Im 20. Jahrhundert erkämpften Frauen sich ihre sexuelle Freiheit. Trotzdem erscheint weibliche Lust bis heute als Mysterium. Wann begehren Frauen und wie? Wie autonom leben sie ihre Sexualität wirklich und wie können sie ihre Lust entdecken?
Romy Häusel* (51) kann sich noch gut an den Sex erinnern, den sie als junge Frau hatte. Welche Erwartungen sie an Geschlechtsverkehr stellte, die aber nichts mit dem zu tun hatten, wie er wirklich war. Sie konzentrierte sich nicht darauf, was ihr Körper ihr signalisierte, sondern vielmehr auf das, was ihr Partner wollte.
„Ich wollte entsprechen und gefallen“, sagt Häusel. Was ihr selbst hätte Lust bereiten können, wusste sie damals noch nicht. „Sie will, was er will“, die sexuelle Selbstbestimmung der Frau sei eine Fata Morgana, Gleichberechtigung im Schlafzimmer ein moderner Mythos. Zu diesen Schlüssen kommt die Psychologin und Sexualtherapeutin Sandra Konrad in ihrem 2018 erschienenen Buch „Das beherrschte Geschlecht“, für das sie mit zahlreichen Frauen über deren sexuelle Erfahrungen gesprochen hat. Ihre Behauptungen sind provokant, aber stimmen sie auch?
Angst vor weiblicher Macht
Weibliche Sexualität wurde im Laufe der Geschichte immer wieder in ein gesellschaftliches Korsett geschnürt, kontrolliert und pathologisiert. „Aus Angst vor zu viel weiblicher sexueller Energie und Macht haben Männer Frauen damals an ihrem Lustempfinden gehindert“, sagt die Sexualtherapeutin Susa Haberfellner. Dann, im Jahre 1968, wurde unter dem Motto „Wer zweimal mit demselben pennt, gehört schon zum Establishment“ die sexuelle Revolution eingeläutet. „Plötzlich gab es den Druck von der anderen Seite, ich war gerade 17 Jahre alt. Wer im Freibad ein Bikinioberteil tragen und die Sexualpartner nicht jederzeit wechseln wollte, galt als altbacken und konservativ“, erinnert sich Haberfellner.
Die sexuelle Bewegung habe zwar mehr Freiheiten gebracht, aber nicht die erwünschte Befreiung. „Eine Norm, egal in welche Richtung, stresst und bringt Frauen und Männer von ihrem eigenen Empfinden weg“, sagt Haberfellner. Heute sollen Frauen Lust haben. Funktioniert das nicht, gelten sie oft als frigide oder sexuell gestört. „In der Sexualmedizin gibt es zahlreiche Diagnosen und Behandlungsmöglichkeiten, die der Lust auf die Sprünge helfen sollen“, sagt Kerstin Pirker vom Frauengesundheitszentrum Graz. Sextoys, Tipps zu Stellungen und Techniken oder die Pille „Pink Viagra“, die den Dopamin- und Serotonin haushalt der Frauen beeinflusst, sollen zu mehr Begierde verhelfen.
Warum eine Frau lustlos ist und ob ihre Sexualität und ihre Fantasien anders funktionieren als die der Männer, werde kaum thematisiert, meint Pirker. „Auch hier in Europa wirken Mechanismen weiter, die Frauen klein und das Patriarchat am Laufen halten.“
Pornos befeuern Sexmythen
Die heutige Gesellschaft ist übersexualisiert, doch hauptsächlich durch männliche Fantasien geprägt. In sozialen Netzwerken, der Werbung, in Filmen und Serien werden immer noch Klischee-Rollenbilder und Stereotype bedient, die Frau erscheint als das schöne Wesen, das mit seinen Reizen lockt, ständig verfügbar ist und sofort Lust hat.
Die Männer dagegen werden als die triebgesteuerten, aber perfekten Liebhaber mit Waschbrettbauch dargestellt. Der Sex zwischen diesen idealisierten Figuren entsteht meist spontan, ist leidenschaftlich, zum Orgasmus kommen Mann und Frau gleichzeitig. „Darüber, was in realen Schlafzimmern geschieht, wird nicht gesprochen. Deshalb halten sich Sexmythen bereits über Generationen. Frauen und Männer glauben, sie erfüllen zu müssen, und performen, ohne auf ihre eigentlichen Bedürfnisse zu achten“, sagt Haberfellner.
