Unsere Leserin Maria H. & ihre Tochter Evelyn im „Welt der Frauen“-Gespräch.
Welt der Frauen-Leserin Maria H. (61) aus Mooskirchen in der Weststeiermark ist gelernte Familienhelferin und Altenfachbetreuerin, übte diese Berufe jedoch nie aus. Stattdessen trug die vierfache Mutter als Raumpflegerin, Industriemitarbeiterin und Verwaltungssekretärin in der Bau-Firma ihres Mannes zum Familieneinkommen bei.
Ihre zweitgeborene Tochter Evelyn W. (40) ist Diplomkrankenschwester und hat selbst auch zwei Kinder. Doch anders als ihre Mutter, die die emotionale Versorgung der Kinder ihren Jobs hintanstellte, stehen bei Evelyn die Kinder an erster Stelle. Warum das so ist? Wir fragten erst bei der Mutter nach und baten anschließend die Tochter zum Gespräch.
„Als meine Tochter Evelyn 16 Jahre alt war, teilte sie mir mit, dass sie sich als Kind oft unbeachtet gefühlt habe und sich mehr Aufmerksamkeit von mir gewünscht hätte. Im ersten Augenblick war ich getroffen und schockiert – denn es war die Wahrheit. Ich hatte aufgrund der vielen Arbeit und des Haushalts tatsächlich nur wenig Zeit für sie gehabt. Deshalb nahm ich Evelyns Rückmeldung ernst und versuchte, es wiedergutzumachen. Doch sie nahm meine Zuwendung nicht mehr an. Das traf mich noch mehr. Um mir weitere Rückweisungen zu ersparen, gab ich auf. Inzwischen können wir gut miteinander reden. Evelyn ist nun selbst zweifache Mutter – und sie ist es mit Hingabe! Meine fünfjährige Enkelin Linda leidet nämlich an einer sehr seltenen Form von Epilepsie und braucht ihre Mama sehr. Die liebevolle, fürsorgliche Art, mit der sich Evelyn um die Kleine kümmert, rührt mich jedes Mal aufs Neue.“
Maria H.
„So eine Herausforderung ist eine Zerreißprobe für die Ehe, da brauchen wir nichts beschönigen“
Petra Klikovits: Psychologische Studien belegen, dass die Art, wie wir über Kindheitserlebnisse denken, uns ein Leben lang prägen kann. Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre Kindheit, Evelyn?
Evelyn: Ich kam 1981, nur elf Monate nach der Geburt meines älteren Bruders Markus, zur Welt. Knapp eineinhalb Jahre später war unsere Mutter ein drittes Mal schwanger: mit unserem jüngeren Bruder Hermann. Wir drei Geschwister – zehn Jahre später folgte noch unsere Schwester Martina – wurden also sehr knapp hintereinander geboren. Für mich war es schön, fast gleichaltrige Brüder zu haben. Ich durfte zwar nicht bei allen Bubenspielen mitspielen und musste Mama beim Abwasch helfen, dafür hatte ich anderswo den Mädchen-Bonus und bekam zum Beispiel ein eigenes Zimmer. Das war schon etwas Tolles! Für meine Mutter war es aber sehr arbeitsintensiv, drei Kleinkinder, die alle noch in Windelhosen steckten, zu versorgen und nebenbei den Haushalt zu erledigen. Außerdem arbeitete sie noch als Putzfrau und Fließbandarbeiterin, denn ihren gelernten Beruf – jenen der Familienhelferin – hat sie aufgrund ihrer Heirat mit 19 Jahren und der anschließenden Familiengründung nie ausgeübt. Noch heute sagt Mama, dass ihr ein eigenes Einkommen nie wichtig gewesen sei. Sie sei nur arbeiten gegangen, damit wir alle ein gutes Leben haben. Aufgrund ihrer vielen Abwesenheit war meine Hauptbezugsperson meine Oma Martina, die inzwischen 100 Jahre alt ist. Zu ihr hatte ich immer eine sehr enge Bindung.
Wo genau wuchsen Sie denn auf?
