftes Äußeres nicht zu seinen Dokumenten passe. Eigenartig ist, dass Bekannte bis zur Geburt fix von einem Jungen ausgingen. Ich kleidete mein Kind anfangs wie ein Mädchen. Doch schon mit drei Jahren riss es sich die Haarspangen vom Kopf und steckte seinen Zopf in den Hemdkragen. Mit acht pochte es auf einen Kurzhaarschnitt und tauschte sein Puppenbett am Flohmarkt gegen einen Spielzeug-Audi ein. Dieser starke Wille gefiel mir, und so ließ ich mein Kind sein, wie es wollte.
Ein stummer Hilfeschrei
In den Sommerferien 2015 hörte mein Kind plötzlich zu essen auf und vergrub sich im verdunkelten Kinderzimmer. Als es immer dünner wurde, meinte die Kinderärztin nach einer Blutabnahme: „Na ja, da kündigt sich wohl die erste Regel mit einer normalen Verstimmung an.“ Doch es war ein stummer Hilfeschrei! Ich konnte die innere Suche und Verzweiflung förmlich spüren. Erst ein Pferd namens Phönix, das ich ihm schenkte, zog mein Kind heraus aus dem depressiven Sumpf. Eines Abends, Punkt Mitternacht, bekam ich von ihm ein YouTube-Video geschickt: „Mädchen fühlt sich wie Junge“. Endlich war alles klar! Wie viel Überwindung musste es gekostet haben, das mitzuteilen?
Am nächsten Morgen nahm ich mein Kind in den Arm und meinte: „Wenn du ein Bub sein möchtest, unterstütze ich dich dabei.“ Ein Kinderpsychiater und Neurologe vermittelte uns zu einer auf Transgender spezialisierten Psychotherapeutin weiter, die Christoph seither begleitet. Fühlen sich Transgender-Jugendliche nicht verstanden, kann das schwere Folgen haben, sie laufen Gefahr, eine Borderlinestörung zu entwickeln, sich selbst zu verletzen oder an Suizid zu denken. Bei Christoph war das zum Glück nicht der Fall. Er outete sich am 21. April 2016. Da war er zwölf Jahre alt.
Was ist ein Mann?
Der schwierigste Part war die Reaktion der Familie. Das ist bei Umbrüchen immer so, weil auch die Angehörigen mit betroffen sind. Alle Familienmitglieder mussten sich von der Vorstellung verabschieden, eine Tochter, Schwester, Enkelin zu haben. Hinzu kamen Wut und Enttäuschung. Christophs Opa meinte einmal voller Zorn, dass er ihn erst als Burschen akzeptieren werde, wenn er einen Penis habe. Daraufhin brach Christoph in Tränen aus, und ich fragte fuchsteufelswild, ob denn nicht klar sei, wie verletzend so ein Verhalten sei. Und wie antiquiert so ein Geschlechterbild! Definieren sich Männer echt nur über ihren Penis? Seither bemühen sich alle um Offenheit, weil sie sehen, wie gut es Christoph geht.
Wahrheit befreit
„Die Frage ,Was werden die Leute denken?‘ sollte jeder ganz schnell streichen, wenn er glücklich und frei leben will“, meinte Christophs Taufpatin und Großtante Maria. Sie stand ohne Wenn und Aber zu ihm. Daran sieht man, dass auch ältere Menschen cool damit umgehen können. Die Nachbarin meiner Oma sagte: „Gott sei Dank müssen sich die Leute deshalb nimmer verstecken wie früher.“ Denn Transgender gab es immer schon, erste Aufzeichnungen reichen in die Antike zurück. Und weil das Aussprechen der Wahrheit so befreit, gestand uns Christoph auch, dass er auf Männer stehe. Was für Oma und Opa schlimmer ist, wissen wir bis heute nicht. (lacht)
Er ist auf dem Weg
Inzwischen wurde bei meinem Sohn die oberkörperangleichende OP vorgenommen. Seine Vulva möchte er behalten. Beim Reiten, sagt er, sei das von Vorteil. Nur seine Gebärmutter und Eierstöcke möchte er mit 18 Jahren entfernen lassen, damit er weniger Testosteron braucht. Bis dahin ist es möglich, dass er Eizellen einfrieren lässt. Also auch Transgender können eigene Kinder bekommen.
Edith Walzl mit ihrem Sohn Christoph, der auch dank seines Pferds Phönix seine Geschlechtsidentitätskrise überwand und „wie Phönix aus der Asche“ stieg.
Transgender sein ist kein Spiel
Wie viele Kinder und Jugendliche sind in Österreich Transgender?
Edith Walzl: Dazu gibt es leider keine genauen Zahlen, weil das Thema immer noch tabuisiert wird. Studien aus Neuseeland und Finnland belegen aber, dass etwa ein bis 1,4 Prozent aller acht- bis 18-Jährigen von einer Geschlechtsidentitätskrise betroffen sind.
Eine Ihrer wichtigsten Botschaften lautet: „Transgendersein darf nicht Mode werden.“ Warum?
Weil es kein Spiel ist. Es braucht viele Untersuchungen, eine jahrelange Psychotherapie, eine lebenslange Hormontherapie und etliche Operationen. Eltern dürfen Kinder in dieser hochintimen Identitätsentscheidung auf keinen Fall unter Druck setzen. Und das Kind muss wissen: „Solange es möglich ist, darf ich meinen Weg auch zurückgehen –egal wie viel Zeit, Nerven und Geld investiert wurden.“
„Nur zehn Prozent aller Transgender lassen sich geschlechtsangleichend bis zum Schluss operieren!“
Was ist demnach das Beste?
Wenn Eltern ihr Kind begleiten und einen Vertrauensraum schaffen. Je früher eine achtsame Auseinandersetzung einsetzt, umso besser, denn früh leiden die Kinder noch nicht unter den hormonellen und physischen Veränderungen der Pubertät. Mit Einsetzen der Adoleszenz sollte abgeklärt werden, ob das Kind an einer Geschlechterdysphorie und an der nicht als adäquat empfundenen Pubertät leidet. Sobald das Kind sich unwohl fühlt, ist eine Psychotherapie ratsam – und ein Pubertätsstopp. Dafür wird ein Hormon in die Bauchdecke injiziert und sorgt über die Hirnanhangsdrüse dafür, dass bei Burschen die Erektion ausbleibt und bei Mädchen die Periode und das Brustwachstum. Das Kind kann innerlich zur Ruhe kommen und sich Gedanken machen, ohne dass der Körper Stress macht. Möchte ein Kind doch mit seinem bisherigen Geschlecht weiterleben, setzt man diese gegengeschlechtliche Hormontherapie einfach wieder ab, und die biologische Pubertät geht wie gewohnt weiter.
Wer legt fest, wann welcher Schritt passiert?
Alle ÄrztInnen und PsychotherapeutInnen müssen sich an Behandlungsrichtlinien halten, an die sogenannten „Standards of Care“. Diesen Leitfaden darf man nicht umgehen, auch wenn Jugendliche die Geschlechtsumwandlung gerne beschleunigen möchten. Gerade wenn es seelisch so pressiert, ist es wichtig, ihnen eine Perspektive zur Veränderung zu geben. Dadurch spüren sie: „Da ist ein Weg! Ich bin nicht in meiner Haut gefangen!“ Die Hormontherapie darf ab dem 16. Lebensjahr erfolgen.
Dieser Artikel ist im September 2018 erschienen. Noch mehr Anregendes für den Geist, Belebendes für die Seele und nützliche Tipps finden Sie ebenfalls im September-Heft 2018, das Sie hier bestellen können.