Martin Prein: „Wir müssen unsere Ängste kennen“

Martin Prein: „Wir müssen unsere Ängste kennen“
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  • Veröffentlicht: 02.11.2021
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Wir verdrängen den Gedanken an den Tod? Das ist nur zu verständlich, sagt der Psychologe, Thanatologe und ehemalige Bestatter Martin Prein. Ein Gespräch über das Sterben, das unmögliche Loslassen, Todesangst – und das Leben.

Saskia Blatakes: Wie kann man weiterleben, wenn man vor Trauer das Gefühl hat, die Welt bleibe stehen?

Martin Prein: Es gibt diesen hilflosen Satz: „Das Leben geht weiter.“ Aber das Leben geht nicht mehr weiter. Ich habe eine Frau betreut, die ihr Kind verloren hatte und sagte: „Ich halte diesen Schmerz nicht mehr aus. Ich schaue auf die Uhr und es ist drei Uhr. Wenn ich gefühlt Stunden später wieder zur Uhr blicke, sind nur ein paar Minuten vergangen.“ Die Trauer verändert alles, auch das Zeiterleben. Aber natürlich haben wir eine psychische und physische Überlebenskraft. Normalerweise erlebe ich meine KlientInnen nur in den akuten Tagen, Stunden oder Wochen. Aber wenn sie ein oder zwei Jahre nach einem schmerzhaften Verlust in meine Praxis kommen, finde ich es immer wieder erstaunlich, wie sie es doch schaff en und weiterleben. Sie zerbrechen nicht, aber sie werden auch nicht wieder dieselben wie zuvor.

Die Zeit heilt also nicht alle Wunden?

Nein, viele dieser allgemeinen Weisheiten sind falsch. Auch die Auff assung, dass die Trauer immer in Phasen verlaufe – wie Leugnen, Wut, Verhandeln, Depression und Annahme –, stimmt nicht. Das lässt sich empirisch nicht nachweisen. Manchmal glaubt jemand, dass er die Trauer nach ein oder zwei Jahren halbwegs überwunden hat. Dann trifft ihn die Erkenntnis wieder wie ein Schlag: „Die Person, die ich verloren habe, kommt nie wieder!“ Neulich hat mir eine Frau erzählt, dass sie auch acht Jahre nach dem Tod ihres Mannes manchmal, wenn sie morgens im Bett liegt, das Gefühl hat, er läge neben ihr. Das ganze Gerede vom Loslassen ist Blödsinn! Man kann nicht loslassen. 

In Ihrem Podcast und Ihrem neuen Buch „Dr. Prein und der Tod“ kritisieren Sie unseren Umgang mit dem Sterben. Was läuft schief? 

Es gibt zwei Sätze, die man immer wieder hört und liest. Erstens: „Wir verdrängen den Tod.“ Zweitens: „Wir müssen uns wieder mit dem Tod befassen.“ Das Problem ist, dass diese Sätze meistens aus sehr sicherer Distanz formuliert werden. Mich treibt die Frage um: Wie gehen wir kulturell und gesellschaftlich damit um, dass wir alle eines Tages sterben werden? Wir sind alle Sterbende. Was tun wir mit diesem Wissen? Heute wird vor allem im hohen Alter gestorben und das meistens im Krankenhaus oder im Altenheim. Menschheitsgeschichtlich ist das ein Novum. Früher starben mehr Menschen in jungem Alter, und es wurde sichtbar gestorben. Deshalb ist der Volksglaube voll von Ritualen und Abwehrhandlungen. 

Zum Beispiel? 

Der Verstorbene musste mit den Füßen zuerst aus dem Haus getragen werden, weil man fürchtete, er könne sonst irgendwie als Geist im Haus verbleiben. Schwangere durften Tote nicht angreifen. In meiner Heimat Oberösterreich gibt es diese Tradition, dass im Haus eines Toten ein Körberl Brot und Most beim Eingang stehen. Erst, wer etwas gegessen und getrunken hat, darf das Haus verlassen, weil man fürchtet, man nähme den Toten sonst mit nach Hause. Das alles zeigt unsere Angst vor den Toten. Wenn wir das Sterben wieder nach Hause verlagern würden – statt es in Krankenhäuser und Altenheime auszulagern –, hätten wir ganz schnell wieder solche Rituale. 

Gab es früher einen entspannteren Umgang mit dem Tod, weil er uns näher und damit alltäglicher war? 

Nein, diese Verklärung des „Früher“ ist falsch. Auch die romantische Vorstellung, dass Naturvölker natürlicher mit dem Tod umgingen, stimmt nicht. Alle Völker der Welt haben Riten und Mythen im Zusammenhang mit toten Menschen. Auch Halloween oder der mexikanische Totentag gehören dazu. All diese Rituale dienen ähnlichen Zielen: Erstens will man den Toten nicht erzürnen. Zweitens will man sich selbst von der Leiche und dem Tod im Allgemeinen distanzieren. Drittens wollen wir eine Ordnung herstellen, eine Trennung der Welt der Toten von der Welt der Lebenden. Die beiden Welten sollen sich nicht vermischen. 

Wie könnten wir es besser machen? 