In meinen ersten beiden Lebensjahren wohnten wir mit den Großeltern auf einem Bergbauernhof an der Kleinalpe. Mein Vater hatte diesen Hof von seinen Eltern geerbt. Doch weil man von der Landwirtschaft nicht leben konnte, verkaufte er ihn und kaufte in Mooskirchen den Rohbau eines großen Hauses – mit sehr viel Grund ringsum. Als wir übersiedelten, war ich vier Jahre alt. Bald darauf machte sich mein Vater mit einer Baufirma selbstständig. Mama, die sich über WIFI-und Abendkurse weitergebildet hatte, stieg bei ihm als Verwaltungssekretärin ein. So sah ich sie nur arbeitend. Das war nicht leicht für mich.
Haben Sie damals Ihr Bedürfnis nach mehr Nähe, Zuwendung und Aufmerksamkeit altersadäquat artikuliert und eingefordert?
Nein, denn meine Eltern gehören einer Generation an, die noch stark die Familienhierarchie lebte. Ihrem Denken zufolge standen die Eltern immer über den Kindern. Meine Kinder können mir alles sagen, was ihnen am Herzen liegt – ich konnte das nicht. Ich wäre gar nicht auf die Idee gekommen, zu sagen: „Mama, ich brauch dich!“ Ich ging mit meinen Bedürfnissen zu Oma, denn ihr gegenüber musste ich nicht kommunizieren: „Nimm mich in den Arm und halt mich“. Sie machte es von sich aus! Hätte mich Oma nicht in den Arm genommen
Mit 16 Jahren hatten Sie aber dann das nötige Reflexionsvermögen und den Mut, die Dinge beim Namen zu nennen und Gepflogenheiten zu hinterfragen und suchten den Dialog mit Ihrer Mutter. Wie kam es dazu?
Als Teenager versuchte ich damals, meinen Platz in der Gesellschaft zu finden. Dabei verglich ich mich mit anderen und merkte, dass ich nicht so selbstbewusst war wie etwa meine Freundinnen. Ich fragte mich, welche Ursache das haben könnte. Außerdem spürte ich, dass mir etwas fehlte…dass mir schon als Kind etwas gefehlt hatte… Eines Tages erzählte ich Mama von diesem Mangelgefühl und fing an Fragen zu stellen. Schließlich wird in der Kindheit – mit all ihren Erfahrungen und eben auch Verletzungen – der Grundstein dafür gelegt, wer man ist. So erzählte sie mir von ihrer Kindheit, ihren unterkühlten Eltern, speziell ihrer Mutter, die es nicht leicht gehabt hatte. Ich verstand die Zusammenhänge und begriff, warum alles so war wie es war. Und dass Mama gar nicht anders hätte handeln können. Das war wichtig für mich.
Was war der Grund für die Gefühlskälte Ihrer Großeltern? Der Krieg?
Die traumatischen Erfahrungen des Krieges prägten diese Generation mit Sicherheit sehr. Seinerzeit liefen Kinder ja nur nebenher mit. Man scherte sich wenig darum, wie es ihnen ging. Auch in der Generation meiner Eltern blieb das so. Vielen Erwachsenen war wichtig, dass sie etwas schaffen und Ansehen erringen. Insofern gingen Kinder in vielen Familien ein bisschen untergingen. Meine Aussprache mit Mama löste Vieles auf. Ich litt jedenfalls nicht mehr darunter.
Und warum konnten Sie die Zuwendung Ihrer Mutter nachträglich nicht annehmen?
Das weiß ich nicht. Ich habe ihre Bemühungen nicht als solche wahrgenommen. Ich hatte eher den Eindruck, dass sie sich mit zunehmendem Alter verändert hat und gelernt hat, Dinge zu reflektieren, die nicht so rund liefen. Mit ihrer persönlichen Weiterentwicklung wurde sie auch offener und nahbarer. Mit ihren Enkeln geht sie heute ganz anders um als mit uns Kindern damals. Seit ich erwachsen bin, kommen wir jedenfalls gut miteinander klar, auch wenn wir in etlichen Belangen unterschiedliche Einstellungen und Denkansätze haben.
Das erwähnte auch Ihre Mutter. Sie sagt, dass sie versucht habe, „Ehe, Haushalt, Kinder und Job unter einen Hut zu bekommen“ und sich wegen dieses Spagats „innerlich oft sehr zerrissen“ fühlte. Sie wiederum gehörten einer Frauengeneration an, „die sich nicht mehr zwischen Kind und Karriere zerspragelt, sondern sich entscheidet: entweder für eine Familie mit einem partnerschaftlich denkenden und agierenden Mann – oder für eine Karriere.“ Das findet sie „super“!
