Die Suche nach dem Wesentlichen – was uns spirituelle Frauen lehren

Die Suche nach dem Wesentlichen – was uns spirituelle Frauen lehren
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  • Veröffentlicht: 14.03.2021
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Wir haben LehrerInnen für fast alles: Rechnen, Schreiben, Lesen, für gesunde Ernährung und richtigen Muskelaufbau. Wir lassen uns Atmen und richtiges Auftreten erklären, aber wer begleitet uns in der spirituellen Entwicklung? Frauen, die mit uns gehen, wenn es innig wird.

Es gibt Gelegenheiten im Leben, die warten mit Hinweisen auf. Ein Satz nur, ein Gedanke vielleicht, ausgesprochen von jemandem, auf den man plötzlich aufmerksam wird. Ein Glücksfall ist es, genau in dem Moment offen sein und annehmen zu können, was da Gutes auf einen zukommt. Oder das Gehörte in sich zu bewahren, sodass es sich wie von selbst wieder auftut, wenn es gebraucht wird.

Meine Oma zum Beispiel sagte solche Sätze zu mir, an viele davon habe ich mich erst viel später erinnert und habe sie als erleichternd empfunden. Das waren bei Gott nicht immer hochtrabende Botschaften, sondern einfache Feststellungen.

„Die Kräuter für den Tee sammeln wir selbst“, sagte sie zum Beispiel. „Du hältst ganz schön viel aus. Pass ein bisschen auf, dass du nicht immer so stark bist“, meinte sie. Von ihr konnte ich das gut annehmen. Und ich sammle Kräuter, weil ich mich ihr dann nah fühle, und denke in schwachen Zeiten an sie und daran, dass sie mein „Auslassen“ jetzt gutheißen würde.

Erleichternde Erkenntnisse

Wenn es im Leben ganz schön viel auszuhalten gibt, dann findet man Beistand nicht nur bei Familie und FreundInnen, sondern sucht Hilfe ganz bewusst auch von außen. Ich habe das mehrmals in meinem Leben getan. Irgendwann begriff ich auch, dass da niemand kommt, der mir die Lösung präsentiert und mir dann auch noch das Handeln abnimmt. Da war viel Unverständnis und Widerstand auf meiner Seite, bis ich so weit war. So weit nämlich, das glückliche Zusammentreffen von Anregungen und Selbstverantwortung zu erkennen und in die Gänge zu kommen.

In diesem Prozess hat sich in mir auch etwas entwickelt, was man gemeinhin wohl Spiritualität nennt. Die Auseinandersetzung mit meinem Dasein, meinen Hürden, meinen Chancen hatte die für mich erleichternde Erkenntnis mit im Gepäck, dass ich eingebunden bin in etwas großes Ganzes. In etwas, worauf ich keinen Einfluss habe und was es, wenn ich mich nicht weiter wehre, immer wieder gut mit mir meint. Eine meiner Lehrerinnen sagte einmal zu mir: „Der Sinn des Lebens ist, zu leben.“ Was für ein schlichter, befreiender Gedanke!

Vorbild, Ratgeberin, Diskussionspartnerin, Ruheinsel – das alles kann eine Lebenslehrerin sein. Ich rede nicht davon, dass die Suche nach so jemandem zum „Pflichtprogramm“ gehört. Dass man unter Anleitung übers Feuer laufen, schamanische Reisen unternehmen, Bäume umarmen und stundenlang meditieren muss oder sich auf der Suche nach dem ultimativen Glück in einen fernen Ashram zurückzieht. Das alles kann gut sein und guttun. Muss es aber nicht.

Die Erkenntnis meines bisherigen Lebens: Wenn das „Muss“ an Kraft verliert, gewinnt das Leben an Klarheit, und es gibt wieder mehr Platz für freie Entscheidungen. Ich für meinen Teil werde dann auch stiller, will hinaus in die Natur und erlebe Gegenwärtigkeit. „Der Weg ist das Ziel“, dieser Satz hat für mich neue Bedeutung bekommen. Und wenn mir auf diesem Weg jemand zur Seite steht, der mich anregt und dennoch sein lässt, wie ich bin, dann weiß ich das sehr zu schätzen.

