Seit über zehn Jahren nutzen Millionen von Menschen Dating-Apps wie Tinder & Co. Was zu Beginn aufregend war, ermüdet heute die meisten NutzerInnen. Warum viele trotzdem nicht von Tinder wegkommen und wie achtsames Onlinedating aussehen könnte, erklärt Sozialpsychologin Johanna Degen.
Frau Degen, Sie lehren an der Europa-Universität Flensburg und forschen zu Online-Dating, insbesondere der Dating-App Tinder. Von Ihren StudentInnen werden sie liebevoll als Frau „Dr. Tinder“ bezeichnet. Wie kam es, dass sie anfingen, sich mit Dating-Apps zu beschäftigen?
Ich war vor vielen Jahren selbst auf der Dating-App Tinder angemeldet und mir sind viele Dinge aufgefallen. Viele profilieren sich auf Tinder selbst, geben falsche Angaben an und stellen sich anders dar, als sie wirklich sind und auch konträr zu dem, wonach sie eigentlich suchen. Wir wollen dort den Eindruck erwecken, glücklich, gesund und unkompliziert zu sein. Das hat mein Interesse als Forscherin geweckt. Ich wollte wissen, warum sich Menschen so verhalten und ob diese Apps unser Datingverhalten verändern. Mittlerweile forsche ich seit sieben Jahren zu diesem Thema, habe mir unzählige Tinder-Profile angeschaut und NutzerInnen befragt.
Anstatt sich in Bars die Nächte um die Ohren zu schlagen, suchen Singles heute bequem vom Sofa aus nach potentiellen PartnerInnen. Wie haben diese Apps unser Datingverhalten verändert?
Das Online-Dating hat neue Prinzipien erschaffen. Man muss schnell verfügbar sein. Viele NutzerInnen erklären mir, wenn sie zwei Tage lang mit jemandem über die App schreiben und nach dieser Zeit kein persönliches Treffen zustande kommt, beenden sie den Kontakt wieder. Es gibt auch den Trend zum parallelen Dating. Viele NutzerInnen schreiben mit drei verschiedenen Personen gleichzeitig und haben an einem Wochenende mehrere Dates. Dann fragen sich die Menschen, warum Spannung und Romantik fehlen. Die können so ja gar nicht aufkommen.
Das klingt ja nach Onlineshopping. Man bestellt mehr als man braucht, passt es nicht, wird die „Ware“ einfach retourniert. Führt das nicht zu einer emotionalen Abstumpfung?
Einige NutzerInnen berichten mir, dass sie, seit sie online daten, unsozialer geworden sind. Sie behandeln andere Menschen schlechter als vorher, sind unhöflicher, reagieren auf Nachrichten einfach nicht, wenn sie keine Lust haben, und vielen fällt auf, dass sie bei Dates nichts mehr empfinden. Dann denken sie, dass an ihnen etwas falsch sein muss, dabei ist es lediglich ihre Datingpraxis, die derlei Verhalten normalisiert. Die meisten investieren keine Gefühle, Zeit und Geld mehr, bereiten sich auf ein Treffen auch nicht vor. Wer in so einem Tempo datet, kann fast keine weichen Knie mehr bei einem Menschen bekommen.
„Mittlerweile sind wir in einer großen Erschöpfungsphase gelandet. Viele Menschen sind datingmüde.“
Das Image von Dating-Apps ist ja nicht unbedingt positiv. Warum ist das so?
Als die ersten Dating-Apps am Markt erschienen sind, war das aufregend. Es war eine neue Form des Kennenlernens und Menschen, die in Beziehungen waren, waren neidisch auf Singles, die sie ausprobieren konnten. Sie fühlten sich von dieser Welt angezogen, aus der sie ausgeschlossen waren. Mittlerweile sind wir in einer großen Erschöpfungsphase gelandet. Viele Menschen sind datingmüde. Das Image der Apps hat sich dramatisch verschlechtert, kaum jemand hat noch Lust, online zu daten oder, um es drastischer zu sagen: Alle finden Tinder scheiße. Das heißt aber nicht, dass wir aufhören.
Was frustriert Menschen am Onlinedating?
