Von La Verna nach Assisi: Begleiten Sie Chefredakteurin Sabine Kronberger beim Pilgern am Franziskusweg. Tag 4.
Die Magie eines Ortes, die Magie guter Worte.
Mein Tag begann früh, denn es musste neben dem Vertreiben meines inneren Morgenmuffels auch noch mein rechtes Knie betreut werden. Mit Voltaren ging ich ins Bett, mit selbigem Zaubermittel und einem Kniestrumpf startete ich in den Tag. Meine Angst, dass ich heute aufgrund der Schmerzen nicht mitgehen könne, war sehr präsent.
Beim Frühstück angekommen, gabs die (für mich) frohe Botschaft: Der Regen hatte die ganze Nacht nicht aufgehört und auch am Morgen setzte er immer wieder heftig ein, weshalb der Waldweg zum heutigen Pilgerziel aufgrund unpassierbaren Matsches nicht durchwandert werden konnte.
Pilgerbegleiterin Christa hatte deshalb einen Bus bestellt, der uns zu einem Ausgangspunkt brachte, von wo es nur eineinhalb Stunden bergaufwärts auf einem weniger romantischen, weil asphaltierten, kurvenreichen Weg zur Einsiedelei Eremo Montecasale auf 700 Metern hinaufging. Ich hatte fest vor, diesen Marsch mitzumachen, obwohl das Knie bestimmt noch nicht einverstanden war.
Was, wenn ich heute marschiere und dafür am intensiven Folgetag die 23 Kilometer nicht schaffen kann? Was könnten die Mitpilgerinnen denken, wenn ich heute einfach aussetze? Schon seltsam, worüber man nachdenkt, wenngleich der Körper eigentlich eine deutliche Sprache spricht. Ich nahm mir vor, die Zähne zusammenzubeißen …
Doch beim Verlassen des Hotels, als ich neben Christa herging, lächelt sie mir zu: „So ein Pausentag ist keine Schande, lieber heute die kurze Route aussetzen und morgen wieder dabei sein!“ Im Bus schließlich die Botschaft: Er könnte uns (mittlerweile gab es auch eine weitere Pilgerin mit einem überlasteten Knie) hochbringen, dort könnten wir auf die anderen warten und dann die Besichtigung mit ihnen gemeinsam vornehmen. Wir stimmten zu und bekräftigten uns mit vernünftigen Sätzen wie „Ist bestimmt besser so“, „Sicher ist sicher“ …
Und doch war es seltsam, als die MitpilgerInnen voll bepackt ausstiegen, sich ihre eben erst frisch getrockneten Regenponchos überwarfen und wir mit dem Bus davonfuhren. Wie eine Schwindlerin fühlte ich mich. Als würde ich die nicht vorhandenen Regeln brechen. Und gleichzeitig war ich wütend auf mich, weil mein Körper nicht das tat, was ich vorgesehen hatte. Ein Satz, den ich in einem Pilgerbuch gelesen hatte, schoss mir durch den Kopf: „Du wirst am Weg erkennen, wie weit du gehen kannst.“ Ich beschloss, mit meiner Knie-Kollegin das Beste daraus zu machen und nahm mir vor, so viele schöne Bilder wie möglich für das Pilgertagebuch bei „Welt der Frauen“ zu schießen.
Wie eine malerische Filmkulisse tauchte die Einsiedelei Eremo Montecasale, vormals eine Burg, auf dem Berg vor uns auf. Nebelschwaden, die einem Hollywoodfilm entspringen hätten können, umzogen das steinerne Gebäude, das in den Hügel hineingebaut schlichtweg malerisch vor uns lag. Von Ausblick zwar keine Rede, aber die fast orange flackernden Laternen vor dem steinernen Bau hielten damit unsere Blicke bei sich. Vor dem Eingang: Eine fast übermenschlich wirkende Statue des heiligen Franziskus, der auf das kleine Kloster blickt und scheinbar schützend seine Hände darüber hält.
Tatsächlich war Franziskus hier zu Lebzeiten Gast. Kein Wunder, dass in der mystischen, nebeligen Stimmung dieses zutiefst franziskanisch wirkenden Ortes, ein Gefühl der Anziehung herrscht. Drei Kapuzinerbrüder bewohnen bis heute diesen Platz oberhalb der Stadt Sansepolcro (jener Stadt, in der die italienische, sozial engagierte Familie Buittoni ihr Nudelimperium aufbaute, ehe Nestle es ihnen abkaufte).