Angebote machen

„Das Prinzip von Begleitung ist nicht, die ‚Obergescheite‘ zu sein, die Anweisungen gibt. Man hört zu, kann vielleicht ein Angebot machen. Den Weg geht jeder Mensch für sich allein“, sagt eine, die seit vielen Jahren zuhört und Angebote macht: Sr. Esther Ganhör gehört dem Orden der Kreuzschwestern an, lebt in Linz und hat ihre schon in jungen Jahren empfundene Freude an Stille und Meditation zum Beruf entwickelt.

Die ehemalige Lehrerin ist auch als geistliche Begleiterin tätig, unter anderem hat sie dreieinhalb Jahre mit dem katholischen Theologen Pierre Stutz zusammengearbeitet, im Team des offenen Klosters „Abbaye de Fontaine-André“ in Neuchâtel. Ob es für sie einen Unterschied zwischen spiritueller und geistlicher Begleitung gibt? „Ach, das ist doch alles nur eine Vokabelfrage, denke ich. In der Begleitung geht es erst einmal um persönliche Dinge, und dann kommen wie selbstverständlich spirituelle und geistliche Themen ins Spiel.

Natürlich kann es sein, dass jemand vom Religiösen weit entfernt ist, aber eine Möglichkeit sucht, sich zu vertiefen und authentischer zu werden. Dann kann der Begriff ,spirituell‘ vielleicht angemessener sein“, glaubt Ganhör, die von sich lächelnd sagt, sie habe „anscheinend auch ein Gen für die Begleitung von Menschen fern vom Glauben“.

In Zeiten von Effizienz und Zweckgebundenheit ist ihr noch etwas anderes besonders wichtig, nämlich die Liebe zum scheinbar Nutzlosen zu entfachen und Bewusstsein dafür zu schaffen, dass nicht immer alles einen Sinn haben, einen Zweck erfüllen muss. Welche Frage sich bei einer Begleitung auch immer stellt: Man kann nichts „verzwecken“.

„Wenn also jemand zum Beispiel mehr Unabhängigkeit in seinen Beziehungen erreichen möchte, kann ich mich nicht hinstellen und sagen: ,Du wirst unabhängiger, wenn du jeden Tag 15 Minuten meditierst‘“, gibt Esther Ganhör einen Hinweis darauf, dass Vorsicht geboten ist bei allzu großen Heilsversprechen.

„Ich möchte geistliche Begleitung deutlich unterscheiden von spiritueller Wellness und der Suche nach dem ewigen Glück.“ Glück sei natürlich etwas Schönes, aber das Leben sollte umfassender verstanden werden. „Ein spiritueller Weg ist immer auch einer mit engen oder gar verschlossenen Türen.“

Jemand von Außen

Beziehungen, Partnerschaft, Beruf, Sinnfragen, die etwa bei Krankheiten drängend werden: All das waren Themen, für die ich neue Sichtweisen suchte, weil meine bisherigen Antworten nicht mehr ausreichend waren. Dass ich damit nicht alleine bin, bestätigt Susanne Gross, bis 2018 verantwortlich für den Lehrgang „Geistliche Begleitung“, der vom Referat für Spiritualität der Diözese Linz angeboten wird. „Diese Themen treiben wohl alle Menschen an, und in den letzten Jahren merke ich schon ein vermehrtes Bedürfnis nach spirituellen Zugängen.“

Solche Zugänge können sich in besagtem Lehrgang, der auf einem Konzept von Pater Johannes Pausch basiert, auftun. „Ein spirituelles Leben vermitteln, andere dabei begleiten – das  ist es, was unsere TeilnehmerInnen anstreben. Und sie wollen auch für sich selbst etwas finden, um weiterzugehen“, schildert Gross. Welche Voraussetzungen muss man für den zweijährigen Lehrgang mitbringen?

„Man sollte bereit sein, sich mit anderen auf einen Entwicklungsprozess einzulassen und auch selbst Begleitung in Anspruch nehmen. Man braucht Zugang zum Glauben und sollte andere Religionen ohne Berührungsängste respektieren“, zählt Gross auf. Gerade Letzteres erscheint ihr besonders wichtig – auch um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Religionen zu erkennen.

