Schirin Bogner: „Es geht mir gut!“

Schirin Bogner: „Es geht mir gut!“
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  • Veröffentlicht: 10.11.2021
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Schirin Bogner ist seit ihrer Geburt HIV-positiv. Aufgewachsen ist sie im selben Ort wie die Autorin Cornelia Groiss, in Aschach an der Donau, Oberösterreich. Ein Gespräch über Ausgrenzung, Lebensziele und den Kampf gegen das Alleinsein.

Schirin, ich muss gestehen, dass deine Geschichte für mich immer wie ein Mythos war. Ich weiß, wo du gewohnt hast, so wie das jeder im Ort wusste: In diesem bestimmten Haus an der Donau, am Ende von Aschach. Aber ich habe dich nie gesehen. Wie konnte das sein?
Schirin Bogner: Ich bin in Aschach nur bis zur dritten Klasse in die Volksschule gegangen. Im letzten Volksschuljahr war ich immer wieder krank und daher oft nicht da.

Wo warst du, wenn du „nicht da“ warst?
Ich bin als Kind alle drei Monate nach Düsseldorf gefahren, weil es dort eine Kinder-Aids-Station gegeben hat. Dort war ich in Behandlung.

Wie lange hast du dann in unserem Heimatort gelebt?
Bis ich 19 war. Im Oktober 2005 bin ich ausgezogen.

Hattest du Freunde oder Freundinnen in Aschach?
Freundschaften zu knüpfen war schwierig, weil ich nicht regelmäßig in die Schule gehen konnte. Ein Bub aus meiner Nachbarschaft hat mich immer wieder einmal besucht. Er war der Einzige. Aber als er in die Hauptschule gekommen ist, hat sich auch das verlaufen.

Das Unbekannte macht oft Angst. Glaubst du, dass die Leute Angst vor dir hatten?
Manche haben sich sicher vor mir ge- fürchtet. Man wusste ja zu der Zeit so wenig über Aids und HIV. Teilweise hatten sie auch Angst, dass ich andere Kinder anstecken könnte. Was ich heute irgendwie verstehen kann.

Soweit ich die Geschichte kenne, war dein versuchter Kindergarteneintritt Ende der 1980er-Jahre ein richtiges Politikum im Ort. Was ist damals passiert?
Die Eltern der anderen Kinder haben abgestimmt, ob ich in den Kindergarten gehen darf oder nicht. 80 Prozent waren gegen mich. Daraufhin hat mich meine Oma von den Leuten im Ort ferngehalten. Sie war beleidigt auf die Aschacher – und nachtragend ohne Ende. 

Umgekehrt waren auch die meisten Aschacher nicht gut auf deine Oma zu sprechen. Ich glaube, viele waren irritiert, weil auf einmal Fernsehteams im Ort unterwegs waren. Wie viel hast du von dem Zwist mitbekommen?
Manche Leute auf der Straße haben mich blöd angeredet.

Was haben sie gesagt?
Sie haben gesagt, dass mich meine Oma an die Medien verkauft und den Ort öffentlich verunglimpft. Was rückblickend nicht ganz falsch ist. Aber es gibt auch eine andere Seite der Geschichte. In gewisser Weise war das, was meine Oma gemacht hat, aufklärerisch. Es hat dazu geführt, dass HIV für die Menschen ein Gesicht bekommt, das ihnen naherückt. Ich war eben kein schwuler Mann, kein Drogen- abhängiger, sondern ein kleines Kind.

Und dennoch verstehst du die Kritik an deiner Oma?
Definitiv. Es ist schon fragwürdig, was ihre eigentliche Motivation war. Meine Oma hat nichts ohne Geld gemacht; keinen Fernsehauftritt, kein Zeitungsinterview ohne Bezahlung. Außerdem wollte sie aus Trotz unbedingt in Aschach bleiben und hat mich dabei total isoliert.

Wie hätten die Menschen im Ort – wir – deiner Meinung nach reagieren sollen?
Jemand hätte das Rückgrat haben sollen, sich gegen meine Oma zu stellen und Kontakt zu mir aufzubauen. Aber alle haben sich nur zurückgezogen, nachdem sie ihre „Tiraden geschossen“ hat. 

