Die „Welt der Frauen“-Redaktion und ihre Lesefreuden: Buchtipps nach persönlicher Lust und Laune als Gustomacher für laue Abende, heiße Sommernächte oder Stunden am See
Rätselhafter Bruder
Mit „Löwenherz“ setzt Monika Helfer nach „Die Bagage“ und „Vati“ ihre autobiografische Familiensaga fort und tastet sich behutsam an die widersprüchliche Biografie ihres um sechs Jahre jüngeren Bruders Richard heran. „Löwenherz“ hat sein Vater ihn einst genannt, weil er selbst sich nach dem frühen Tod seiner Frau nicht mehr um die Kinder kümmern wollte. Der körperlich leicht beeinträchtigte Richard wächst getrennt von seinen Schwestern auf, entwickelt sich zum Eigenbrötler, Hundefreund und „Schmähtandler“, erzählt mit Vorliebe unglaubwürdige Geschichten. Stabile Beziehungen sind Richard nicht gegönnt, doch zwei Frauen bestimmen sein Leben: die schwangere Kitti, die ihn vor dem Ertrinken im Bodensee rettet und ihm ungefragt ihre kleine Tochter „Putzi“ überlässt. Dieses Kind, von dem er nur den Kosenamen kennt, nimmt den liebevollen Richard sofort als Papa an. Die beiden und der geliebte Hund sind ein gutes Team.
Dann heiratet er Tanja, eine Anwältin, die Kitti das Sorgerecht aberkennen lassen und „Putzi“ adoptieren will. Das Glück endet, als „Putzis“ Mutter ihr Kind zurückholt. Auch den Hund verliert Richard, als der von einem Jäger erschossen wird. Mit 30 Jahren setzte Monika Helfers Bruder seinem Leben ein Ende. In dem Versuch, ihm gerecht zu werden, befragt die Autorin im Text auch ihren Mann Michael Köhlmeier, der Richard gut gekannt hat.
Für neue Mütter von neuen Töchtern
Es sind klassische Annahmen, etwa, dass Mädchen automatisch in der Schule aufräumen oder sich um die Blumen kümmern, die Susanne Mierau neben vielen anderen stereotypen Denkweisen im Sach- und Ratgeberbuch „New Moms for Rebel Girls“ beleuchtet. Anhand vieler Beispiele von Mutter-Tochter-Beziehungen, die bei der Leserin sofort für Wiedererkennen sorgen, nimmt sie in professioneller Weise jene Prägungen unter die Lupe, die zu Denkmustern in Bezug auf die Mädchenerziehung führen.
Ob es ein typisch feministisches Buch ist? Nein! Es ist ein Werk, das uns Mütter daran erinnert, dass wir unsere eigene Vergangenheit reflektieren und ein positives Selbstbild aufbauen dürfen, anstatt uns auf unsere Mängel zu konzentrieren. Und neben den Müttern und Töchtern ist auch den Vätern, Brüdern und Söhnen ein Kapitel gewidmet. Denn während sie den Frauen Feinfühligkeit und Emotionalität zuspricht, erwartet die Gesellschaft noch immer Härte und Durchsetzungsvermögen von den Männern. Beides ist langfristig weder richtig noch gesund. Fazit: ein Buch, das nicht verurteilt und anprangert, sondern auf Vorurteile aufmerksam macht und den Blickwinkel der Leserin wertvoll verändert. Für neue Mütter von neuen Töchtern.