Die meisten Menschen, die online daten, machen viele schlechte Erfahrungen. Sie werden sehr oft von anderen enttäuscht und verletzt und generalisieren dann ihre Erlebnisse und projizieren sie auf das andere Geschlecht. Beim nächsten Date erwarten sie, wieder enttäuscht zu werden. Ein unbefangenes Kennenlernen ist nur mehr schwer möglich, denn viele haben eine negative Grundhaltung zum anderen Geschlecht entwickelt. Ich kenne einige Menschen, die eine beachtlich hohe Anzahl an FollowerInnen auf Social Media haben und dort ihrer Enttäuschung freien Lauf lassen, indem sie öffentlich das andere Geschlecht abwerten. Das spaltet die Geschlechter und polarisiert.
„Es ist eine gute Möglichkeit, rasch jemanden kennenzulernen, die halt auch Nachteile und oftmals viele Verletzungen mit sich bringt. “
Die App ist vor allem als Portal für schnelle Sex-Dates bekannt. Ist es denn möglich, die große Liebe bei Tinder zu finden?
Eine große Umfrage, die wir durchgeführt haben, hat ergeben, dass sich ein Großteil der Paare, die wir befragt haben, über Onlinedating kennengelernt haben. Es stimmt nicht, dass die App nur für Sex-Dates genutzt wird, die Motive sind unterschiedlich. Manche sind neugierig, andere wollen die große Liebe finden, wieder andere wollen eine gute Zeit mit jemandem verbringen und schauen, was sich daraus ergibt, andere wollen Sex. Es ist eine gute Möglichkeit, rasch jemanden kennenzulernen, die halt auch Nachteile und oftmals viele Verletzungen mit sich bringt.
Warum machen so viele Menschen weiter, obwohl sie so oft enttäuscht werden?
Viele kommen von den Apps nicht los, weil sie sich keine Alternativen sehen. Kennenlernen im realen Leben wird von den meisten als schwierig empfunden. Der öffentliche Raum ist mittlerweile politisch aufgeladen. Frauen signalisieren kaum noch, ansprechbar zu sein, und Männer sind verunsichert. Die meisten trauen sich keine Frau mehr anzusprechen. Deshalb ziehen sich viele in die vermeintlich eindeutige und sichere Onlinewelt zurück. Eigentlich vermissen es fast alle, im realen Leben jemanden kennenzulernen, aber die Verunsicherung führt dazu, dass Menschen in Bars und Clubs gehen, wenn sie aber jemanden sehen, der ihnen gefällt, sprechen sie die Person nicht an, sondern schauen lieber, ob sie im digitalen Raum zu finden ist.
Können Dating-Apps süchtig machen?
Es gibt einige NutzerInnen, die mir berichten, dass sie nicht aufhören können, obwohl sie merken, dass es ihnen nicht guttut. Wir sprechen in der Wissenschaft von suchtähnlichen Effekten. Die App Tinder ist wie ein Spiel aufgebaut. Es wird durch Fotos gewischt – wenn eine Person gefällt und man ihr auch gefällt, kommt es zu einem Treffer. Die Hormone Dopamin und Adrenalin werden ausgeschüttet, das ist eine Belohnung für uns und kickt – wir fahren quasi Achterbahn. Viele verstehen dieses Hochgefühl als Liebe – Schmetterlinge im Bauch haben, verknallt sein, verrückte Sachen machen und sich lebendig fühlen. Dem vertrauten Partner tief in die Augen zu schauen, löst nicht solche starken Empfindungen aus. Damit verglichen langweilen sich viele in einer beständigen Partnerschaft. Sich in ruhiger Beziehung mit jemandem zu befinden, loyal zu sein und sich miteinander beruhigen zu können, wird heute eher als Problem gesehen, nicht als gute Partnerschaft. Viele fühlen sich nicht stimuliert, haben weniger Sex und Leidenschaft als in der Anfangszeit und beenden deshalb eine Beziehung, obwohl es völlig normal ist, dass beides im Laufe der Zeit abnimmt, weil eben auch andere Hormone produziert werden. Das Problem ist, dass wir kein gesellschaftlich und medial konstruiertes Bild von länger andauernden gesunden, nicht toxischen Beziehungen haben.
Wer kreiert denn dieses Bild von der stets leidenschaftlichen und romantischen Beziehung, der wir nacheifern?
