Es ist nie zu spät, die eigene Mutter zu lieben

Es ist nie zu spät, die eigene Mutter zu lieben
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  • Veröffentlicht: 21.06.2021
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Das Verhältnis zwischen Müttern und Töchtern ist oft ambivalent und verändert sich im Lauf des Lebens. Wie kann sich eine reife, vertrauensvolle Beziehung zwischen ihnen entwickeln? Ein Gespräch mit der Schweizer Psychotherapeutin Julia Onken und ihrer Tochter Maya Onken

Julia Langeneder: Julia Onken, viele Töchter denken: „So wie meine Mutter möchte ich nie werden!“ Warum ist das so: Lieben diese Töchter ihre Mütter nicht?

Julia Onken: Doch! Aber die Tochter ist die Kronzeugin dessen, was die Mutter leistet. Sie sieht die vielen Bereiche, in denen die Mutter tätig ist. Und sie sieht, dass sie unter Umständen wenig Zeit hat, sich um sich selbst zu kümmern. Zudem erlebt sie auch, dass viele Tätigkeiten, die die Mutter zu bewältigen hat, nicht zu ihrem favorisierten Arbeitsbereich gehören. Sie würde vielleicht viel lieber Sport machen als putzen. Die Tochter nimmt unbewusst wahr, dass die Mutter dafür in der Regel wenig Anerkennung bekommt. Der traurigste Akt ist, wenn die Mutter in Rente geht und die Rente kaum ausreicht, um ein gemütliches Leben zu führen. Dass ein junges Mädchen sagt: „So sicher nicht!“, ist doch eine gesunde Reaktion.  

Die Tochter lehnt also nicht die Mutter als Person ab, sondern die mangelnde Wertschätzung ihrer Rolle in der Gesellschaft?

Julia Onken: Ja, genau! Aber auch wenn sich die Tochter von der Mutter abgrenzt, spürt sie: „Ich liebe ja meine Mutter!“ Auch ich habe die Rolle meiner Mutter total abgelehnt und versucht, mich abzugrenzen. Dann aber hatte ich gleichzeitig Schuldgefühle.  

Ich bin ein freier Mensch, und es ist nicht meine Aufgabe, gesellschaftliche Rollenbilder zu erfüllen.

Julia Onken

Maya Onken, hatten Sie Ihrer Mutter gegenüber auch diese ambivalenten Gefühle? Oder war sie als Autorin und gefragte Referentin ein Vorbild für Sie?

Julia Onken: Sei ganz ehrlich!

Maya Onken: Ich erinnere mich, wie meine Mutter nach der Trennung von meinem Vater ihre Praxis aufmachte, ein Haus mietete, ein Buch schrieb – und alles klappte: Das fand ich sehr mutig! Gleichzeitig fühlte ich den Trennungsschmerz meinem Vater gegenüber, und nach der Matura wollte ich auf jeden Fall etwas anderes machen als meine Mutter. Ich studierte drei Wochen lang Biochemie, bin dann aber doch in der Germanistik gelandet. Ich war Gymnasiallehrerin und bin in die Privatwirtschaft gegangen, um es anders zu machen. Und jetzt mache ich letztendlich das Gleiche wie du!

Wann geschah die Wiederannäherung?

Maya Onken: Das war in dem Moment, als ich mein erstes Kind bekam. Es stellte sich die Frage: Welches Lebensmodell wähle ich jetzt? Und dann fragte meine Mutter mich, ob ich ihre Firma, die Onken Academy, übernehmen möchte. 

Julia Onken: Du hast mir einmal einen Traum erzählt. Du träumtest, dass du eine große Bibliothek hast und darin standen nur meine Bücher. Da wusste ich: Zuerst geht es um die Ablösung, um die eigene Identitätsfindung. Ich habe das auch unterstützt, indem ich nicht zu früh versuchte, dich anzufragen, ob du in die Firma eintreten möchtest. Irgendwann hat es für dich in der Privatwirtschaft nicht mehr gepasst, und dann hab ich zugegriffen.

Maya Onken: Ich möchte noch zur Schlüsselszene zurückkommen. Ich dachte, ich wäre eine Rebellin, als ich schwanger wurde. Ich fragte mich: Wie bringe ich das meiner Mutter bei? Sie wird schockiert sein, weil ihre Tochter in die traditionelle Frauenrolle zurückfällt. Ich war erstaunt, wie sehr du dich über die Nachricht von meiner Schwangerschaft gefreut hast, das muss ich dir zugestehen.

