„Sich ohnmächtig fühlen bedeutet nicht unbedingt, ohnmächtig zu sein“

„Sich ohnmächtig fühlen bedeutet nicht unbedingt, ohnmächtig zu sein“
Foto: Alexandra Grill
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  • Veröffentlicht: 15.05.2023
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Die Theologin Melanie Wolfers über das Gefühl der Ohnmacht, wie wir in unsere Kraft kommen können und warum das Miteinander so wichtig ist.

Frau Wolfers, Ihr neues Buch lautet „Nimm der Ohnmacht ihre Macht“. Warum war es Ihnen wichtig, sich mit der Ohnmacht zu beschäftigen?

Ein Blick in die Gesellschaft zeigt, dass das Gefühl von Ohnmacht sich angesichts gesellschaftlicher und persönlicher Herausforderungen sehr verbreitet. 73 Prozent der Menschen im deutschsprachigen Raum fühlen sich in Folge der globalen Krisen ohnmächtig. Das ist eine eklatante Zahl! Daher ist es mir wichtig zu schauen: Wie kann man mit diesem bedrängenden Gefühl gut umgehen? Und da gibt es eine gute und eine schlechte Nachricht. Die schlechte: Dieses Gefühl gehört unabwendbar zu unserem Leben. Und die gute: Wir sind diesen Erfahrungen nicht hilflos ausgeliefert. 

Was steckt hinter den Gefühlen von Ohnmacht, Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein? 

Ursprünglich kommt der Begriff aus der Medizin und meint den Verlust des Bewusstseins. Dann wurde er auch von der Psychologie verwendet und bezeichnet den gefühlten oder tatsächlichen Kontrollverlust – dass mir eine Situation entgleitet. In dem Wort „Ohnmacht“ steckt „ohne Macht“ und es hat etwas mit dem Gefühl zu tun, die Kontrolle und die Selbstwirksamkeit zu verlieren. Ohnmachtsgefühle gibt es beispielsweise im Zwischenmenschlichen – wenn ein Mensch stirbt oder eine schwere Erkrankung hat oder wenn jemand in sein Unglück rennt und ich ihn nicht aufhalten kann –, aber auch mir selbst gegenüber, etwa wenn der Körper nicht so mitspielt, wie ich möchte – zum Beispiel bei Unfruchtbarkeit von Frauen und Männern.

Wie kann ich unterscheiden, ob ich mich nur ohnmächtig fühle, oder ob ich tatsächlich ohnmächtig bin? 

Da sind wir an einem wichtigen Punkt: Sich ohnmächtig zu fühlen, heißt noch lange nicht, auch tatsächlich ohnmächtig zu sein. Gerade in Beziehungen fühlen sich Menschen oft zu früh ohnmächtig und schwach, dabei sind sie es in der konkreten Situation gar nicht in dem Maße. Deswegen gilt: Glaub nicht alles, was du fühlst, sondern schalte dein Hirn ein und mach einen Realitätscheck. Zum Beispiel: „Ich fühle mich überfordert durch die Pflege meines Schwiegervaters.“ Der Realitätscheck wäre dann, zu fragen: Gibt es wirklich keine Hilfe? Welche staatlichen oder karitativen Strukturen gibt es, die mir Unterstützung gewähren, die die Pflege erleichtern oder bei denen ich mir seelischen Beistand holen kann? Was sind innere und äußere Ressourcen? Und dann stellt man möglicherweise fest, dass es Gestaltungsspielräume gibt, die man ergreifen kann. Aber natürlich gibt es auch Situationen, in denen man merkt: An der Situation selber kann ich nichts ändern.

„Wenn ich mich hingegen auf Dauer an etwas reibe, das ich nicht verändern kann, reibe ich mich auf und werde wund.“

Zum Beispiel wenn ein Angehöriger stirbt oder bei einem anderen schweren Schicksalsschlag: Wie kann ich mit einer solchen Situation, die das Leben völlig durcheinander rüttelt, umgehen?