Wir streben ein Bild an, dass wir zum Großteil aus Filmen und Social Media kennen. Dort zeigen sich Paare stets verliebt und harmonisch, immer glücklich als Familie zusammen. Dem eifern wir nach. Uns fehlt aber ein Konzept für die Beziehung nach der ersten Verliebtheit. Wir haben kaum Erzählungen für eine hart erarbeitete Liebe mit Höhen und Tiefen. Viele halten auch an den vielen Möglichkeiten fest, die das Onlinedating bietet, denn es könnte ja noch eine Option geben, die besser passt. Ich hatte ein Gespräch mit einem Philosophen, ein romantischer Typ, der eine Frau über Tinder kennengelernt hat, mit der eigentlich alles gepasst hat. Trotzdem hat er weitergesucht, denn es könnte ja doch noch eine Frau geben, die noch besser passt. Er wusste, wie dämlich das ist, konnte es aber nicht lassen.
„Das typische Tinder-Date soll schnell, unkompliziert und am besten nebenbei gehen. “
Wie sieht das typische Tinder-Date aus?
Das typische Tinder-Date soll schnell, unkompliziert und am besten nebenbei gehen. Die Gespräche sind meist wenig tiefgehend und viele Menschen sind emotional nicht verfügbar. Zeit wird als eine knappe Ressource wahrgenommen. Ein Mann etwa lud seine Dates ein, ihn in den Baumarkt zu begleiten, weil er ohnehin etwas besorgen musste. Ein anderer hatte jeden Donnerstag eine anderthalbstündige Taxifahrt, da durften Frauen mit ihm mitfahren und ihn kennenlernen und eine Frau hat ihre Dates ins Nagelstudio bestellt, um sich nicht mit der Angestellten unterhalten zu müssen. Viele treffen sich auch mit zwei Personen an einem Tag. Vieles, was früher als unverschämt galt, ist heute normal.
Das klingt ja befremdlich. Warum sind Dating-Apps so erfolgreich und haben wir verlernt, wie Offlinedating geht?
Die Dating-Apps treffen eben einen Zeitgeist: Man muss nicht im Park sitzen, bis irgendwann jemand vorbeikommt, sondern kann schnell und bequem so lange durch Fotos wischen, bis jemand dabei ist, der ansprechend ist. Junge Menschen kommen ja noch leichter in Kontakt, diejenigen, die im mittleren Alter sind, oft schon Kinder haben und geschieden sind, haben es am schwersten. Sie haben meist eine genaue Vorstellung davon, was sie wollen und was nicht. Eigentlich wollen ja alle das Gleiche, egal, ob jung oder alt: gesehen, anerkannt und geliebt werden. Niemand will schlechten und austauschbaren Sex haben und dennoch haben wir ihn. Es ist eine Sphäre der Enttäuschung geworden, und wir sind alle verletzlich.
Welchen Fehler machen die meisten und wie könnte ein gesunder Umgang mit Dating-Apps ausschauen?
Onlinedating ist nicht per se schlecht, eher die Art, wie wir es nutzen. Ein grundlegender Fehler, den die meisten machen, ist, dass sie ihr Verhalten nicht korrigieren, sondern mehr davon machen, was ihnen nicht guttut. Wenn ich feststelle, dass mir viele Dates innerhalb kurzer Zeit keinen Spaß machen, könnte ich langsamer und weniger daten. Ich könnte mehr Zeit ins Schreiben vorm Treffen und in das Kennenlernen eines Menschen investieren. Aber viele korrigieren sich selbst nicht, sondern beschleunigen das, was nicht funktioniert. Das führt zu einer Abwärtsspirale. Wir werten andere mehr ab, verschicken Standardnachrichten und brechen Kontakte eher kommentarlos ab. Wir könnten das Onlinedaten entschleunigen.
Neben Dating-Apps bauen auch viele Menschen in sozialen Netzwerken Beziehungen zu Menschen auf, obwohl sie diese gar nicht kennen, etwa zu InfluencerInnen und Stars. Wie ist das möglich?
Unser Gehirn bindet sich an das, was wir fokussieren, es entscheidet nicht zwischen digital und analog. Das heißt, verfolgen wir das Leben fremder Personen auf Instagram, bauen wir eine Bindung zu ihnen auf. Wir projizieren Liebe und Zuneigung auf Beziehungen mit Leuten, die gar nicht wissen, dass es uns gibt. Das hat auch drastische Auswirkungen.