Julia Onken: Ich muss dir auch ein Geständnis machen, und zwar: Die Sache war zweigeteilt. Auf der einen Seite freute ich mich wahnsinnig darüber, dass ich Oma werde, und die Freude hat sich gelohnt. Auf der anderen Seite spürte ich in mir eine unbeschreibliche Trauer, weil ich begriff: Jetzt wird meine wunderbare, kluge, fantasievolle Tochter, die ihr Leben noch vor sich hat, in diese Rolle hineingezwungen. Aber die Freude hat überwogen. Ich habe allerdings auch deine Anstrengung miterlebt, um Beruf, Familie und Muttersein unter einen Hut zu bekommen.  

Wie soll sich die Mutter verhalten, wenn sie die Tochter in diesem Hamsterrad erlebt? 

Julia Onken: Viele Großmütter sagen: „Ich werde alle Projekte zurückstellen und meiner Tochter beistehen, damit sie entlastet wird.“ Da tut sich aber wieder eine Falle auf, ich nenne das die Großmutter-Falle. Die Großmutter lebt wieder nicht ihr eigenes Leben. Ich bin nicht in diese Falle gegangen, und ich hatte auch immer wieder ein schlechtes Gewissen. Aber ich wusste: Meine Projekte und mein Beruf sind mein Leben, das darf ich nicht aufgeben.

Julia Onken (79) ist Psychologin, Psychotherapeutin und Autorin und leitet das Frauenseminar Bodensee in Romanshorn (Schweiz). Ihre Tochter Maya Onken (52) ist Germanistin und Autorin, leitet das Tochterhaus des Unternehmens, die „Onken ­Academy“, in Uster. Sie hat zwei Töchter. 

Wie sind Sie mit dieser Haltung Ihrer Mutter umgegangen?

Maya Onken: Ich hatte damals schwierige Umstände. Meine Mutter war berufstätig und voll engagiert, mein Vater und seine zweite Frau waren auch nicht zu haben, meine Schwiegermutter lebte zwei Stunden Fahrtweg entfernt und kam nicht regelmäßig. Ich musste das also selber stemmen. Meine Mutter und ich fingen dann an, zu streiten und das Buch „Hilfe, ich bin eine emanzipierte Mutter“ (Beck’sche Reihe, 9,71 Euro) zu schreiben. Denn ich stellte fest, dass deine großen Töne „Die Emanzipation ist da, und Frauen, ihr könnt losbrausen“ nicht stimmen. Frauen dümpeln immer noch auf Gemeindestraßen dahin. Mein Mann hat mich sehr unterstützt, aber es war eine große Herausforderung, und ich kenne das schlechte Gewissen! Im Nachhinein kann ich dir sagen, Mami: Wenn meine Kinder Kinder bekommen, freue ich mich darauf. Ich werde sie an einem Tag in der Woche hüten, ich werde aber auch meine Projekte haben. 

Julia Onken: Vielleicht bin ich ja aus dem Berufsleben ausgestiegen, wenn deine Töchter Kinder kriegen.

Sie gehen sehr offen miteinander um. Wie können Mütter und Töchter sich aus der Spirale von Kränkungen, schlechtem Gewissen und Schuld­gefühlen befreien und einen ent­spannteren Umgang finden?

Julia Onken: Die beste Variante ist, dass man anfängt, über die eigenen Gefühle zu sprechen und die Gefühlslagen auch möglichst genau in ihrer Differenziertheit zu benennen. Alles, was wir benennen können, ist bearbeitbar. Wenn wir mit anderen Frauen oder der besten Freundin über unsere Gefühle sprechen, werden wir Gesetzmäßigkeiten entdecken. Schuldgefühle stellen sich ein, wenn man bestimmten Erwartungen nicht entspricht. Und wenn Frauen sich darüber austauschen, werden sie vielleicht zu der Frage kommen: Muss ich dieser Erwartung entsprechen? Und dann gelangen sie in eine andere Denketage und beschließen: Ich bin ein freier Mensch, und es ist nicht meine Aufgabe, gesellschaft­liche Rollenbilder zu erfüllen. 

Sie reden von Gesprächen unter Frauen: Sollte man nicht zuerst mit der Mutter das Gespräch suchen? 

Julia Onken: Gespräche mit der Mutter sind oft mit einer Vorwurfshaltung verbunden. Viele hätten die Mutter lieber anders gehabt, weil sie diesen Muttermythos im Kopf haben: Die Mutter ist allumsorgend, liebend, geduldig, stets fürsorglich. Wenn man die Mutter in dieser Form nicht erlebt hat und ihr Vorwürfe darüber macht, das halte ich nicht für sinnvoll. Es ist wichtig, dass man die Enttäuschung für sich formuliert, aber nicht gegenüber der Mutter, es sei denn, die Mutter bietet von sich aus ein Gespräch an, denn dann ist sie auch interessiert, selber Entwicklungsschritte zu machen. 