Meine liebe Pilgerkollegin und ich starteten damit, einige Bilder mit der Franziskusstatue zu machen, ehe wir uns an die unscheinbar wirkende Tür heranwagten. So ruhig war es hier am Berg, so morgendlich rein wirkte die Natur um uns. Sachte öffneten wir die knarrende, alte Tür und blickten erstmals in einen kirchlich anmuteten Raum zu dem einige Treppen hinunterführten. Ob wir uns hineinwagen konnten? Einfach so? Vorsichtig, langsam und bedächtig schlichen wir hinein, als ob wir etwas Verbotenes tun würden.
Ein kleiner Raum öffnete sich zu unserer Linken. Dort brannte Licht, dort wollte ich hineinsehen. Kleine Ablagen präsentierten kirchliche Bücher, christliche Postkarten und kleine Souvenirs. In einer kleinen Mulde lagen auch die Tau-Kreuze, jene hölzernen Anhänger, die in der Form des Buchtaben „T“ den letzten Buchstaben des hebräischen Alphabets bilden. Es gilt als Zeichen der Rettung, der Erlösung, als Symbol eines neuen christlichen Lebens. Bei Papst Innozenz III. hatte Franziskus dieses Kreuz entdeckt, nahm es als Idee auf und sah darin ein Heilszeichen. Sein Lieblingszeichen. Kein Wunder also, dass es als Friedenskreuz und Pilgerkreuz gilt.
Ich beschloss, meinen Erstkommunionkindern, die ich heuer mit meiner Freundin als Tischmutter begleiten darf, solche Kreuze mitzunehmen, als ein älterer Herr auf mich zukam und in italienischer Sprache etwas zu fragen schien. „Per Bambini“ – für die Kinder – stammelte ich Nicht-Italienerin. Ein lautes „Ah“ folgte. Ob er nun dachte, ich hätte sechs Kinder zuhause? Wie auch immer. Er hielt mich am Arm und gestikulierte, ich solle bleiben. Er klopfte an eine weitere hölzerne Tür und ein junger Mönch trat heraus. Die beiden unterhielten sich auf Italienisch, der Geistliche nickte und legte seine Hände über meine Kreuze. Er segnete sie. Was für ein schöner Moment. Als ich gerade merke, dass es mich anrührt, was hier geschieht, dreht er sich zu mir, sieht mich fragend an. Ich nicke, er hält seine Handflächen über meine Stirn und er segnet auch mich. Erhebend. Einfach erhebend.
Ganz egal, ob Sie nun etwas mit der Kirche, mit christlichem Glauben oder dem Pilgern anfangen können oder nicht. Wenn man von einem Menschen gesegnet wird, bedeutet es nichts anderes, als dass man einem anderen Geschöpf Gutes wünscht. In diesem Moment, an diesem Tag, an dem ich mich eigentlich so über mich selbst und mein blödes Knie ärgerte, berührte mich diese Geste zutiefst. Es war vermutlich mein persönlicher Pilgermoment. Just am mir unangenehmsten Tag.
In Gedanken war ich plötzlich bei einer Leserin, die nicht mitpilgern konnte, weil ihr Mann krank war, bei einer Leserin, die mir schrieb, dass sie momentan Krücken brauche und bei einem Freund meines Mannes, den eine seltene Krankheit aus dem Beruf und Umfeld gerissen und in seine vier Wände verbannt hatte, in einem Moment, in dem sein Leben eigentlich gerade erst begann. Mein kleines Knie erschien lächerlich.
Mein Tag und meine innere Stimmung drehten sich, ich nahm die Menschen, die sich so plötzlich in meine Gedanken drängten in ein kurzes Gebet auf, zündete später noch Kerzen für meinen verstorbenen Vater und meine verstorbenen Schwiegereltern an. Die Zeit, bis die Gruppe zu uns stieß, gehörte irgendwie mir. Und auch meine Knie-Kollegin schien sich hier wohlzufühlen.
Als die Kolleginnen den Berg erklommen hatten, gabs erst die verdiente Jause, dann eine exzellente Führung von Christa, bei der wir erfuhren, dass Franziskus hier auf einem kargen, kalten Stein ruhte und die kleinen, steinernen Kammern der Heiligen Bonaventura und Antonius (Sie wissen schon der, den man anruft, wenn man etwas verloren hat) den Komfort eines Verlieses hatten. Wir besuchten eine weitere Franziskus-Darstellung, die auf einer steinernen Terrasse sitzend über dem Tal thronte und Lydia hatte unaufdringliche, schöne Gedankenimpulse für uns parat.
Danach ging es ins Tal. Mit dem Bus. Diesmal ohne schlechtes Gewissen. Morgen möchte ich wieder angreifen, im pilgernden Sinne, versteht sich. Dann steht der Westhang des Tibertals auf dem Programm, der Besuch einer weiteren Einsiedelei und traumhafte Aus- und Einblicke. Auch bei einer Bäuerin kommen wir vorbei, die uns empfangen wird. Ich bin jetzt schon gespannt. Kommen Sie auch wieder mit?
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