Es freut mich, dass Mama das so sieht. Ich kenne tatsächlich viele Frauen meines Alters, die das so handhaben. Sie haben kein Bedürfnis, möglichst viel in ihr Leben zu quetschen, sondern selektieren, setzen Prioritäten und treffen ganz bewusste Entscheidungen. Auch auf mich trifft das zu. Nach meiner Kochlehre wurde ich Diplomkrankenschwester und war vor der Geburt meiner Kinder drei Jahre lang Pflegedienstleiterin in einem Seniorenheim mit über 100 Betten. Das war für mich Karriere genug! Ich hatte täglich 24 Stunden Verantwortung für fremde Leute. Jetzt will ich das nicht mehr. Viel wichtiger ist mir, bei meinen Kindern zu sein. Erstens, weil ich selbst erlebt habe, wie sehr die eigene Mutter fehlen kann. Zweitens, weil meine Kinder auch bei einem beruflichen Wiedereinstieg immer Vorrang für mich haben. Die Prioritäten in meinem Leben hat mir meine fünfjährige Tochter Linda verdeutlicht. Sie kam ein Jahr nach meiner Heirat mit meinem Mann Andreas kerngesund zur Welt. Doch als sie neun Monate alt war, hatte sie ihren ersten epileptischen Anfall und musste mehrere Tage in künstlichen Tiefschlaf versetzt werden. Das veränderte das Leben von uns allen.
Erzählen Sie mehr von Linda!
Linda war ein absolutes Wunschkind. Ich freute mich so sehr, als ich schwanger wurde. Alles war perfekt, dennoch war da ständig dieses diffuse und unerklärliche Gefühl, dass mit ihr etwas nicht stimmen könnte. Deshalb fuhr ich laufend zur Kontrolle ins Krankenhaus. Ich war also wirklich eine hysterische Schwangere! Die Ärzte versicherten mir bei jeder Untersuchung, dass alles okay sei, doch meine Angst begleitete mich weiterhin durch die gesamte Schwangerschaft. Auch nach der Entbindung war ich nervös und ließ Linda nie alleine. Daraufhin meinte eine Freundin meiner Mutter einmal süffisant: „Das arme Kind darf sich nicht einmal selbst umdrehen!“ Diesen Satz habe ich mir gemerkt, weil es wirklich so kam.
Ab dem Zeitpunkt, als Linda mitten in der Nacht ihren ersten Fieberkrampf hatte, waren Ihre Ängste und Sorgen berechtigt.
Richtig. Ich fand keine Ruhe mehr und interpretierte jede Zuckung von Linda. Ich hatte Panik vorm Aufstehen und Panik vorm Schlafengehen. Zuerst hoffte ich, dass diese Fieberkrämpfe wieder verschwinden, aber als sie oft bis zu einer Stunde krampfte, wusste ich, dass das nicht der Fall sein wird. Ich lief mit ihr von Pontius bis Pilatus, um eine Erklärung zu finden. Nach dem vierten Anfall initiierte eine Ärztin einen Gentest und sprach zum ersten Mal den Namen der Krankheit aus: „Dravet-Syndrom“. Ich habe diesen Begriff natürlich sofort gegoogelt. Die dort beschriebenen Symptome stimmten mit Lindas Symptomen überein. Mir war zum Speien schlecht! Das monatelange Warten auf die Befunde, die diese Diagnose bestätigten, war eine zusätzliche Qual. Schließlich wurde die Befürchtung wahr: Linda leidet aufgrund einer Gen-Mutation an dieser sehr seltenen und schwer zu behandelnden Form von Epilepsie.
Wie gingen Sie mit dieser Diagnose um?
