Quo vadis, Musikindustrie?

Quo vadis, Musikindustrie?
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  • Veröffentlicht: 28.06.2023
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Für Till Lindemann gilt die Unschuldsvermutung. So lange, bis ein Gericht rechtskräftig das Gegenteil feststellt. Doch bedeutet das auch, dass ihn – und die gesamte Musikbranche – keine Verantwortung trifft? Eine Analyse

Sie alle standen bereits in der Kritik: Michael Jackson, der King of Pop, der sich wie auch in der Dokumentation „Leaving Neverland“ von zwei betroffenen Männern dargelegt, an Minderjährigen vergangen haben soll. Anthony Kiedis, Frontmann der „Red Hot Chili Peppers“, ein, nachdem er einem Fan sein Geschlechtsteil ins Gesicht gedrückt hatte, bereits 1989 verurteilter Sexualstraftäter, der Sex mit einer Minderjährigen besingt. Und nicht zu vergessen R. Kelly, der Popsänger, der zweifach unter anderem aufgrund sexueller Ausbeutung Minderjähriger sowie der Erstellung von Kinderpornografie verurteilt wurde. „Sex, Drugs and Rock’n’Roll“ scheint ein Regelwerk zu sein, das sich über gesetzliche und gesellschaftliche Normen hinwegsetzen darf.

Es beginnt im Text

Teil der Problematik sind aber nicht nur die tatsächlichen, durch Gerichtsurteile belegten Taten. Es beginnt schon viel früher – mit Worten. Quer durch die Musikgenres, meist ohne jede Konsequenz und unter Berufung auf die Freiheit der Kunst, finden sich Unmengen an Songtexten, die mehr als bedenklichen Männerfantasien frönen. Neben dem Geschlechtsverkehr mit Minderjährigen stehen zutiefst sexualisierende, abwertende und explizit gewaltverherrlichende Zeilen in Bezug auf Frauen im Mittelpunkt vieler Lieder. Wenngleich das Recht auf freie Meinungsäußerung sowie künstlerische Freiheit untrennbarer Teil einer Demokratie sind, müssen wir als Gesellschaft hinterfragen, wie weit wir derartigen Werken tatsächlich eine Plattform bieten wollen. 

Auch die deutschsprachige Musikszene stellt in dieser Hinsicht keine Ausnahme dar. Besonders dafür bekannt ist die Rap-Szene. Beispiele bieten Farid Bang und Kollegah („Die Bitches heute wollen Jungfrau bleiben, zwei Optionen: Arsch oder Mund auf, Kleines.“), Gzuz („Bring die Alte mit, sie wird im Backstage zerfetzt, ganz normal, danach landet das Sextape im Netz.“) oder Fler („Du bist ’ne Fotze, die schon nach zwei Bier auf der Theke tanzt. Also laber uns nicht zu mit deinem Mädelskram. Eine Frau bleibt auf Ewigkeit ein Gegenstand.“).

Doch die deutschen Rapper sind nicht allein. Schnell gerät die Band Rammstein in den Fokus. Diese hat mit ihrem Frontmann Till Lindemann im Laufe der Jahre verlässlich mit fatalen Textergüssen, provokativen Videos und Bühnenshows auf sich aufmerksam gemacht. Neben Songtiteln wie „Ich tu dir weh“ oder „Weißes Fleisch“ übertrifft das von Lindemann im Jahr 2020 in einem Lyrikband veröffentlichte Gedicht „Wenn du schläfst“ alles bisher Dagewesene. 

Ist es nur Show?

Es sind Textzeilen wie diese, die, angesichts der aktuellen Vorwürfe gegen Lindemann in einem neuen Licht betrachtet werden müssen. Zur Erinnerung: Beginnend mit den Anschuldigungen der Nordirin Shelby Lynn nach einem Konzert in Vilnius (Anmerkung: In Litauen wird es laut der Staatsanwaltschaft keine Ermittlungen geben), tauchten in den vergangenen Wochen einige Vorwürfe auf, die allesamt ein ähnliches Bild zeichnen. Den Aussagen mehrerer Frauen zufolge sollen gezielt insbesondere junge, hübsche Mädchen für die „Row Zero“, einen Bereich direkt vor der Bühne, sowie für die After-Show-Partys für Lindemann rekrutiert worden sein. Auch von der Verabreichung von Drogen ist die Rede. Es gilt zu fragen: Sind die Texte von Lindemann tatsächlich – wie so oft bereits argumentiert wurde – als Kunstform zu verstehen oder formulieren sie doch tatsächlich eine Straftat? 