Himmlische Freundin

Von menschlichen Diskussionen mit theologischem „Background“ erzählt Andrea Leisinger vom Leitungsteam des Lehrgangs „Spirituelle Theologie im interreligiösen Prozess“ der Universität Salzburg. Leisinger spürte im Alter von 16 Jahren bei einem Besuch im Kloster Wernberg den Anstoß für ihre spirituelle Suche.

„Zu einer der Schwestern, Sr. Assumpta, sie war viele Jahre älter als ich, entwickelte sich eine sehr tiefe Beziehung. Sie hat mich immer in meinem Tun bestärkt. Sie war wesentlich an meinem Entschluss beteiligt, Theologie zu studieren. Oder auch daran, dass ich geheiratet habe. Gelehrt hat sie mich die Einfachheit – die Meditation und die Kontemplation – das Leben im Augenblick. Angeregt hat sie mich, nachzudenken und auf das Innere zu hören“, erzählt sie von ihrer jahrelangen Begleiterin.

Der Tod ihrer spirituellen Lehrerin 2013 schmerzt Leisinger bis heute. „Ich spüre ihre Nähe manchmal sehr intensiv und freue mich, wenn sie mir in den unterschiedlichsten Situationen plötzlich einfällt“, erzählt die Mutter von drei Mädchen darüber, wie schön es sei, so eine „himmlische Freundin“ zu haben.

Orientierungshilfen

Doch woran kann man eine gute Begleiterin, eine spirituelle Lehrerin, der man vertrauen kann, erkennen? „Für mich ist es wichtig, dass sie selber gut in der Praxis steht, dass ich von ihr lernen kann. Dann bin ich auch bereit dazu, ihr manchmal bedingungslos zu folgen, obwohl ich im ersten Augenblick vielleicht ganz und gar nicht damit einverstanden bin“, meint Andrea Leisinger, die ihren spirituellen Weg ganz klar mit ihrer persönlichen Sehnsucht nach Gott verbindet.

„Dem kann ich nur alleine nachgehen oder nachspüren. Ich brauche dazu aber Vorbilder, Menschen, die auf ihrer Suche schon ein Stück weiter sind. Menschen, die mir ehrlich antworten“ erzählt sie von sich – und ist überzeugt, dass ein spiritueller Weg immer ins Leben, in den Alltag zurückführt.

„Der Weg führt durch das Feuer der Liebe“

Christa Spannbauer schreibt über ihre spirituelle Lehrerin Annette Kaiser.
Annette Kaiser

Annette Kaiser, Foto: Janne Peters

„Ich folge der Stimme des Herzens“, sagt sie. Hierfür geht die spirituelle Lehrerin Annette ­Kaiser den „pfadlosen Pfad der Liebe“. Vermittelt wurde ihr dieser von Irina Tweedie, der ersten westlichen Sufi-Lehrerin.

Wer diesen spirituellen Weg geht, muss sich keiner Religion zugehörig fühlen. Irina Tweedie bezeichnete sich als Atheistin, ihr Lehrer Bhai Sahib war Hindu und dessen Lehrer Moslem. Annette Kaisers eigener Weg führte sie vom Katholizismus über den Buddhismus hin zum Sufismus. Mutig und selbstbewusst verließ sie schließlich die traditionellen religiösen Wege und machte sich auf die Suche nach einer universellen Spiritualität für den modernen Menschen.

„Aufgrund meiner katholischen Erziehung stand ich lange Zeit voller Ehrfurcht vor diesem mächtigen Gottvater mit seinem Sohn“, erzählt Kaiser. Das änderte sich, als sie in einem Gedicht des Sufi-Mystikers Rumi von der leidenschaftlichen Liebesbeziehung zwischen Gott und Mensch las. Das Herz des Menschen gilt im Sufismus als Ort der Vereinigung mit dem Göttlichen.

In dieses legte Gott in seinem Schöpfungsakt einen göttlichen Funken. Die Aufgabe des Menschen ist es, diesen Funken zum Brennen zu bringen und die Welt mit Liebe zu erfüllen.