Ich war ständig in Alarmbereitschaft, auch nachts, wenn sie zwischen meinem Mann und mir lag. Ich beobachtete pausenlos, welche Umgebungsbedingungen ihr gut tun und welche Faktoren Krampfanfälle begünstigen. Inzwischen wissen wir, dass Infekte oder Müdigkeit in Kombination mit Aufregung Anfälle befeuern. In der medizinischen Fachliteratur ist als Risikofaktor auch Sonnenlicht angeführt – und tatsächlich hatte Linda auch schon draußen zwei Anfälle. Sofort stellt man eine Verbindung her. Um potenzielle Gefahren zu vermeiden, tut man irgendwann gar nichts mehr. Dann sitzt man nur noch zuhause, hält sein Kind fest und ist starr vor Angst. Das alles trug dazu bei, dass ich mich jahrelang isolierte. Ich ging nirgendwo mehr hin, brach den Kontakt zu meinen Freundinnen ab und wollte mit keinem mehr reden. Denn entweder hatten die anderen in meinen Augen damals eh nur belanglose Probleme oder ich kein Interesse daran, andere mit meinen Problemen zuzupflastern. So drehte sich 24 Stunden am Tag alles um Linda und die Krankheit.
Wie wurde und wird ihre Epilepsie behandelt?
Als Linda zehn Monate alt war, musste sie bereits drei Arten von Anti-Epileptika nehmen, unter anderem ein Schlaf-und Beruhigungsmittel. Dadurch war sie tagsüber so sediert, dass ich sie nur noch herumtragen konnte. Nachts war sie dafür stundenlang wach, total überdreht und agitiert von den Medikamenten. Um sie zu beruhigen, fuhren mein Mann und ich mit ihr oft stundenlang im Auto durch die Gegend, bis sie irgendwann einschlief. Es war schrecklich für uns alle drei.
Ihre Mutter riet Ihnen damals, sich „mit dem Schicksal abzufinden und sich den Gegebenheiten anzupassen“. Umso erstaunter war sie, als Sie das Gegenteil taten. Dadurch hat sie von Ihnen gelernt, „dass es immer Möglichkeiten gibt, Situationen zu gestalten“. Sie selbst habe in ihrem Leben diese Möglichkeiten nie wahrgenommen, weil sie sich „keine Zeit zum Hinspüren, Nachdenken und Reflektieren genommen“ habe.
Wenn man sich mit seinem Schicksal abfindet, hat man verloren. Ich wollte nicht jammern und verzweifeln, sondern das Beste aus der Situation machen. So begab ich mich auf die Suche nach alternativen Behandlungsmethoden. Mein Wissen als Krankenschwester half mir dabei, denn so wusste ich, wo ich nach Forschungsartikeln und neuesten Studien Ausschau halten konnte. Im Zuge meiner Recherche stieß ich auf ein Medikament, das einen anderen Wirkmechanismus als herkömmliche Anti-Epileptika hat und in Deutschland kurz vor der Zulassung stand. Auch auf ein Härtefälle-Programm in Bayern wurde ich aufmerksam. Dieses Programm ermöglicht es, dass auch Kinder, die nicht Teil einer Studie sind, aber einer besonderen Medikation bedürfen, das Medikament vor der Erstzulassung erhalten. Kurzerhand rief ich dort an, erklärte den Verantwortlichen die Sachlage und schickte ihnen Lindas Befunde zur Ansicht. Schließlich wurden wir nach Bayern eingeladen und dort darüber informiert, dass es eine Chance gibt, die Arznei auch für Linda zu bekommen. Ihre behandelnde Neurologin am LKH Graz, die wir sehr schätzen, unterstützte uns dabei. Linda spricht auf dieses Medikament Gott sei Dank gut an. Dadurch konnten wir in den vergangenen eineinhalb Jahren zwei andere Medikamente absetzen – auch das besagte Schlafmittel. Jetzt nimmt sie zweimal täglich „nur“ zwei Medikamente in Form von Säften ein. Ich verabreiche sie ihr morgens und abends oral mit einer Spritze. Für Linda ist das ganz normal.
Wie hat Linda die Umstellung der Medikamente vertragen?