Das ist meist ein langer Prozess. Zuerst heißt es einmal, sich zu erlauben, die verschiedensten Gefühle wie Wut, Angst oder Ohnmacht zu spüren, also „im emotionalen Schlamassel anzukommen“. In dem Maße, in dem ich ankomme, in dem was ist, kann sich auch etwas verwandeln. Ich sage gerne: „Was ist, das ist. Was ist, darf sein. Und was sein darf, kann sich verwandeln.“ Das ist ein seelisches Grundgesetz. Und das ist auch bei einem Schicksalsschlag so. Ich kann an der Situation selbst nichts ändern. Aber wenn ich das Schlamassel fühle, kann ich schauen: Wo gibt es für mich Ressourcen? Und dann scheint mir ein ganz wichtiger Punkt zu sein: Irgendwann dorthin zu gelangen, das Unabänderliche zu akzeptieren. Denn in dem Maß, in dem ich den erlittenen Verlust oder die Einschränkung anzunehmen lerne, kann ich mich wieder für andere Aspekte des Lebens öffnen. Wenn ich mich hingegen auf Dauer an etwas reibe, das ich nicht verändern kann, reibe ich mich auf und werde wund. Oft ist es ein langer Weg, bis man das Geschehene zu akzeptieren lernt. Und es ist auch nicht nur die eigene Kraft, sondern irgendwie immer auch ein Geschenk, wenn ein solches Ja in einem heranreift.

Sie schreiben von sieben Urkräften, die uns in der Not tragen und positive Energie freisetzen: Dankbarkeit, Freude, Vertrauen, Verzeihen, Zuversicht, tatkräftiges Hoffen und Innehalten. Wie kann man in Zeiten der Krise Dankbarkeit empfinden? 

Natürlich kann man sich nicht über etwas freuen, das einen leidend macht, aber ich kann in schweren Zeiten ganz bewusst meine Aufmerksamkeit darauf lenken: Gibt es trotz dieser dunklen Phase heute nicht auch den ein oder anderen Lichtblick? Habe ich nicht auch etwas erlebt, wo ich sage: „Ach, das ist jetzt schön gewesen.“ Bekannt ist das Dankbarkeitstagebuch. Auch wenn einem das Leben gerade viel zumutet, kann man aufmerksam werden für das Gute, das sich im Alltag auch finden lässt. Diese wache Aufmerksamkeit hat ganz viel mit der Haltung der Dankbarkeit zu tun. Dankbarkeit meint ja nicht nur ein schönes Gefühl, sondern das zu entdecken und wertzuschätzen, was wir oft als selbstverständlich ansehen. Gerade Menschen, die durch eine schwere Krankheit gegangen sind, können davon berichten: Wenn man nach langer Zeit wieder seinen Lieblingsspaziergang machen kann oder wenn man nach einer langen Zeit der Geschmacksstörung wieder den Kaffee schmecken kann.

„So wie die Mammutbäume sich gegenseitig unterhaken, können auch wir uns unterhaken und gemeinsam stärksten Stürmen trotzen.“

In Ihrem Buch erzählen Sie eine schöne Geschichte über die Kraft des Vertrauens. Die portugiesische Pianistin Maria João Pires sitzt auf einer Konzertbühne. Als sie die ersten Takte des Orchesters hört, realisiert sie: „Ich habe ein anderes Mozart-Konzert einstudiert.“ Der Dirigent macht ihr Mut: „Sie haben das Konzert doch letzte Saison noch gespielt. Ich bin mir sicher, Sie schaffen das!“