Als spirituelle Lehrerin unterstützt Annette Kaiser die Menschen darin, sie leitet Meditationsretreats und Seminare. Bevor sie sich auf den spirituellen Weg begab, arbeitete sie in der Entwicklungszusammenarbeit und engagierte sich besonders für die Frauen. Seitdem weiß sie: „Wir haben die Aufgabe, aus der Liebe heraus die Welt neu zu gestalten.“ Wichtig hierfür sei es, die Trennungen zwischen den Menschen aufzuheben und die Aufspaltungen von Geist und Materie, männlich und weiblich miteinander zu versöhnen.

Dass den Frauen in der Spiritualität des 21. Jahrhunderts eine besondere Aufgabe zukommt, davon ist sie überzeugt. Hierfür gelte es besonders, die Kraft des Weiblichen zu stärken, aber auch das Männliche in seine Bestimmung zurückzuführen. Annette Kaiser, Großmutter und Mutter zweier Kinder, ist eine Frau mit einem klaren Geist und einem leidenschaftlichen Herzen.

Wer in ihr strahlendes Gesicht blickt, erhält eine Ahnung dessen, was Mevlana Rumi einst in poetische Worte fasste: „Das Antlitz der Liebenden vermag alles.“

Annette Kaiser ist Leiterin der „Villa Unspunnen“ (CH) und der „Windschnur“ (D). Im Zentrum ihrer Arbeit steht das Mensch-Sein im Hier und Jetzt.

Mit konstanter Wärme der Zuneigung

Andrea Roedig schreibt über ihre spirituelle Lehrerin Sr. Birgit Tück.
Sr. Birgit Tück

Sr. Birgit Tück, Foto: privat

Warum fällt mir gerade Sr. Birgit ein beim Thema „Spirituelle Lehrerin“? Das ist eigenartig, denn ich habe sie gar nicht so sehr gut gekannt. Sie leitete im deutschen Bad Münstereifel ein Mädcheninternat der Ursulinen, in das ich als ziemlich aufgewühlte Jugendliche kam.

Sr. Birgit trug kein Habit, strahlte aber eine sanfte Autorität aus, der man nicht widersprechen konnte. Ich hörte viel über den anspruchsvollen Geschichtsunterricht, den sie für die höheren Klassen gab, deshalb war sie für mich das Vorbild einer studierten, klugen Frau. Fast immer hatte sie ein kleines, undurchschaubares Lächeln im Gesicht, weshalb wir sie insgeheim „Land des Lächelns“ tauften.

Im Gegensatz zu den Nonnen, die uns erzogen, war Sr. Birgit nur von ferne präsent, sie hatte nie viel Zeit. Aber sie achtete auf mich, weil sie wusste, dass ich aus nicht ganz leichten Familienverhältnissen kam, und weil sie bemerkte, dass ich mich intensiv mit dem Glauben beschäftigte.

Vielleicht in gewisser Wachsamkeit für Ordensnachwuchs lud sie mich zu Osterexerzitien ins Mutterhaus nach Düsseldorf ein. Ich habe diese Einkehr öfter wiederholt, auch als man mich ganz und gar nicht mehr für eine künftige Nonne halten konnte.

Sr. Birgit war da, beschützend, mit einer konstanten Wärme der Zuneigung, so wie die Ursulinen insgesamt, was ich ihnen nie vergessen werde. Irgendwann verließ Sr. Birgit das Internat, um als Generaloberin die Kongregation zu leiten. Dass sie viel zu früh starb, mit 55 schon, habe ich nur von ferne mitbekommen.

In meinen alten Tagebüchern liegt noch eine Spruchkarte, die ich zu Ostern von ihr bekam: „Christus ist auferstanden, wie er gesagt hat.“ Für mein heutiges, eher agnostisches Selbst erscheint der Satz bedeutungslos. Aber als Geschenk von Sr. Birgit berührt er mich. Vielleicht hat sie ja eine Saat gelegt, die noch gar nicht aufgegangen ist.

Sr. Birgit Tück (1939–1994) unterrichtete Geschichte und leitete ein Mädchenpensionat der Ursulinen.

