Andrea Richter, Leiterin der Schulpsychologie der Bildungsdirektion Niederösterreich, steht dem häuslichen Unterricht kritisch gegenüber. Denn Schule trägt wesentlich zur kindlichen Entwicklung bei.
Frau Richter, seit Beginn der Corona-Pandemie gab es deutlich mehr Schulabmeldungen als zuvor. Ein Grund ist sicher generelle Kritik am Bildungssystem, aber vermutlich haben auch die Corona-Maßnahmen an den Schulen dazu beigetragen. Wie stehen Sie zu Privatunterricht?
Aufgrund der Schulgesetze in Österreich steht es Eltern frei ihre Kinder zum häuslichen Unterricht abzumelden und zu Hause zu unterrichten. Allerdings müssen Eltern bedenken, was Kinder für ihre Entwicklung brauchen. Nicht nur die erfolgreiche Vermittlung von Lernstoff ist wichtig, sondern auch der Kontakt mit Gleichaltrigen. Wenn beides ermöglicht werden kann, spricht eigentlich nichts gegen Heimunterricht. Ich muss mich aber auch als Familie fragen, ob es förderlich ist, immer zusammen zu sein. Meine Erfahrung ist, dass Kinder sich gut auf die Maßnahmen im Rahmen der Corona-Pandemie hätten einstellen können, wenn sie nicht ständig durch die Diskussionen unter den Erwachsenen verunsichert worden wären.
Was kann die Schule besser leisten als das eigene Zuhause?
Die Schule ist für die kindliche Entwicklung wichtig. Ein Kind sollte sich irgendwann von der Familie lösen können, seinen Horizont erweitern und auch lernen, mit anderen Erwachsenen und deren Forderungen umzugehen. Schule ist ein Abbild der Gesellschaft. Kinder können hier lernen, ihre soziale Rolle zu finden, sich der Gesellschaft anzupassen und weitere Autoritätspersonen zu akzeptieren. Zudem lernen sie, wie sie Freundschaften entwickeln, mit anderen Kindern verhandeln und wie sie damit umgehen, wenn nicht sie, sondern jemand anderes das Lerntempo bestimmt. Kinder, die zum häuslichen Unterricht abgemeldet wurden, wurden auch aus der Klassengemeinschaft herausgerissen. Fehlen die sozialen Kontakte, verlagern sich diese bei älteren Kindern und Jugendlichen oft ins Internet.
Selbstbestimmtes Lernen ist nicht nur bei Eltern Thema, die ihre Kinder zu Hause unterrichten, sondern auch in der alternativen Montessori- oder Waldorfpädagogik. Ist es gut, Kinder Lerntempo und Lerninhalte selbst bestimmen zu lassen?
Maria Montessori, die Gründerin der Montessoripädagogik, war der Meinung, dass jedem Kind, passend zu dem Entwicklungsschritt, den es gerade macht, viele Inhalte wie möglich angeboten werden sollten, um es zu fordern. Herausforderungen sind enorm wichtig für Kinder, um auch intellektuell mutig sein zu können. Den Ansatz, dass Kinder sich zu einem gewissen Zeitpunkt den Lerninhalt holen, den sie brauchen, sehe ich aber problematisch. Bei manchen Kindern gelingt dies vielleicht, sehr viele bleiben aber bei diesem selbstbestimmten Lernen auf der Strecke. Denn sie widmen sich ständig Lernbereichen, in denen sie ohnehin gut sind und lassen jene hinter sich, in denen sie Misserfolge riskieren würden. Es wäre aber wichtig, an etwas dranzubleiben, worin ich nicht gut bin, auch wenn es anfänglich Misserfolge gibt, denn so entsteht auch Leistungsmotivation. Die Annahme, dass sich ein Kind immer gut fühlen muss und dadurch ständig in Watte gepackt wird, wirkt sich auch auf die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes aus. Auch mit Misserfolgen umzugehen, sich mutig auf schwierige Situationen einzulassen, will gelernt sein.
Haben Sie das Gefühl, dass Kinder heute überbehütet aufwachsen?
Viele Eltern glauben, es sei ihre Verantwortung, dafür zu sorgen, dass sich ihre Kinder immer gut fühlen. Das ist nicht gesund für Kinder. Sie müssen lernen, mit herausfordernden Situationen umzugehen. Wenn Eltern ihren Kindern alle Probleme aus dem Weg räumen, werden sie später im Leben mit Schwierigkeiten nicht umgehen können. Kinder sollten dabei unterstützt werden, Probleme zu meistern. Dann werden sie glücklicher, resistenter und haben nicht so viel Angst, weil sie in der Vergangenheit Konflikte oft selbst bewältigt haben.