„Darüber, was in realen Schlafzimmern geschieht, wird nicht gesprochen. Deshalb halten sich Sexmythen bereits über Generationen. Frauen und Männer glauben, sie erfüllen zu müssen, und performen, ohne auf ihre eigentlichen Bedürfnisse zu achten“
Ein Teufelskreis aus Erwartung, Anpassung, Druck und Lustlosigkeit entsteht. Wie Liebe und Sexualität über einen längeren Zeitraum lustvoll gelebt werden kann, zeigen Filme nicht. „Die sexuelle Norm, die früher etwa die Kirche vermittelt hat, gibt heute die Pornoindustrie vor“, sagt Ingrid Lackner, Leiterin der „Stabsstelle für Prävention gegen Missbrauch und Gewalt“ der Katholischen Kirche Steiermark.
Filme und Serien, in denen sexuelle Gewalt an Frauen und Sexismus verherrlicht werden, erlebten in den letzten Jahren einen Hype, bei Frauen wie Männern. Sexualität werde härter und brutaler dargestellt, die Gesellschaft stumpfe ab, eigene Fantasien würden kaum mehr gelebt. „Die meisten Frauen wissen nicht, was ihnen Lust bereitet, und selbst wenn sie begehren, sind viele verunsichert, haben Angst berührt zu werden, entweder aus Scham, falschen Vorstellungen, schlechten Erfahrungen oder weil sie ihren Körper nicht kennen“, sagt Sexualtherapeutin Haberfellner.
Kennen Sie Ihren Körper?
Wie entdeckt eine Frau denn nun ihre eigenen Vorlieben? Es sei zunächst wichtig, dass die Frau ihren Körper kennenlernt, sagt Haberfellner. Die Vulva, das äußere Geschlechtsorgan, umfasst den Venushügel, die kleinen und die großen Schamlippen, den Scheidenvorhof, den Scheideneingang und die Klitoris. Von dieser äußeren Spitze des weiblichen Lustorgans, auch „Kitzler“ genannt, geht ein schlauchförmiges Schwellkörpergewebe ins Innere des Körpers ab. Ist die Frau erregt, schwillt das Organ an, identisch mit der Erektion des Mannes. „Männliche und weibliche Sexualorgane sind vom Aufbau ähnlich, beim Mann liegen sie im Außen, bei Frauen größtenteils im Körperinneren“, sagt Haberfellner.
Ist eine Frau genügend erregt, werden die Schleimhäute der Scheide feucht, die Genitallippen der Vulva schwellen an und öffnen sich, um den Penis oder den Finger hineingleiten zu lassen, beschreibt Haberfellner. Das dauere bei jeder Frau unterschiedlich lange. „Viele Frauen starten zu früh, weil sie nicht abwarten, bis sie erregt sind, und haben dann oft Schmerzen beim Geschlechtsverkehr.“
Bevor eine Frau erregt wird, muss zuerst Lust entstehen. „Frauen steigen anders als Männer nicht immer spontan in die Erregung ein“, sagt Haberfellner. Spontane Lust empfänden Frauen beispielsweise in der Verliebtheitsphase, wenn viel Dopamin ausgeschüttet wird. In einer späteren Phase der Beziehung nehme das sexuelle Verlangen bei vielen ab, sie verspürten dann Lust nach Sex, wenn sie emotionale und körperliche Nähe suchen. „Eine Frau, die keine Lust hat, ist nicht immer gleich lustlos. Sie sollte sich fragen, warum sie keine Lust hat. Vielleicht macht ihr der Sex, den sie bekommt, einfach keinen Spaß“, sagt Haberfellner.
„Eine Frau, die keine Lust hat, ist nicht immer gleich lustlos.“
Neben psychischen, sozialen und gesellschaftlichen Faktoren wirken viele andere Einflüsse auf die weibliche Sexualität ein. Wie ein überdimensionales Puzzle setzt sie sich aus einzelnen Teilen zusammen, aus Hormonen, Erfahrungen, vergangenen Beziehungen, genetischen Veranlagungen und gesellschaftlichen Prägungen. So ist die Lust jeder Frau einzigartig.
Wo liegen die erogenen Zonen?
