Wer fürchtet, dass alles Vertraute schwankt und untergeht, sollte seinen Halt nicht in fixen Regeln suchen. Das Herz hat einen anderen Vorschlag.
Auf einen Augenblick: Was kann bleiben?
Liebe Traditionalistinnen, liebe Traditionalisten, ihr müsst jetzt ganz stark sein: Nichts bleibt, wie es ist. Aus Raupen werden Schmetterlinge. Dinosaurier sind ausgestorben. Frauen gehen wählen. „Dass“ schreibt man jetzt mit Doppel-s (manchmal aber auch nicht). Lametta ist aus der Mode. Die Sklaverei ist abgeschafft. Twix gibt es jetzt auch in Weiß. Die Erde ist doch keine Scheibe. Latein ist untergegangen. Dafür spricht man jetzt mehr Englisch. Die Hölle ist nur noch ein Angebot unter vielen. Sterne, die wir am Himmel sehen, existieren schon lang nicht mehr. Rosinen waren Weintrauben. Selbst die Kartoffel ist eine Einwanderin. Die Liebe geht ständig neue Wege.
Ihr dagegen wollt alte Wege in Schuss halten, die niemand mehr geht. Habt keine Angst:
Wir wollen auch nicht alles über Bord werfen. Manches wird bleiben, und wisst ihr, warum?
Weil immer noch Sehnsucht drinsteckt. Weil es einen Sog ausübt. Und nicht Druck. Wenn ihr das Unbekannte fürchtet, nehmen wir euch gern an die Hand. Denn dass Gott ein Traditionalist ist, glauben wir nicht. Jesus hat nicht nur die Tische im Tempel umgeworfen. Seine Wunder halten sich nicht an Regeln. Regeln sind für den Menschen da. Nicht umgekehrt. Manche Regeln verändern sich. Kartoffeln darf man jetzt auch mit dem Messer schneiden, weil Messer nicht mehr aus Silber sind.
In der Regel ist alles erlaubt, wo Liebe drin ist, das sagt sogar die Bibel.
Die Liebe trägt viele Kleider, und manchmal ist sie verstörend, weil sie daherkommt wie ein Hippie. Je mehr Liebe es gibt, desto weniger Regeln brauchen wir. Habt keine Angst: Die Liebe ist langmütig und freundlich. Sie trägt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles. Wer das kann, muss stark sein. Die Liebe ist stark, sie ist stärker als alles. Die Liebe ist die Größte, größer als Glaube und Hoffnung.
Deshalb gilt eine einfache Regel: Bringt mehr Liebe in die Welt. Alles andere ist Geschmackssache.
„Liebe und tu, was du willst“, sagte Augustin, das ist auch schon 1.500 Jahre her, gilt aber immer noch. Wahrscheinlich hat er das von Jesus. Der sagte nämlich auch, dass das höchste Gebot die Liebe sei. Nicht die Tradition. Liebe baut keine Mauern. Liebe schließt keinen aus. Liebe weiht nicht einige wenige. Liebe verschwendet sich. Liebe ist anstrengend und ungeordnet, Liebe fordert jeden Tag aufs Neue heraus.
Aber stellt euch vor, unser Herz würde brennen, warm und hell. Und Menschen würden kommen, sich daran zu wärmen. Liebe Traditionalistinnen und Traditionalisten, ihr habt recht. Manches soll bleiben: Alles, was aus Liebe geschieht.
So geht’s:
„Das wichtigste Gebot ist: Liebe Gott mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele, mit deinem ganzen Willen, mit deiner ganzen Kraft. Und liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst.“ Jesus in Markus 12,29–31
Erschienen in „Welt der Frauen“ 07-08/2019