Die Geschichte der Pianistin ist ein wunderbares Bild für die Erfahrung, dass wir immer wieder in Situationen hineingeraten, mit denen wir nicht gerechnet haben und von denen wir nicht wissen, wie wir sie bewältigen sollen. Was für ein Segen, wenn es dann in meinem Umfeld Menschen gibt, die auf mich und meine Fähigkeiten vertrauen – so wie der Dirigent in die Fähigkeiten der Pianistin. Gerade in Krisenzeiten stärkt es, wenn Menschen ihr Vertrauen in einen setzen. Denn das festigt wiederum das Vertrauen in sich selbst und die eigenen Fähigkeiten. Und ebenso stärkt es, wenn wir uns auf andere Menschen verlassen können. Wenn der Boden unter den Füßen wankt, geben Beziehungen Halt. Alles in allem: Vertrauen ist eine Kraft, die uns hilft, mit den Unwägbarkeiten des Lebens zurecht zu kommen. Was wir dafür tun können, ist, tragfähige Beziehungen zu pflegen. 

Die Kraft des Miteinanders zeigt sich auch am Beispiel der Mammutbäume. Was können wir von Mammutbäumen lernen?

Die Mammutbäume sind Giganten an Alter und Größe, aber das eigentlich Erstaunliche liegt darin, dass sie Flachwurzler sind und es stellt sich die Frage: Wie schaffen sie es, mehr als 1.000 Jahre alt zu werden und mehr als 100 Meter hoch, wenn sie nur so flache Wurzeln haben? Wie schaffen sie es, Orkanen und Erdbeben zu trotzen? Das Geheimnis lautet: Kooperation. Die Mammutbäume treiben ihre Wurzeln so weit nach rechts und links aus, bis sie mit anderen Mammutbäumen ein dichtes Wurzelgeflecht bilden und sich so gegenseitig stärken. Das heißt: Die eigentliche Stärke dieser Riesen erwächst aus ihrer Fähigkeit zur Kommunikation, zur Kooperation, zur Zusammenarbeit. Und so wie die Mammutbäume sich gegenseitig unterhaken, können auch wir uns unterhaken und gemeinsam stärksten Stürmen trotzen.

„Die Kraft des Wir ist ungeheuer groß.“

Das ist auch ein wunderbares Bild angesichts der vielen gesellschaftlichen Krisen, wo Menschen etwa sagen: „Es hat doch eh keinen Sinn, wenn ich mich fürs Klima einsetze. Die Öl-Lobby ist so stark …“

Nein, das stimmt nicht. Und das ist für mich auch einer der großen Aha-Momente beim Schreiben meines Ohnmachtsbuches: Die Geschichte zeigt, dass es vor allem dann zu großen Umbrüchen kommt, wenn viele Menschen viele Schritte gehen und irgendwann gemeinsam etwas erreichen. Die Kraft des Wir ist ungeheuer groß. Denken Sie an die Theorie der „Social-Tipping-Points“ in der Sozialwissenschaft. Diese besagt, dass es kleinen Minderheiten immer wieder gelungen ist, positive Umschwünge in der Geschichte zu erreichen. Das kann es auch fürs Klima geben: Die Lösungen für eine enkeltaugliche Welt sind da, aber die Lösungen brauchen eine starke Lobby und hier zählt jede einzelne Person. Denn jede einzelne Person kann andere beeinflussen und so können wir gemeinsam Entwicklungen lostreten, von denen wir heute vielleicht noch gar nicht zu träumen wagen.

Sie möchten die Menschen also auch ermutigen, sich zu engagieren?

Ja! Und grundsätzlicher gesagt: Ich möchte mit meinem Buch Menschen ermutigen, dass sie ihre Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit wahrnehmen und zulassen. Und dass sie ihre inneren Kräfte entdecken und freilegen. 

Foto: Alexandra Grill

Wann haben Sie sich zuletzt ohnmächtig gefühlt und was tun Sie dagegen?