(seufzt tief) Eine Zeit lang musste sie vier verschiedene Medikamente einnehmen – und das mit drei Jahren! Diese vielen Pharmazeutika führten zu Nebenwirkungen. Deshalb waren wir froh, dass wir sie durch das neue damit beginnen konnten, die anderen abzusetzen. Doch das Ausschleichen, also langsame Reduzieren, musste sukzessive geschehen. Linda reagierte darauf wie eine Drogensüchtige auf Entzug. Sie litt unter Stimmungsschwankungen, Schreikrämpfen, unwillkürlichen Muskelzuckungen und vermehrten Krämpfen. Es war furchtbar mitanzusehen! Das vorsichtige Absetzen dauerte schließlich eineinhalb Jahre. Nach weiteren vier Monaten war sie zum ersten Mal anfallsfrei. Sechs Monate war Ruhe. Im Mai hatte sie leider aufgrund eines Infekts erneut einen Anfall. Doch Linda hat das Glück, dass sie noch Teil des Härtefälle-Programms ist. Andere Kinder hierzulande, die auch am „Dravet-Syndrom“ leiden, haben derzeit in Österreich noch keine Möglichkeit, es zu beziehen.
Müssen Sie Lindas Medikation aus eigener Tasche bezahlen?
Nein, die bezahlt die Herstellerfirma, solange sie im Härtefälle-Programm ist. Wenn das Medikament hoffentlich bald auch in Österreich zugelassen wird, wird hoffentlich die Versicherung für die Kosten aufkommen, denn Linda wird die Medikation ihr Leben lang brauchen. Es sei denn, es gibt in einigen Jahren eine Gentherapie. Darauf hoffen wir sehr, denn die Medikamente therapieren ja nur die Symptome.
Haben Sie sich bezüglich Gentherapie oder genbasierter Therapie schon erkundigt?
Ja. Sollte Linda zu den ersten Patientinnen zählen, die damit behandelt werden, werden wir mit ihr in die USA fliegen. Doch das ist vorerst noch ein Zukunftstraum. Bei der Gentherapie wird mithilfe eines Vektors, also eines manipulierten Virus, eine Gensequenz eingebaut, die in den Körper eingeschleust wird. Diese sucht sich im Gehirn die defekten Gene und ersetzt dort die fehlerhaften Teile. Doch bis diese Gentherapie in Europa zugelassen wird, wird es noch eine Ewigkeit dauern. Zu genbasierten Therapien wiederum, bei denen die Messenger-RNA beeinflusst wird, gibt es bereits klinische Studien. Bei dieser Form der Therapie wird zwei-bis dreimal im Jahr ein neuartiges Medikament ins Rückenmark injiziert. Diese Methode ist langfristig vermutlich gesünder und wirksamer als die Medikamenteneinnahme mit den vielen Nebenwirkungen. Ich habe mit einer Wissenschaftlerin Kontakt aufnehmen können, die nun mit Lindas Zellen forscht. Bei ihr haben wir also schon einen Fuß in der Tür, damit wir auch wirklich in der ersten Reihe stehen, wenn es einmal so weit sein sollte. Hoffentlich ist das schon in nächster Zukunft der Fall.
Als Krankenschwester haben Sie Ahnung von der Materie. Andere Kinder, deren Eltern sich nicht für neueste Behandlungsmethoden interessieren, haben es da gewiss schwerer.
Mein Mann, er ist Finanzpolizist, kann mit der englischen Fachliteratur auch nichts anfangen. Trotzdem muss man sich informieren, sonst erfährt man nicht, wo man sich anstellen kann. Ich lese mich ein, aber die Entscheidungen treffen wir immer gemeinsam.
Wirkt sich der Gendefekt Ihres Kindes eigentlich auch auf Ihre Partnerschaft aus?
So eine Herausforderung ist immer eine Zerreißprobe für die Ehe, da brauchen wir gar nichts beschönigen. Aber zum Glück stand unsere Beziehung nie so wirklich an der Kippe. Natürlich hat man kaum noch ein Bedürfnis nach körperlicher Nähe – er vielleicht noch mehr als ich. Zu den schlimmsten Zeiten interessierte mich Zweisamkeit überhaupt nicht mehr. Aber wir haben es gemeinsam geschafft und sind als Paar gestärkt aus diesen herausfordernden Anfangsjahren hervorgegangen. Andreas hat von Beginn an bei den Kindern und im Haushalt mit angepackt. Dafür bin ich ihm dankbar, nur so konnten wir es schaffen.
Linda ist aufgrund ihres Gendefekts auch entwicklungsverzögert. Wie weit ist sie inzwischen?