Foto von Shelley Lynn
Foto: Instagram / Shelby Lynn
Foto von Kayla Shyx
Screenshot: Youtube / Kayla Shyx

Konsequenzen fielen wenig drastisch aus

Betrachtet man die bisherigen Konsequenzen für die Band, so fielen diese bis jetzt eher gering aus: Der Verlag Kiepenheuer & Witsch, der das besagte Gedicht 2020 noch trotz mehrfacher Proteste verteidigte, hat sich von dem Schock-Rocker getrennt. Die Plattenfirma der Band, Universal Music Entertainment, gab bekannt, Marketing- und Promotionsaktivitäten bis auf Weiteres auszusetzen. Außerdem ermittelt die Staatsanwaltschaft Berlin gegen den 60-Jährigen. Aber: Die Konzerttournee der Band geht, wenn auch ohne „Row Zero“, weiter. Lindemann und Co. lassen sich in ganz Europa von abertausenden Fans feiern.

Foto von Till Lindemann
Bild: Shutterstock

Von der Musikgruppe selbst hat sich lediglich ein Mitglied, Schlagzeuger Christoph Schneider, in den sozialen Medien geäußert und einen vermeintlichen Versuch der Distanzierung gestartet. Er sei „tief erschüttert“, glaube aber, dass „nichts strafrechtlich Relevantes“ oder „Verbotenes“ vorgefallen sei. Lindemann habe sich allerdings in den vergangenen Jahren von der Band entfernt. Seine eigens veranstalteten Feierlichkeiten nach den Shows seien nicht mit den offiziellen der Band zu verwechseln. Alles, was er von ersteren mitbekommen habe, seien „erwachsene Menschen, die miteinander gefeiert haben“.

Schneider lässt in dem Instagram-Posting allerdings nichts unversucht, die Aussagen der Frauen als pure Empfindungen sowie als unterschiedlichen Wahrnehmungen geschuldet zu relativieren: „Ich glaube Till, wenn er uns sagt, dass er seinen privaten Gästen stets eine schöne Zeit bereiten wollte und will. Wie diese Gäste sich das genau vorgestellt hatten, unterscheidet sich jedoch anscheinend in einigen Fällen von seinen Vorstellungen. Die Wünsche und Erwartungen der Frauen, die sich jetzt gemeldet haben, wurden wohl nicht erfüllt. Sie haben sich laut ihren Aussagen unwohl gefühlt, am Rande einer für sie nicht mehr kontrollierbaren Situation. Das tut mir leid für sie und ich spüre Mitgefühl.“

Zu Recht wurde er kurz darauf von der österreichischen Content-Creatorin Madeleine Darya Alizadeh, besser bekannt als „Dariadaria“, kritisiert und darauf hingewiesen, sich der Sprache des sogenannten Gaslightings zu bedienen. Es handelt sich dabei um eine Form der psychischen Gewalt, bei der man versucht, andere Menschen gezielt durch Lügen, Leugnen oder Einschüchterung zu verunsichern.

Eine schiefe Optik erhielt die Stellungnahme spätestens, als Schneider kurz darauf ein Bild mit den Worten „Wir stehen zusammen! We stand together! #Rammstein“ teilte. Eine glaubhafte Distanzierung sieht anders aus.

Braucht es immer erst ein Urteil?

Was sich auch gezeigt hat: Von der vielzitierten und gefürchteten „Cancel Culture“, also dem Versuch der Öffentlichkeit, vermeintliches Fehlverhalten mittels des Aufrufes zum Boykott zu ächten, kann in diesem Fall keine Rede sein. Lindemann und seine Bandkollegen erhalten nach wie vor wortwörtlich eine Bühne.