Die Frau, die Wunder erfand

Susanne Niemeyer schreibt über ihre spirituelle Lehrerin Astrid Lindgren.
Astrid Lindgren

Astrid Lindgren, Foto: Jacob Forsell

Wenn Pippi an einem sonnigen Frühlingstag an einem Baum vor dem Schaufenster hängt, ruft sie, dieser Tag sei nicht für Plutifikation geeignet. „Wir sind bei der Division“, sagte die Lehrerin. „An solch einem Tag soll man sich überhaupt nicht mit ‚ions‘ beschäftigen“, sagte Pippi. „Oder es müsste ,Lustifikation‘ sein.“

Von Astrid Lindgren habe ich gelernt, wie Leben geht. Pippi Langstrumpf war die Heldin meiner Kindheit. Denn Mädchen, die ihr Leben in die Hand nahmen, waren rar in der Kinderliteratur. Und auch heute noch steht Pippi an meiner Seite. Ihre Mutter ist tot, ihr Vater auf und davon. Aber Pippi zerbricht nicht daran. Sie lehrt mich, dass die Welt tausend Möglichkeiten bietet.

„Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt.“ Resilienz würde man heute dazu sagen. Astrid Lindgrens Geschichten sind Rettungsgeschichten. Sie bieten Bilder, die meine Einbildungskraft wecken. Sie helfen, das zu sehen, was noch nicht ist, aber sein könnte. Sie sind konkrete Utopie. Ihre Botschaft lautet: „Das haben wir noch nie ausprobiert. Also geht es sicher gut.“ Die Welt ist nicht heil bei Astrid Lindgren. Aber ihre Geschichten sind heilend

Oft diente ihr eigenes Leben als Vorlage. Einerseits gab es das Elternhaus im idyllischen Småland, in dem sie Geborgenheit und Freiheit fand. Auf der anderen Seite gebar sie früh einen unehelichen Sohn, den sie die ersten Jahre seines Lebens weggeben musste. Es gibt Gegebenheiten, die sind, wie sie sind. Aber man kann sie verwandeln. „Ich will nicht für Erwachsene schreiben“, sagte Astrid Lindgren. „Ich will für Leser schreiben, die noch Wunder erfinden können.“

Wunder hält in ihren Geschichten jeder neue Tag bereit, Alltagswunder, die beim Überleben helfen. Pippi lebt zwar allein, aber sie ist nicht allein, denn ihre Mutter schaut durch ein kleines Loch im Himmel auf sie herunter. In dieser Grundgeborgenheit lässt sich die Welt erobern, kann man Sachensucherin sein, lauern kleine oder große Wunder in hohlen Baumstümpfen und mutigen Begegnungen.

Pippi Langstrumpf, Michel aus Lönneberga, die Brüder Löwenherz. Meine Lieblingsbücher sind Kinderbücher. Aber eben nicht nur. „Ich denke nicht an die Kinder. Ich denke überhaupt nur an das Kind in mir selbst“, sagte Astrid Lindgren, und deshalb sind ihre Bücher auch Erwachsenenbücher. Weil in jedem das Kind von damals schlummert, das geliebt, beschützt und getröstet werden will.

Die schwedische Schriftstellerin Astrid Lindgren (1907–2002) gehört mit einer Gesamtauflage von über 145 Millionen Büchern zu den bekanntesten KinderbuchautorInnen der Welt.

Alles lieben, wie es ist

Laya Kirsten Commenda schreibt über ihre spirituelle Lehrerin Nathalie Delay.
Nathalie Delay

Nathalie Delay, Foto: Lukas Beck

Langes Einatmen, langes Ausatmen. Die Worte berühren mein Herz wie eine sanfte Melodie. Nach Hause kommen. Zu meinem Atem, zu meinem Körper, zu meiner Essenz.