Sie entwickelt sich sehr gut, sie kann gehen, hüpfen, Roller fahren und einfache Sätze reden. Seit Herbst 2020 besucht sie außerdem einen heilpädagogischen Kindergarten. Zuerst hatten wir Bedenken sie dahinzuschicken, wegen der vielen Kinder und der Aufregung, aber es taugt ihr total. Sie nimmt auch sehr viel mit, weil sie dort logo-und ergotherapeutisch betreut wird. Auch eine Psychologin ist Vorort.
Und ab wann ging es Ihnen besser?
Ab dem Zeitpunkt, als ich von dem Medikament in Deutschland las und wusste, dass wir es Linda erhalten würden. Da beschlossen mein Mann und ich, noch ein zweites Kind zu bekommen. Bei dieser zweiten Schwangerschaft hatte ich interessanterweise gar keine Angst. Da fühlte ich, dass alles passt und war voller Vertrauen. Empfindungen kann man halt nicht erklären. Fünf Wochen vor der Geburt unseres Sohnes – Jan ist heute zwei Jahre alt – bekam Linda das neue Medikament. Ich hatte zwar einen Säugling und ein dreijähriges Kind im Drogenentzug daheim, aber ich spürte, es geht bergauf. Erstens war meine Aufmerksamkeit fortan nicht mehr nur auf Linda konzentriert. Zweitens konnte sie allmählich benennen, wenn es ihr nicht gut ging – davor hatte ich immer raten müssen. Drittens war ich nicht mehr ihre einzige Bezugsperson, denn irgendwann wenden sich Mädchen ja verstärkt den Vätern zu. Viertens wurde sie immer selbstständiger. Ich konnte beobachten, wie sie in ihre eigene Kraft kam und begann, sich fürs Leben zu interessieren. So konnte ich sie eines Tages auch stundenweise einer Tagesmutter anvertrauen, damit Linda am sozialen Leben teilhaben konnte.
Wie hat sich Ihr eigenes Leben seither verändert? Sie waren ja jahrelang nur mit diesem einen Thema beschäftigt.
Ich merke, dass ich langsam aus meinem Schneckenhaus komme und mich wieder mehr meinem eigenen Leben zuwende.Hilfreich ist dabei der Austausch im Rahmen von Online-Selbsthilfegruppen, auf der betroffene Eltern und Angehörige über ihre Erfahrungen reden können. Manche Mütter in diesem Forum sind echte Kampfhennen und lassen ihren Emotionen freien Lauf. Das tue ich nicht. Ich informiere mich lieber sachlich in der internationalen Selbsthilfe-Gruppe, zu der rund 2.000 Mitglieder zählen. Dort werden wertvolle Informationen geteilt – etwa über das Lukrieren von Forschungsgeldern, klinische Studien und neue Therapien. Seit Oktober 2020 mache ich außerdem eine Ausbildung zur Lehrerin für Gesunden-und Krankenpflege. Die Lehrveranstaltungen finden Corona-bedingt vorerst online statt, was super ist, weil ich so auch auf die Kinder schauen kann. Zu gegebener Zeit, wenn Jan in den Kindergarten geht, möchte ich dann auch arbeiten. Teilzeit, versteht sich.
Ihre Mutter sagt: „Solange Frauen weniger verdienen als Männer, werden sie in Teilzeit arbeiten. Dadurch bleiben sie immer im Nachteil – auch wegen der geringeren Pension.“ Deshalb fordert sie das Schließen der Gehaltsschwere zwischen den Geschlechtern.