Schirin Bogner im Interview über Aids

Das Aids-Kind

Schirin Bogner ist 1985 in Oberösterreich geboren. Bei der Geburt wurde sie von ihrer Mutter – die erst später erfuhr, dass sie HIV-positiv war – infiziert. Beide Eltern von Schirin Bogner waren drogenabhängig und sind früh an Aids gestorben. Daher wuchs sie bei ihrer Großmutter auf. Ihre Oma ist vor wenigen Jahren an einer Alzheimer-Erkrankung gestorben. Heute lebt Schirin Bogner in einem Dorf nahe Wiesbaden. Sie arbeitet als Hundesitterin und engagiert sich ehrenamtlich in der HIV-Prävention.

Hast du dich einsam gefühlt oder war die Isolation für dich einfach normal?
Ja, ich habe mich einsam gefühlt. Absolut. Vor allem, wenn die anderen Kinder in den Skiurlaub gefahren sind oder Sport-unterricht hatten. Da habe ich nie mitmachen dürfen. Das war für mich immer ein wunder Punkt. Auch in der Pubertät; da hatte ich das Gefühl, ich muss zahlen, damit ich Freunde habe.

Wie meinst du das?
Meine Oma hat zum Beispiel für mich Gitarrenunterricht gezahlt, damit ich Freunde finde. Das war mein einziger Kontakt zur Außenwelt. Sie hätte mich nie in eine Disco gehen lassen. Genauso hat sie mich als Kind in Spielecken in Kaufhäusern gebracht, um mir den Kindergarten zu ersetzen.

Wie ist es dir in diesen Spielecken ergangen?
Ich habe zwar Kontakt zu Kindern gehabt, aber das waren für mich immer nur fremde Kinder. Das hat meine Oma nicht begriffen. Das trage ich auch heute noch mit mir herum; diese Suche nach tatsächlichen Freunden.

Und wie geht es dir heute mit Menschen, denen du begegnest?
Ich habe nicht die Fähigkeit, Small Talk zu führen. Wenn du, so wie ich, nicht regelmäßig in eine Schulklasse gegangen bist, dann lernst du das nicht. Ich habe auf eine ganz andere Art und Weise zu kommunizieren gelernt. Da ich so viel Zeit in Krankenhäusern verbracht habe, hatte ich hauptsächlich Kontakt zu Krankenpflegern und Ärzten. Oder auch zu Reportern, wegen unserer vielen Fernsehauftritte. Die Gespräche hatten immer entweder mit meiner Krankheit oder mit meinem Leben an sich zu tun. Nie ging es um andere Dinge, um ein Hobby etwa.

Wie weit war da Deutschland für dich ein Zufluchtsort?
Das war der einzige Ort, wo ich Leute gekannt habe. Ich habe im Internet Rollenspiele gespielt, bei denen ich nebenbei mit anderen geschrieben habe. So habe ich Freunde gefunden. Die kamen zufälligerweise immer aus Deutschland.

Du warst ja auch in Deutschland in Behandlung und hast am eigenen Leib quasi die ganze Entwicklung der HIV-Medizin mitgemacht.
Ja, das kann man so sagen.

Was waren die größten Meilensteine und Rückschläge über all die Jahre?
Der größte Meilenstein war die Kombinationstherapie, die 1995 auf den Markt kam. Damit konnte man endlich mehrere Angriffspunkte des Virus in einem Medikament vereinen. Vorher gab es für alles jeweils nur ein Medikament – und das mit wahnsinnigen Nebenwirkungen.

Und die Rückschläge?
Es sind in der Entwicklung auch ein Haufen Fehler passiert, klar. Viele der Medikamente waren nicht langzeitgetestet. Das ist auch der Grund, warum ich so ausschaue, wie ich ausschaue. (Sie deutet auf ihre Wangen, Anmerkung) Das war eine Nebenwirkung der Medikamente, eine Fettumverteilungsstörung. Das ist irreversibel.

Was war für dich die schlimmste Nebenwirkung?
Die Fettumverteilungsstörung ist zumindest das, was man von außen am meisten sieht; mit der muss ich heute noch klarkommen.