Simone de Beauvoir bleibt unvergessen
Sie hat mich sehr geprägt. Als junge Studentin las ich – meist auf Französisch – so ziemlich alles, was mir von Simone de Beauvoir in die Finger kam. Am meisten fesselten mich ihre Liebesbriefe an Jean-Paul Sartre und an den amerikanischen Schriftsteller Nelson Algren. Dass sich die Philosophin und Ikone des französischen Feminismus über bürgerliche Konventionen und Rollenverteilungen, über Ehe und Mutterschaft hinwegsetzte und stattdessen ein selbstbestimmtes, gleichberechtigtes und unabhängiges Leben führen wollte, faszinierte mich. Ich fragte mich oft, ob der legendäre „Pakt“, den sie mit Sartre einging – eine „offene Beziehung zu führen, ohne Zwang und Gewohnheit, mit der Möglichkeit, auch mit anderen Frauen und Männern Liebschaften einzugehen“, aber sich gegenseitig immer die Nummer eins zu sein und sich alles zu sagen –, sie wirklich frei und glücklich machte. Oder vielleicht sogar weniger frei (in ständiger Sorge, die Nummer eins zu bleiben), als sie eine langjährige Zweierbeziehung oder sogar Ehe gemacht hätte – obwohl man die Ehe heute mit jener anno dazumal, als Frauen ihre Ehemänner um Erlaubnis fragen mussten, wenn sie berufstätig sein wollten, nicht mehr vergleichen kann.
Wie sehr Simone de Beauvoir ihren eigenen Ansprüchen gerecht wurde, kann auch der Literaturwissenschaftler Alois Prinz in seiner aktuellen, 270 Seiten starken Biografie nicht beantworten, weil es darauf vermutlich gar keine Antwort gibt. Prinz erzählt jedoch die Lebensstationen von Simone de Beauvoir frisch und kurzweilig nach, von der Kindheit bis zum Tod 1986. Er lässt auch immer wieder ihre philosophische Arbeit in die Beschreibung mit einfließen und zeigt, dass Leben und Werk der Simone de Beauvoir untrennbar miteinander verwoben sind. Auf jeden Fall macht das Buch Lust, sich wieder einmal in de Beauvoirs Gedanken- und Lebenswelt zu vertiefen und das eigene Weltbild zu hinterfragen.
An der Schwelle zum Alter klopft die Vergangenheit an
Der Autor Bernhard Schlink, bekannt durch seinen Bestseller „Der Vorleser“ aus dem Jahr 1995, erzählt in seinem Buch „Abschiedsfarben“ Geschichten über Abschiede, die bedrücken oder befreien. Es geht um das Gelingen und Scheitern der Liebe, um Vertrauen und Verrat, um bedrohliche und überwältigende Erinnerungen. Die Geschichten zeigen, dass im falschen Leben das richtige und im richtigen das falsche liegen kann. Das Urthema dabei ist die Bewältigung der eigenen Vergangenheit.
In neun Kurzgeschichten sehen sich die ProtagonistInnen aufgefordert, über Versäumnisse und Verfehlungen zu reflektieren. Einmal ist es der Abschied vom Bruder, vom Freund, von einer fernen Geliebten und auch von sich selbst. Ein bestimmtes Ereignis zwingt diese Menschen, sich mit den Fehlern, die sie auf ihrem Lebenskonto angesammelt haben, auseinanderzusetzen.
Einmal muss sich ein Mathematiker dafür rechtfertigen, zu DDR-Zeiten den Fluchtplan seines Mitarbeiters und besten Freundes an die Staatssicherheit verraten zu haben. Aber die Vereitelung der Flucht lenkt das Leben des Freundes in eine überaus glückliche Ehe, die ihm im Westen wohl nie beschieden gewesen wäre. In einer anderen Erzählung begegnet ein Musikwissenschaftler zufällig zwei Menschen, die ihn in seiner Jugend seelisch missbraucht haben. Nun, als gealterter Mann, erfährt er deren Version der Geschichte. Alle Erzählungen handeln von Menschen, die auf der Schwelle zum Alter auf ihr Leben zurückblicken und ein Resümee ziehen. In allen steckt etwas Tragisches. Bernhard Schlink gelingt es aber, die Geschichten in einfacher Sprache zu halten und sie doch ins Philosophische zu vertiefen.
Wissenschaft, liegestuhlkompatibel!