Die Sexualmedizinerin Elia Bragagna schreibt in ihrem Buch „Weiblich, sinnlich, lustvoll“, eine Frau solle sich ihren Körper als ein unentdecktes Land vorstellen, bei dessen Erforschung sie sich nur darauf konzentrieren müsse, was ihr Körper fühlt. Welche Berührungen tun an welcher Körperstelle gut? Wo sind ihre erogenen Zonen? Sind es die Brüste, ist es der Nacken oder der Rücken? Welche Fantasien regen sie an? Was braucht sie, damit die Lust kommt? Wichtig sei es, Druck herauszunehmen, sich keine krank machenden Maßstäbe einreden zu lassen und gelegentlich auch absichtlich auf Sex
zu verzichten, um aus langweiligen Ritualen in der Partnerschaft auszusteigen.
„Frauen erleben ihre Lust auch je nach Lebensphasen unterschiedlich, etwa wenn sie Mutter werden, Stress in der Arbeit und keinen freien Kopf haben. Auch Hormone während des Zyklus bestimmen, wann eine Frau Lust hat“, so Susa Haberfellner.
„Frauen erleben ihre Lust je nach Lebensphasen unterschiedlich, etwa wenn sie Mutter werden, Stress in der Arbeit und keinen freien Kopf haben.“
Bei der eigenen Wahrnehmung bleiben
Im Laufe einer langjährigen Beziehung könne es schwierig sein, im Alltag mit dem Partner, der Partnerin immer wieder in Kontakt zu kommen. Frauen und Männer seien grundsätzlich unterschiedlich, der oder die eine habe meistens mehr Lust als der oder die andere. „Wichtig ist es, bei seiner eigenen Wahrnehmung zu bleiben und mit dem Partner über Bedürfnisse zu sprechen. Und Frauen sollten nicht so streng mit sich sein, wenn sie keinen Sex möchten. Das gilt es zu akzeptieren“, sagt Haberfellner.
Lisa Hofer* (26) lebt in einer Partnerschaft. Wissen über erfüllte Sexualität eignete sie sich über das Internet an, sie informierte sich durch Zeitschriften oder bei FreundInnen. Sie hat gelernt, mit ihrem Partner darüber zu sprechen, was ihre und seine Bedürfnisse sind. „Wir sagen uns, was wir gerne
ausprobieren möchten, tun das aber nur, wenn es für beide passt“, sagt Hofer. Lust empfindet sie dann, wenn sie ihrem Partner emotional nahe ist und wenn die Beziehung gut läuft.
Lebenslange sexuelle Entwicklung
Der Mensch sei von Geburt an ein sexuelles Wesen, und die Entwicklung der Sexualität dauere ein Leben lang. „Wenn schon Mädchen den Raum bekommen, zu hüpfen, laut zu sein, ihren Körper zu entdecken und sie selbst zu sein, beeinflusst das ihr späteres Sexualleben. Wer seinen Körper gut wahrnehmen kann, kann ihn auch besser etwa vor Übergriffen schützen“, sagt Haberfellner.
Auch Romy Häusel hat im Laufe ihres Lebens herausgefunden, wie sie eine erfüllte Sexualität leben kann: „Eines Tages habe ich alle meine Glaubenssätze und Vorstellungen von Sex über Bord geworfen und nur darauf gehört, was mein Körper mir sagt.“ Begierde verspürt sie heute dann, wenn sie ihrem Partner emotional nahe ist, ein schönes Gespräch oder Erlebnis mit ihm teilt oder eine Berührung bekommt, die nicht automatisch Sex bedeutet. Und wenn sie keine Lust hat, hat sie auch keinen Sex. „Es hat lange gedauert, aber seit ich mit meinem Partner über meine Bedürfnisse spreche und wir aufhören, uns unter Druck zu setzen, erleben wir unsere Sexualität völlig neu, und es ist wunderschön.“
* Namen von der Redaktion geändert
Glaubenssätze, die die Lust hemmen
Notieren und hinterfragen Sie Ihre Glaubenssätze. Stimmen sie wirklich?
- Ich fühle mich nur dann richtig begehrt, wenn …
- Ich darf keinesfalls zeigen, dass …
- Ich fühle mich nur dann sexy, wenn …
- Ich bekomme immer nur dann Sex, wenn …
- Frauen dürfen beim Sex keinesfalls …
Die bekanntesten Sexmythen
- Die Frau ist zur Befriedigungdes Mannes da.
- Frauen sind beim Sex passiv, der Mann entscheidet und gibt vor.
- Frauen haben weniger Lust als Männer.
- Je häufiger Paare Sex haben, umso besser ist ihre Beziehung.
- Nur wenn Mann und Frau einen Orgasmus haben, ist es guter Sex.
- Ich muss meinen Mann befriedigen, damit er Stress abbauen kann.
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