Ich bin auch für Gleichberechtigung! Aber ich halte nichts davon, wenn Frauen dazu angehalten werden, Mechanikerinnen oder Quantenphysikerinnen zu werden, nur damit bewiesen ist, dass Frauen solche Jobs genauso gut ausüben können wie Männer. Ich halte auch nichts davon, wenn sich Feministinnen darüber beschweren, wenn andere Frauen anders leben wollen als sie. Bei jungen Frauen ist heiraten wieder „in“. Ich sehe darin noch keinen Backlash oder eine Gefahr, dass es zurück an den Herd geht. Zu jeder Bewegung gibt es eine Gegenbewegung. Früher zum Beispiel durfte keine Frau arbeiten gehen, dann wurde es fast zu einer Pflicht, wenn frau nicht gesellschaftlich geächtet werden wollte. Eines Tages wird sich das einpendeln. Dann kann hoffentlich jede und jeder frei entscheiden, was sie oder er will. Bis dahin müssen wahrscheinlich beide Extreme ausprobiert werden. Ich jedenfalls verstehe nicht, warum Teilzeit arbeitende Mütter und Väter, die mehr Zeit ihren Kindern widmen wollen, schief angeschaut werden. Warum ist es schlecht oder weniger erstrebenswert, wenn Eltern bei ihren Kindern sein wollen? Mein Mann hat die Väterkarenz genutzt. Meine Freundin wäre auch gerne zuhause bei ihren Kindern, hat aber nicht die finanziellen Möglichkeiten. Deshalb ist sie jetzt in Bildungskarenz und hat zumindest so neben ihrer Ausbildung mehr Zeit für ihre Kinder. Ich wäre dafür, dass Mütter oder Väter, die den Hauptpart der Kindererziehung übernehmen, einen Erziehungszuschuss erhalten. Damit wären sie finanziell abgesichert, wenn Partnerschaften auseinander gehen und auch die Gesellschaft könnte profitieren. Denn wenn Kinder unsere Zukunft sind, sollten wir gewährleisten, dass sie in Familien aufwachsen, wo ihnen genug Liebe und Aufmerksamkeit geschenkt wird. Wenn Mutter und Vater Vollzeit arbeiten, ist das erfahrungsgemäß kaum möglich.
Sie haben den Vorteil, dass Ihre Eltern im Haus nebenan wohnen und Ihre Kinder mitbeaufsichtigen könnten. Nutzen Sie diesen Vorteil?
Nein. Meine Eltern schauen schon auf meine Nichten und haben zu deren Erziehung viel beigetragen. Auf meine Kinder passten sie lange Zeit nicht auf, weil ich Linda nie aus der Hand gab. Bis heute war sie noch nie ohne mich bei ihrer Oma. Erst seitdem ich meine Ausbildung mache, lasse ich zu, dass Mama auf Linda und Jan schaut, wenn ich vor dem Computer sitze. Allerdings hütet sie die Kinder nur bei uns im Haus, damit ich sofort zur Stelle sein kann, sollte Linda einen epileptischen Anfall bekommen. Es wäre für mich keine Entlastung, wenn meine Mutter Linda für ein paar Stunden zu sich nimmt, weil ich gedanklich immer bei der Kleinen wäre. Mir geht’s am besten, wenn ich selbst in der Nähe meiner Tochter sein kann. Dafür nehme ich ein reduziertes Leben gerne in Kauf. Das ist es mir wert. Mit Jan halte ich es genauso. Zum einen bin ich einfach traumatisiert und schaffe es noch nicht, die Kinder loszulassen, zum anderen wäre es nicht fair, wenn Jan zur Oma dürfte und Linda nie.
Gibt es gelegentlich Momente, die Sie nur für sich selbst haben?
Ja, die gibt es abends, wenn die Kinder schlafen. Dann schauen mein Mann und ich Netflix-Serien. Einen Moment, der nur mir allein gehört, brauche ich nicht, vermisse ich nicht. Ich wüsste auch nicht, was ich da tun sollte. Innehalten und in mich gehen?
Zum Beispiel!
Ich habe es vor den Kindern mal mit Yoga und Pilates probiert, aber das ist nicht das Passende für mich. Mir geht es am besten, wenn ich mit meiner Familie zusammen sein kann.
Seit 2015 ist Evelyn mit ihrem Mann Andreas verheiratet: „Erst seit ich ihn kenne, hatte ich den Wunsch, Mutter zu werden. Für mich ist diese Aufgabe die schönste Berufung“, sagt sie.
Petra Klikovits
In ihrer monatlichen Onlinekolumne „Meine wunderbare Tochter“ führt Petra Klikovits bewegende Gespräche mit Töchtern, Schwiegertöchtern, Enkeltöchtern, Stieftöchtern, Adoptivtöchtern, Pflegetöchtern, Patchwork-Töchtern und anderen Bonustöchtern von Leserinnen, die auf diese via meinewunderbaretochter@welt-der-frauen.at aufmerksam machen. Mehr von Petra Klikovits lesen Sie jeden Monat in Welt der Frauen.
Fotos: privat