Wollte man einen weiteren Beweis dafür erbringen, dass mit Corona eine neue Zeitrechnung begann, wäre der Bekanntheitsgrad mancher ForscherInnen wohl als Indiz heranzuziehen: War Niki Popper beziehungsweise sein Tätigkeitsfeld „vor Corona“ nur Interessierten ein Begriff, weiß seit Ausbruch der Pandemie der Großteil der ÖsterreicherInnen, was die Aufgaben eines Simulationsforschers sind. Wobei – und das wird in Poppers eben erschienenem Buch „Ich simuliere nur!“ kurzweilig beschrieben – die Aufgaben weit über das Thema Covid hinausreichen. Wie lang wird die Warteschlange bei der Gemeinderatswahl? Welche Auslastung ist auf einer Zugstrecke zu erwarten? Wie ist die Hörsaaleinteilung an einer Uni zu verbessern? Das sind nur ein paar von vielen Beispielen. Und zum Vergnügen lassen sich ja immer noch skurrile Aufgabenstellungen simulieren – etwa, wie sich der Weltuntergang auf dem Mond gestaltet. Gleich ist allen Aufgaben, dass sie sich in mathematische Modelle gießen und somit durchrechnen lassen – und letztlich dabei helfen, die Welt zu verstehen.
Während Niki Popper in den Kapiteln mit ungerader Nummer Modelle und Simulationen aus seiner Sicht beschreibt, erzählt Mitautorin Ursel Nendzig in den Kapiteln mit geraden Nummern „Gossip“ über das Drumherum aus der Sicht einer Außenstehenden. Wobei außenstehend nicht ganz stimmt – vielmehr bekommt man den Eindruck, als schreibe sie aus der Sicht einer guten Bekannten. Und in diesem Zusammenspiel gelingt es, ein recht komplexes Aufgabengebiet auch für Laien zugänglich zu machen, sofern grundsätzlich Interesse am Thema besteht – liegestuhlkompatible Wissenschaft also! Wobei: Im Dauerlärm eines Freibades oder Spielplatzes samt Ablenkung aufgrund spielender Kinder und summender Bienen sowie nicht vorhersehbarer Zerstreuungsmöglichkeiten ist die Lektüre nur bedingt geeignet. Wenngleich das fast schon wieder eine Simulation wäre, die Popper interessieren könnte …
Von fehlender Akzeptanz und starken Frauen
Eins vorweg: Ich liebe Kurzgeschichten. Man kann einsteigen, entspannt lesen, das Buch ohne Reue weglegen und bei nächster Gelegenheit – zum Beispiel – den multikulturellen Lebensberichten von Autorin Menerva Hammad weiter nachspüren. Die perfekte Sommerlektüre für mich!
Die in Alexandria geborene und in Wien aufgewachsene freie Journalistin erzählt neben ihrer eigenen Geschichte als Migrantin in 18 weiteren Kurztexten über Identitätssuche, Freundschaft, Verlust, Gewalt, Religion und Fundamentalismus. Sie hat weltweit Menschen zu deren Leben befragt. So berichtet sie zum Beispiel von einer jungen Frau, die aus einer Zwangsehe entkommen konnte, von einem Buben, der sich im falschen Körper gefangen fühlte, von einer Genitalverstümmlerin, die zur Sexualberaterin wurde, und von vielen weiteren Frauen, deren Stimmen gehört werden wollen.
Die orientalische Tradition des Geschichtenerzählens wird von dieser „Feministin mit Kopftuch“ fortgesetzt.