Was macht es mit uns, wenn wir uns so an die digitale Welt binden?
Ich habe mein Forschungsprojekt damals eigentlich mit einer optimistischen Einstellung angefangen und wollte mich auf die guten gesellschaftlichen Veränderungen konzentrieren, die Dating-Apps und soziale Netzwerke bewirken, und auf Medienkompetenz. Mittlerweile bin ich aber eher kulturpessimistisch. Ich finde es dystopisch, dass Menschen, anstatt sich in die Augen zu schauen und anzulachen, ins Handy starren. Viele haben Sex, drehen sich zur Seite, schnappen sich das Handy und öffnen Social Media. Morgens greifen viele zuerst zum Handy, bevor sie ihren Partner küssen. Wenn unsere Kinder weinen, schauen wir noch schnell eine Story fertig, bevor wir uns dem Nachwuchs widmen. Wir lenken unseren Fokus permanent nach außen. Viele berichten mir, dass sie durch Instagram scrollen, wenn sie gestresst sind, um sich zu beruhigen, anstatt zum Beispiel Atemübungen zu machen oder jemanden zu umarmen.
Zu welchem Umgang raten Sie also?
Wir könnten uns einander wieder mehr zuwenden. Zu viel Zeit am Handy tut unseren sozialen Beziehungen und Körpern nicht gut. Zahlreiche Studien zeigen, dass zu viel Zeit am Handy unglücklich und einsam macht. Auch aus der Familienforschung weiß man, dass Kinder, deren Eltern viel Zeit am Smartphone verbringen, lernen, dass das Handy wichtiger ist als sie. Wir sollten die digitale Welt in Maßen nutzen, dann hat sie auch klar Vorteile. Menschen können selbst in einem neoliberalen, beschleunigten Leben jemanden kennenlernen, ihre Datingfähigkeiten testen und Kontakt zu Menschen auf der anderen Seite der Welt aufbauen. Das hilft auch gegen Einsamkeit. Wir eignen uns diese Vorteile aber nicht mehr an, sondern verwandeln uns zur Rohmaterie, die von den Apps benutzt wird. Denn die Firmen, die diese Apps auf den Markt gebracht haben, sind ja nicht daran interessiert, dass wir glücklich sind und unsere große Liebe finden, sondern nutzen unsere Bedürftigkeit und Einsamkeit aus, um Geld zu verdienen. Wir eignen uns nicht mehr Leben an, sondern verlernen, zu leben.
Tinder: eine App, die Dating verändert hat
Die Smartphone-App Tinder präsentiert den NutzerInnen eine schier endlose Schleife an Profilbildern von Menschen, die sich gerade in der Nähe aufhalten. Ob man Interesse an einer Person hat, signalisiert man durch das Wischen über den Bildschirm. Finden sich zwei NutzerInnen attraktiv, kommt es zum „Match“. Von da an können sich die beiden Nachrichten schreiben und sich zu einem Treffen verabreden. Weltweit sind rund 75 Millionen Menschen monatlich auf Tinder aktiv, etwa 11 Millionen bezahlen für Zusatzfunktionen Geld. Angeblich kam Gründer Jonathan Badeen die Idee nach dem Duschen, als er das Kondenswasser auf seinem Badezimmerspiegel durch Wischen entfernte. In letzter Zeit brechen die Zahlen der NutzerInnen aber stark ein. Sowohl die Downloadzahlen als auch die zahlenden KundInnen über Tinders Premiumangebot nehmen ab. Junge Menschen zeigen immer mehr Interesse an Dating-Apps, die langfristige Beziehungen versprechen, wie etwa Hinge oder Bumble. Tinder versammelt trotzdem immer noch die meisten monatlichen UserInnen hinter sich. Laut Statista wird einer Prognose zufolge der Markt für Onlinesinglebörsen in den kommenden Jahren stark wachsen. Die Anzahl der NutzerInnen von Onlinesinglebörsen soll sich im Jahr 2024 auf rund 277 Millionen weltweit belaufen.
Zur Person:
Johanna Degen ist Sozialpsychologin und lehrt und forscht an der Europa-Universität Flensburg. Zusätzlich arbeitet sie als Paartherapeutin und ist Gründerin des Forschungs- und Bildungsprojekts „Teach Love“, das sich an Lehrerinnen und Lehrer richtet, die Sexualkunde unterrichten.
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