Wie hat sich die Krankheit sonst noch langfristig auf deinen Körper ausgewirkt? Kannst du Sport treiben?
Mittlerweile ja. Das war natürlich nicht immer so. Es hing davon ab, wie es mir gesundheitlich gerade ging. Aber ich bin ein sportlicher Mensch und habe immer Spaß am Sport gehabt. Jetzt geht es mir sehr gut, fast wie jedem anderen Menschen. Ich bin seit zehn Jahren nicht mehr ansteckend für andere.

Nimmst du dich eigentlich als Kämpferin wahr?
Was meine Krankheit angeht, habe ich auf jeden Fall viel ertragen. Ich habe ein Medikament bekommen, das ich in den Bauch injizieren musste, daher hatte ich ständig eine entzündete Bauchdecke. Das hat schon mit Kampf zu tun. Und außerdem musste ich auch rausgehen an die Öffentlichkeit und mich immer wieder outen. Wobei mir das auch ein persönliches Anliegen ist: Ich möchte, dass die Menschen es normaler finden, dass es jemanden in ihrer Umgebung gibt, der HIV-positiv ist.

Du wirkst so ruhig und reflektiert, wenn du deine Geschichte erzählst. Wie schaffst du das?
Ich glaube, es ist ein bisschen Glück dabei, und vielleicht habe ich das, was man als Resilienz bezeichnet. Ich war in meinem Leben erst zweimal beim Psychologen, und das nur für kurze Zeit. Jeder und jede hat andere Strategien, um mit den Dingen umzugehen. Der eine wird drogenabhängig, die andere wird depressiv …

… und du bist einfach optimistisch?
Ich schaue mir immer verschiedene Perspektiven an. Und dann irgendwann – das ist dann wie eine Eingebung – sehe ich von Problemen auch die andere Seite.

Gibt es etwas, das dir hilft, zur Ruhe zu kommen?
Mein Ausgleich sind die Tiere. Ich habe mit zehn Jahren meinen ersten Hund bekommen. Seither habe ich immer Hunde gehabt. Und jetzt habe ich außerdem noch Schafe, Hühner und Katzen.

Könntest du dir vorstellen, irgendwann nach Aschach zurückzukehren?
Ich war eine Zeit lang oft dort, wenn ich in Österreich war. Aber nach dem Tod meiner Oma habe ich damit aufgehört. Ich habe nichts in Aschach, und ich kenne dort keinen. Außer deiner Oma. Die würde ich gerne einmal wiedersehen.

Meine Oma? Die war zu deiner Zeit Volksschuldirektorin …
Und sie war auch eine der ganz wenigen, die sich für mich eingesetzt haben. Als ich in die Volksschule kommen sollte, hat sie gesagt: „Dieses Kind geht in die Schule. Genau wie jedes andere.“ Das rechne ich ihr hoch an.

Darf ich dich noch fragen, wie deine persönlichen Zukunftspläne aussehen?
In naher Zukunft will ich auf jeden Fall in Deutschland bleiben. Dort habe ich mir so vieles aufgebaut, was ich nicht aufgeben möchte. Ich habe jetzt einen Freundeskreis, und der ist mir viel Wert.

Und beruflich?
Eine Vollzeitanstellung ist für mich nicht denkbar, weil das körperlich auf Dauer zu anstrengend wäre. Daher bekomme ich Unterstützung vom Staat. Ich habe eine Hundetrainerausbildung gemacht und möchte ab nächstem Jahr Hundetraining anbieten. Außerdem möchte ich Soziale Arbeit studieren. Wenn ich nicht krank gewesen wäre, hätte ich schon früher studiert.

Zum Hintergrund

Cornelia Groiss arbeitet hauptberuflich für eine Fernsehsendung, wodurch sie mit vielen Personen in Kontakt kommt. Eine davon war Schirin Bogner. Aus Erzählungen kennt Cornelia Groiss das „Mädchen am Ende von Aschach“ seit ihrer Kindheit. Nun hat sie die Gelegenheit genutzt, ein längeres Gespräch mit Schirin Bogner zu führen.

Welt der Frauen April 2020Das Interview ist in der „Welt der Frauen“-Ausgabe April 2020 erschienen. HIER können Sie sich das Einzelheft bequem nachbestellen.