Ein Roman ohne U, aber mit viel Inhalt
Klare, direkte Sprache – ich mag das sowohl im wirklichen Leben als auch bei SchriftstellerInnen. Judith W. Taschler pflegt solch eine Sprache. So ganz ohne Schnörkel, nüchtern, fast schon trocken sowohl Höhe- als auch Tiefpunkte im Leben von Romanfiguren erzählt zu bekommen, das hat einen ganz besonderen Reiz. Da wird nicht lang gefackelt – da wird einfach dokumentiert. Auch wenn die Geschehnisse teils so schrecklich sind wie im „Roman ohne U“ der im Oberen Mühlviertel aufgewachsenen Autorin. An Schrecklichem mangelt es nämlich nicht im Leben jenes Mannes, der Mitte der 1960er-Jahre zurückkehrt aus russischer Kriegsgefangenschaft und beginnt, auf einer alten Continental-Schreibmaschine mit nicht ganz vollständigem Zeichensatz, seine Erinnerungen an Arbeitslager, Flucht, Entbehrungen, Hoffnungen und eine große Liebe niederzuschreiben. Seine Geschichte trifft auf jene einer Biografin, Mutter von vier Kindern, die Jahrzehnte später den Auftrag erhält, anhand dieser Aufzeichnungen ein Buch zu schreiben, und dabei herausfindet, dass ihr Leben mit jenem des lange Jahre Verschollenen verwoben ist. Dieses schlichte Berichten erzeugt besondere Faszination und eine Sogwirkung, die mich in die Romane von Judith W. Taschler (ihr neuer Roman „Über Carl reden wir morgen“ ist im Frühjahr erschienen) hineinzieht und ganze Nächte in ihre Bücher eintauchen lässt.
Judith W. Taschler nimmt die Lesenden mit durch Zeiten, Ereignisse und zwischenmenschliche Beziehungen. Und dann, wenn man nicht damit rechnet, kommt eine Überraschung um die Ecke.
Die Suche nach Klarheit in einem Dorf voller Poeten
Ein perfektes Buch für den Sommer, vor allem, wenn man – wie die Protagonistin des Romans – das ganz unumgängliche Bedürfnis nach Entschleunigung und verstärkter Achtsamkeit hat. Äußerlich passiert nicht viel, beschrieben wird ein Ort des Stillstandes, der aber umso mehr Platz lässt für wohlige und furchtbare Träume, Erinnerungen und scheinbare Verrücktheiten. Hier herrscht „Einvernehmen darüber, dass Flüstern und Sprechen mit Bäumen, Gräsern und dem Wind keiner weiteren Erklärung bedarf und unbedingt anzuerkennen ist“, wie Andrea Winkler zu Beginn des Buches schreibt. Nach einem schweren Verlust oder vielleicht sogar mehreren Schicksalsschlägen – Details darüber werden ausgespart – zieht sich Martha, die Icherzählerin, in dieses „Dorf der Poeten“ zurück. In dem Haus, das sie vorerst alleine bewohnt, will sie bleiben, bis das Ersparte zur Neige geht, oder aber die Zeit reif ist, weiterzuziehen. Ein Zurückgehen in das alte Leben erscheint dabei nicht als Option. Der mögliche Abschied, das Verweilen und das Nebeneinander von Gestern und Heute verschwimmen ineinander, so wie sich auch alle Zufälle im Roman durchwegs wie logische Fügungen anfühlen. Jede Begegnung – ob auf der Brücke über den Fluss oder gedanklich in Briefen – verstärkt den Eindruck, dass das Dorf der Poeten Menschen anzieht, denen ihre alltägliche Lebenswirklichkeit unerträglich geworden ist. Martha lebt wie „aus der Zeit gefallen“ und sucht innere Klarheit – genauso wie alle anderen im Dorf am Fluss. Im Lauf der 190 Seiten wird deutlich, dass Andrea Winkler keineswegs eine reale Begebenheit schildert, sondern vielmehr lyrisch mit ihren Figuren tanzt.
Auf Winklers Text und die absurd schönen Dialoge muss man sich bewusst einlassen. Doch dann wird das Buch zum köstlichen Leseerlebnis. Eine Empfehlung für LeserInnen, die kunstvolle Sprache mögen und sich gern in fremde Gedankenwelten mitnehmen lassen!
Diese Buchtipps sind in der „Welt der Frauen“ Sommerausgabe erschienen. Erhältlich als Einzelheft in unserem Shop, zum kostenlosen Testabo geht es hier.