Während sich einige Fans zwar von der Band entfernt haben, argumentiert eine Vielzahl genauso, wie es bereits leidiger Alltag ist, wenn es um Vergewaltigungsvorwürfe geht. Regelmäßig fallen Sätze, die der klassischen Täter-Opfer-Umkehr entstammen: „Die Frauen hätten doch wissen müssen, was geschieht, wenn sie zu einer After-Show-Party gehen“, „So ist das auf diesen Partys“, „Hätten sie doch nicht so einen kurzen Rock getragen, nicht so sehr zur Musik getanzt, keinen Alkohol getrunken, ihr Glas besser beobachtet …“ Ein bekannter Musikmanager zweifelte überdies an, ob ein 60-Jähriger bei derart kraftaufwendigen Konzerten überhaupt noch in der Lage sei, Frauen zu „beglücken“. Abgesehen von der mehr als grenzwertigen Wortwahl wird hier deutlich, welch enorme Anstrengungen im öffentlichen Diskurs unternommen werden, um Lindemanns Verhalten zu entschuldigen, zu verharmlosen oder gar abzustreiten. 

Als Sahnehäubchen wird dann noch die Unschuldsvermutung ins Feld geführt: Solange es kein Urteil gebe, sei der Star ohnehin als unschuldig zu behandeln. Rein juristisch gesehen ist das korrekt. Till Lindemann ist unschuldig, bis ein Gericht das Gegenteil feststellt. Aus gutem Grund muss hierzulande niemand strafrechtliche Konsequenzen fürchten, ohne dass ein rechtskräftiges Urteil vorliegt. Aber ist es deshalb in Ordnung?

Eine Frage der Moral

Gibt es nicht noch eine Instanz, weit vor der Rechtsprechung, die uns sagt, wenn ein Verhalten falsch ist oder ein Liedtext, ein Video oder ein Auftritt trotz aller künstlerischer Freiheit jegliche Grenzen sprengt? Die Rede ist von unseren sozialen Werten, unserer Moral: gewaltfreie Konfliktlösung, gegenseitiger Respekt, Rücksichtnahme oder natürlich, niemanden, ohne Zustimmung unangebracht anzufassen. Dazu gehört auch, Verantwortung für getätigte Aussagen und das eigene Verhalten zu tragen und sich seiner Vorbildwirkung bewusst zu sein. Insbesondere dann, wenn man in der Öffentlichkeit steht.

Davon ist auch Till Lindemann, ebenso wie der Rest der Musikbranche, nicht ausgenommen. Denn mit der Macht, die diese Persönlichkeiten ohne Zweifel innehaben, geht Verantwortung einher. Dieser hat man sich in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder entzogen. Etwa, indem man fragwürdige Textpassagen oder Darstellungen mit der Kunstfreiheit verteidigte und veröffentlichte, ohne sie betreffend ihrer Außenwirkung und Bedeutung kritisch zu hinterfragen.

Bild von Protesten
Foto: KEYSTONE/Anthony Anex

Fest steht: Es muss ein Ende nehmen, dass finanzielle Interessen vor jeglicher Moral Vorrang haben. Was die Band Rammstein betrifft, so wäre das Aussetzen der Tour ein ernstzunehmendes Signal gewesen, anstatt sich weiter von den Fans bejubeln zu lassen, als sei nichts geschehen. Die Vorwürfe ernst zu nehmen, anstatt betroffene Frauen mit Anwälten unter Druck zu setzen, hätte ein anderes Licht auf die Gruppe geworfen. Betroffene Frauen stehen ohnehin in der Kritik der Öffentlichkeit, werden schubladisiert und brauchen Überwindung, um überhaupt sichtbar zu werden.

Wohin geht der Weg?

So wie sich die Werte der Menschheit global weiterentwickeln, hat auch die Musikindustrie ihre Geschichte und ihre Attitüde zu hinterfragen. Es ist augenscheinlich: So lange KonzertveranstalterInnen, sexistisch agierenden KünstlerInnen eine Bühne bieten und konsequenzlos menschenverachtende Haltungen unterstützen, bleibt alles beim Alten. Der Moment, sich mit der Vergangenheit und sämtlichen Missständen auseinanderzusetzen und in neue Zeiten aufzubrechen, wäre nun aber endgültig gekommen.

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