Maya Onken: Ich hätte noch eine Ergänzung als Tipp für die Töchter: mit der Mutter innerlich ins Reine kommen. Alle Mütter geben das Beste. Keine Mutter will eine miese Mutter sein. Das, was die Mütter als ihr Bestes offerieren, muss für die Tochter nicht das Beste sein. Wenn die Töchter erkennen: „Meine Mutter hat das Beste gemacht, was ihr möglich war, ich hätte vielleicht noch etwas anderes gebraucht, aber das war nicht in ihrem Repertoire und daher kann ich ihr keinen Vorwurf machen.“ 

Julia Onken: Dazu fällt mir ein: Als du 16 oder 17 Jahre alt warst, wolltest du zu deinem Freund ziehen. Du fühltest dich dort sehr wohl – mit einer italienischen Mama, die Spaghetti kocht. Ich habe das unterstützt und mich bei dieser Frau bedankt, weil sie dir diese Erfahrung ermöglicht hat, denn ich war nie so eine Spaghetti kochende Mama. 

Maya Onken: Das ist ein wichtiger Impuls, dass Mütter die Töchter darin unterstützen, wenn sie Ersatzprogramme fahren, und nicht bestrafen oder gar eifersüchtig sind. Nun bin ich auch Mutter von Töchtern und weiß: Mein Angebot an die Kinder ist nur ein Stück. Ich tue mein Bestes, das reicht ihnen nicht, ist halt so. 

Frau Onken, Sie raten den Töchtern, sich mit der Lebensgeschichte der Mutter auseinanderzusetzen. Was ändert sich dadurch?

Julia Onken: Die Mutter ist auch nur ein Mensch, sie hat ihre eigene Geschichte. Viele Töchter wissen nichts darüber, welche Wünsche ihre Mütter früher hatten, was sie gerne erreichen wollten. Hilfreich kann es sein, wenn man die Fotos der Mutter anschaut, als sie ein Kind oder eine Jugendliche war. Dann erkennt man vielleicht, dass in diesem erwartungsvollen Gesicht viel Lebensneugierde und Wissenshunger war, was sich dann aber nicht oder nur teilweise erfüllte. Da kann man nur immer wieder den Satz sagen: „Ich bedaure es zutiefst.“ Damit grenze ich mich vom Schicksal meiner Mutter ab. Ich befreie meine Mutter aus der Entwertungsecke, sehe sie als Mensch und kann ihr wieder wertschätzend begegnen. Eine Übung in unseren Seminaren ist, dass Frauen eine Lobesrede auf ihre Mutter halten und sie so als Menschen würdigen. 

Maya Onken: Je älter ich werde – ich bin jetzt 52 –, desto mehr sehe ich, was ich fantastisch finde an meiner Mutter. Wenn man aus dem Notprogramm – „Ich brauche meine Mami, weil sonst geht es nicht mit zwei kleinen Kindern“ – aussteigen und fragen kann: „Welche Geschenke habe ich von meiner Mutter mitbekommen? Was möchte ich bewahren? Wo kann sie mir Vorbild sein?“, dann gelingt vielleicht dieser Paradigmenwechsel. 

Vielleicht ist diese wertschätzende Haltung nicht immer möglich?

Maya Onken: Wenn man die Biografie anschaut, dann haben alle Lebensabschnitte ein anderes Thema bezüglich der Mutter. Von null bis sieben liebe ich meine Mutter, von sieben bis 14 liebe ich sie auch, aber dann kommt die Pubertät dazwischen. Von 14 bis 21 will ich garantiert nicht werden wie meine Mutter. Von 21 bis 28 bin ich damit beschäftigt, mich zu fragen, was ich will. Zwischen 28 und 35 Jahren haben viele Frauen Kinder und müssen sich in dieser Phase sehr mit ihrer Mutter auseinandersetzen. Dann wird ihnen auf einmal klar: Das war ein hartes Stück Arbeit mit mir. Mit 36 bin ich in die Firma meiner Mutter eingestiegen. Alle haben mich als Abklatsch der Mutter angeschaut, und ich musste erst selber meinen Platz definieren. Jetzt sind meine Kinder erwachsen, und in diesem Lebensabschnitt widme ich mich wieder mehr dem Beruf und nähere mich dem an, was meine Mutter macht: Sie lebt und liebt den Beruf. Es stellt sich wieder die Frage: Wie macht sie es, und wie will ich es machen?  

Jeder Lebensabschnitt ist also eine Chance, die Mutterbeziehung neu zu definieren?

Maya Onken: Ja. Es ist nie zu spät, die eigene Mutter zu lieben – aus ganzem Herzen, ohne Wenn und Aber.

Julia Onken: (lacht)

„Welt der Frauen“ Ausgabe Mai 2021

 

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