Müsste ich Nathalie mit wenigen Wort beschreiben, so wären das Stille, Präsenz, Anmut und Wahrhaftigkeit. Und Liebe natürlich. Die Liebe, die Nathalie Delay verkörpert, ist eine andere als die, die wir für einen bestimmten Menschen empfinden. „Diese absolute Liebe beinhaltet alle Formen, alle Gedanken, alle Emotionen – auch die Angst. Wenn ich mich der Angst nicht verweigere, sondern sie wirklich spüre, dann finde ich darin die Qualität von absoluter Liebe, dann finde ich die Quelle“, erklärt sie. „Jede Emotion ist wie ein Tor zur totalen Liebe. Aber das ist kein Konzept und keine Ideologie. Das ist etwas, was man organisch erfahren muss.“

Diese Ideologiefreiheit zieht sich durch Nathalies Lehre. Es geht ihr um die essenzielle Erfahrung der Wirklichkeit, um ein aufrichtiges Erforschen, und nicht darum, an irgendetwas zu glauben. Der kaschmirische Shivaismus, eine mystische Tradition, in die sie eingeweiht wurde, kommt in Nathalies Unterricht gar nicht explizit vor. Sie lehrt, was sie lebt.

Am ersten Tag des Seminars habe ich starke Kopfschmerzen – eine gute Gelegenheit, zu praktizieren: mich dem hinzugeben, was sich im Moment zeigt, ohne Widerstand und ohne inneren Kommentar. Anspannung und Leiden, erklärt Nathalie, entstünden, wenn wir etwas anders haben wollten, als es gerade sei. Am zweiten Tag breitet sich Ruhe in mir aus.

Beim Spaziergang im Park hebe ich Kastanien vom Boden auf und lasse mich von ihrer glatten Oberfläche berühren. Ich sehe den Wind in den Blättern. Ich beobachte eine Krähe, die gemächlich über die herbstliche Wiese hüpft. Es ist nichts Spektakuläres – nur ein kleines Erschauern.

Am dritten Tag bin ich so entschleunigt, dass mir mein gewohntes Tempo absurd vorkommt. Vielleicht liegt das an der minimalistischen Yogapraxis, die Nathalie vorschlägt: „Wir sind es nicht gewohnt, im Empfinden zu sein, wir sind ständig im Denken. Wenn ich die Bewegungen immer mehr verlangsame und von Moment zu Moment bewohne, kann ich wieder ins Empfinden kommen. Wenn ich diese Intimität einmal gefunden habe, fällt es mir leichter, sie auch in den Bewegungen des täglichen Lebens umzusetzen.“ Dann könnten auch die Busfahrt oder der Einkauf im Supermarkt jene poetische Qualität bekommen, nach der ich mich so sehr sehne.

Nathalie Delay ist eine Lehrerin in der Tradition der Mystik des kaschmirischen Shivaismus.

Spiritualität: Versuche der Begriffsbestimmung

Spiritualität empfindet jeder Mensch auf eigene Weise im Zusammenhang mit seinem Glauben – oder auch Nichtglauben. Eine Erklärung des Begriffs kann wohl nur als Annäherung verstanden werden. Religionspsychologe Christian Zwingmann zum Beispiel hat solch eine Annäherung und Erklärung versucht und dabei auch eine Abgrenzung zu Religiosität formuliert:

„Religiosität wird als die Übernahme  von Glaubensüberzeugungen sowie die Teilnahme an Aktivitäten und Ritualen einer organisierten Religionsgemeinschaft mit einem spezifischen Normen- und Traditionssystem angesehen. Demgegenüber gilt Spiritualität als subjektiv erlebter Sinnhorizont, der sowohl innerhalb als auch außerhalb traditioneller Religiosität verortet sein kann und damit allen – nicht nur religiösen – Menschen zu eigen ist.“

Auch Corinna Dahlgrün, evangelische Theologin und Professorin an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, hat sich intensiv mit dem Begriff „Spiritualität“ auseinandergesetzt. In ihrem Buch „Christliche Spiritualität“ geht sie nicht nur der Frage nach, was Spiritualität sein kann, sondern auch der, wie sie in unserer westlichen Kultur bestehen kann.

Dafür analysiert sie geschichtliche Religionsaspekte genauso wie die spirituelle Praxis im Jetzt. „Spiritualität hat immer etwas zu tun mit über- und transrationalem Betrachten und Gestalten des Lebens, der Begriff steht für eine Haltung, ein Tun, für einen Lebensstil, oft hat es auch etwas mit dem Beginn eines Weges der Suche zu tun“, meint Dahlgrün.

Welt der Frau, die österreichische Frauenzeitschrift, Dezember 2016

 

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