Infolge einer Erkrankung war ich monatelang körperlich und mental sehr erschöpft. Zum einen versuche ich, eine gewisse Anstrengungsgrenze nicht zu überschreiten und zum anderen versuche ich, dem Ganzen auch etwas Gutes abzugewinnen. Statt nach dem Warum zu fragen, stelle ich die Frage: Wozu kann diese doofe Erkrankung gut sein? Wie kann sie für mich zu einer Gelegenheit werden? Ein Erstes: Ich glaube, dass meine Schwäche mich verständnisvoller oder einfühlsamer machen kann gegenüber Menschen, für die schon ein normales Gespräch aufgrund einer Erkrankung oder des Alters eine Anstrengung bedeutet. Etwas, das mir normalerweise fremd ist. Und ein Zweites: Diese Erfahrung lässt mich dankbar sein, was für ein Wunderwerk der Körper ist und dass er mir bisher so viel ermöglicht hat. Solche Sinneinsichten helfen mir, meine belastende Situation anzunehmen und offen zu werden für andere Aspekte, die Kraft geben. Zum Beispiel auch, dass ich von meiner Ordensgemeinschaft oder von Freunden und Familie in dieser Situation getragen werde.

„Ein Text ohne Leerzeichen lässt sich nur mühsam entziffern. Wir brauchen Pausen, um unseren Lebenstext lesen und gut weiterschreiben zu können.“

Inwiefern kann Spiritualität eine Kraftquelle sein?

Weniges gibt im Leben so viel Kraft wie gelebte Spiritualität, gelebter Glaube – das zeigen auch viele Untersuchungen. Viele Menschen – auch solche, die sich nicht als religiös verstehen – erleben eine spirituell geübte Achtsamkeit als Quelle von Kraft. Etwa wenn sie versuchen, ganz bewusst den Geschmack des knusprigen Brotes zu schmecken oder der Stille zu lauschen. Wer ganz in der Gegenwart ist, ahnt bisweilen: Ich schöpfe nicht nur aus meiner Kraft, sondern aus einer Quelle, die in mir entspringt und die mir zugleich zufließt. In einem anderen Bild gesprochen: Da spürt jemand: Ich bin im Großen und Ganzen geborgen. Wenn ich mit dieser Wirklichkeit verbunden bin, gibt das meinem Leben Licht, Wärme, Hoffnung. Als eine im christlichen Glauben verankerte Frau, nenne ich diese Wirklichkeit „Gott“ oder „göttliches Geheimnis“. Und für mich als Ordensfrau ist das tägliche Innehalten und das Gebet natürlich eine zentrale Quelle von Zuversicht, um in Krisen den Kopf nicht auf Dauer hängen zu lassen.  

Wie kann man Zugang zu seinem Inneren finden?

Ich stelle gerne die Frage: Was ist die größte Taste auf dem PC? Die meisten antworten: „Es ist die Enter-Taste.“ Weiter geht’s: „Nein! Es ist die Leertaste.“ Ein Text ohne Leerzeichen lässt sich nur mühsam entziffern. Wir brauchen Pausen, um unseren Lebenstext lesen und gut weiterschreiben zu können. Leerräume, damit wir gut in Tuchfühlung mit uns selber sind.   Wir brauchen die regelmäßige Verabredung mit uns selbst. Sonst werden wir mehr gelebt als dass wir selber leben. Und da scheint mir wichtig zu sein: Es gibt viele unterschiedliche Wege zu sich selbst. Der eine strickt, die andere bastelt am Motorrad, geht joggen, in die Kirche oder setzt sich aufs Meditationskissen. Wichtig ist, eine gewisse Regelmäßigkeit zu finden.

Melanie Wolfers

Melanie Wolfers ist Philosophin, Theologin und Mutmacherin. Seit 2004 lebt die Seelsorgerin und Expertin für Lebensfragen und Spiritualität in der Ordensgemeinschaft der Salvatorianerinnen in Wien. Sie ist Bestsellerautorin, Rednerin und betreibt den Podcast „GANZ SCHÖN MUTIG – dein Podcast für ein erfülltes Leben“.

Infos: melaniewolfers.at

Melanie Wolfers: Nimm der Ohnmacht ihre Macht. Entdecke die Kraft, die in dir wohnt, bene! Verlag 2023.