Einige Kinder sind ja bereits wieder an die Regelschule zurückgekehrt. Haben Sie bei ihnen schulische Defizite festgestellt?
Manche Kinder, die nach dem Distance-Learning wieder an Schule kamen und leichte Defizite hatten, konnten den Schulstoff innerhalb des Jahres gut aufholen. Problematisch sind jene Kinder, die komplett zu Hause unterrichtet wurden, die Externistenprüfung nicht geschafft haben und nun das Schuljahr wiederholen müssen.
„Kritik ist gut, so entwickelt sich Schule weiter. Aber sie sollte ins System selbst kommen und sich nicht abkapseln.“
Sehen Sie nicht auch Vorteile des Heimunterrichts?
Im Heimunterricht kann mehr auf die Interessen der Kinder eingegangen werden. Es zeigt sich, dass manche Kinder dadurch innerhalb kurzer Zeit sehr weit mit dem Lernstoff kommen. Das gilt vor allem für hochbegabte Kinder. Der Unterricht sollte dennoch nicht einseitig werden, und nicht nur auf das gegenwärtige Interesse des Kindes fokussiert sein.
Was sagen Sie zu der Kritik, dass in der Regelschule nur stur nach Lehrplan gelehrt wird, ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse der Kinder?
Der Lehrplan gibt einen weiten Rahmen vor, welche Themen im Laufe des Jahres bearbeitet werden sollten. Schlecht ist natürlich, wenn nur stur nach Buch gelehrt wird. PädagogInnen steht es aber frei, wie sie die Inhalte aufbereiten. So kann etwa das rechtwinkelige Dreieck (Satz des Pythagoras) anhand von Gleichungen und Formeln errechnet werden, aber etwa auch geometrisch mit Figuren erarbeitet werden. Mathematik ist ja leider ein Angstfach, das beginnt manchmal schon im Rechenunterricht in der Volksschule. Wenn ich etwas nicht kann, und unter Stress gerate, steigt natürlich die Furcht davor, und das verinnerliche ich dann. Kritik ist gut, so entwickelt sich Schule weiter. Aber sie sollte ins System selbst kommen und sich nicht abkapseln.
Meinen Sie damit die Lerngruppen, die es seit der Corona-Pandemie gibt?
Die Eltern steigen aus dem System aus, weil sie unzufrieden sind. Sie wollen eigene Wege gehen. Eine Schule zu gründen ist jedoch nicht einfach. Konzept und Lehrinhalte müssen von der Bildungsdirektion bewilligt werden, damit gewährleistet ist, dass sie den Qualitätskriterien entsprechen. Deshalb weichen manche Eltern auf Lerngruppen aus, in denen dann durchaus bedenkliche Ideologien verbreitet werden. Kinder können sich so aber keine eigene Meinung bilden, weil sie ja nur das Weltbild ihres Elternhauses kennenlernen. Wir wissen, wie gefährlich das ist, auch für die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder. Sie werden abhängig vom Elternhaus und entwickeln das Gefühl, dass sie die Guten sind und in einer Welt voller Feinde leben. Wir müssen aber in dieser Welt bestehen, in der es Grundregeln des Zusammenlebens gibt, ob wir mit allen Regeln einverstanden sind oder nicht.
Gibt es auch Regelschulen, die neue Wege gehen?
Es gibt im Regelschulsystem natürlich bestimmte Grundsätze und Lehrpläne, die eingehalten werden müssen, auch um sicherzustellen, dass die Kinder und Jugendlichen bei einem eventuellen Schulwechsel an der neuen Schule anschlussfähig sind. Es gibt aber auch die Möglichkeit über Schwerpunktsetzungen, Freigegenstände und Projekte, aber auch durch die eingesetzten pädagogischen Konzepten Schule und Unterricht weiterzuentwickeln. So können etwa soziales Lernen, Kommunikation und Konfliktlösung als eigener Unterrichtsgegenstand oder integriert im Unterricht angeboten werden. Viele Schulen sind bereits sehr engagiert, nicht nur den Erwerb von Wissen, sondern auch das soziale Miteinander im Auge zu haben.