Wir können gar nicht anders, als den Tod zu verleugnen, unsere Biologie, unser Gehirn sind danach ausgerichtet. Symbolisch versuchen wir, unsterblich zu werden, indem wir ein Buch schreiben, ein Kind zeugen, einen Baum pflanzen. Emotional können wir uns gar nicht mit dem Tod auseinandersetzen, das geht nur intellektuell. Und das müssen wir tun: Wir müssen kennenlernen, was da in uns unter einem dicken Mantel schlummert. Wir müssen unsere Ängste, unsere Todesängste kennen. Umso besser wir um unsere Ängste wissen, desto weniger verführbar werden wir. Leider leben wir in einer angstfeindlichen Gesellschaft. Oft heißt es: Die Menschen beschäftigen sich nicht mit dem Tod, und wenn dann jemand stirbt, rennen sie kopflos herum. Ich frage: Wen stört das, wenn ich kopflos herumrenne? 

Was braucht jemand, der gerade einen geliebten Menschen verloren hat? 

Wir brauchen ein „Hilfs-Ich“, einen Menschen, der uns so aushält, wie wir gerade sind. Mit all unserer Sprachlosigkeit, Ohnmacht, Wut oder Schuldgefühlen – ohne dass er uns das ausreden will.

Angesichts einer Leiche sagen viele: „Das ist nicht mehr derselbe Mensch!“ Was steckt dahinter? 

Das ist das Leichenparadox: Das ist zwar die bekannte, geliebte Person, aber irgendwie auch nicht mehr. Der Mensch liegt plötzlich stumm und blicklos vor uns. Das kann im ersten Moment befremdlich sein. Auch das Gesicht kann sich verändern. Die Muskulatur erschlafft wie sonst nie im Leben. Wir sagen: „Nein! Das ist noch lange nicht alles! Das ist nur eine Hülle!“ Aber vielleicht ist es genau das: Mehr sind wir nicht. Und das halten wir nicht aus. Mir ist völlig klar, warum weite Teile der Menschheit auf die Idee gekommen sind, es gäbe so etwas wie eine Seele. Weil der Tod nämlich sonst unerträglich ist.

Aber es bleibt doch etwas von einem Menschen, wenn sein Körper stirbt. 

Na ja, dieser Tote lebt vielleicht in den Menschen weiter, die ihn kannten. Aber auch die gibt es irgendwann nicht mehr. Vollkommen klar, dass wir alle sterben werden. Die Erde hat Milliarden Jahre ohne uns existiert und es wird sie auch ohne uns geben. Friedrich Nietzsche hat einmal wunderschön gesagt: „Wir waren da und wir werden wieder weg sein. Und wenn wir wieder weg sind, wird sich nichts begeben haben.“ Davon vermittelt uns der Leichnam einen Eindruck. Deshalb veranstalten wir so ein Brimborium. Trauerund Begräbnisrituale sind wichtig. Aber es gibt die Tendenz, alles, was mit dem Tod zu tun hat, bildsprachlich weichzuzeichnen: mit Wölkchen, Herbstlaub, Engerln oder Teelichtern. Diese „Verteelichtung“ des Todes kritisiere ich. 

„Es regt mich auf, wenn mit Betroffenen umgegangen wird, als seien sie kleine unmündige Kinder.“

Sie waren Busfahrer, Sanitäter, Bestatter und arbeiten jetzt als Psychologe. Wie hat sich Ihr persönlicher Zugang über die Jahre verändert?

Bei mir hat es eine massive Entzauberung der Weltbilder gegeben. Bis vor zehn Jahren war ich noch spirituell, aber das ist vollkommen weg. Ich bin vor einiger Zeit selbst in eine Todesbedrohung gekommen, das hat viel verändert. Ich hatte einen vermuteten Herzinfarkt inklusive Notarzt und Schockraum. Ab da war mir klar: Wir müssen uns dieser nackten Tatsache stellen, dass da nichts ist.

Finden Sie das traurig?

Einerseits beneide ich manchmal gläubige Menschen. Andererseits finde ich ein nüchternes Weltbild gut, weil ich glaube, dass wir in der Evolution diesen Aspekt der Todesverleugnung, der uns lange auch vorangebracht hat, überwinden müssen. Der monotheistische Glaube hat viel Unruhe gestiftet und tut es immer noch. Wir müssen begreifen, dass wir ihn nur brauchen, um unsere tiefste Angst zu beruhigen.Wenn wir uns gegenseitig in dieser Not der Todesfurcht sehen, könnten wir alles tun, um uns gegenseitig das Leben etwas leichter zu machen. Das meine ich nicht sozialromantisch, sondern ganz konkret: Wir haben nichts außer uns und dieser Zeit. Wir müssen schauen, dass es allen gut geht. Nichts darf darüberstehen – kein Gott und auch sonst nichts. Aber bis diese Erkenntnis sich durchsetzt, werden wohl noch ein paar Hunderttausend Jahre vergehen.

Wie kann man sich auf das eigene Sterben vorbereiten?

Viele von uns kennen Panikattacken. In ihnen bekommt man einen ganz kleinen Eindruck davon, wie es ist, wenn die Betonschicht der Todesverleugnung plötzlich ganz haarfeine Risse kriegt. Oder wenn man einen verdächtigen Knoten entdeckt und auf die Diagnose des Arztes warten muss. Es heißt immer: Befasse dich mit dieser Angst, besiege sie und dann kannst du friedlich und gelassen gehen. Ich glaube, das geht nicht. Es ist zu schwierig, zu tiefschichtig. Manchmal wird es einem plötzlich – vielleicht kurz vor dem Einschlafen – ganz deutlich gewahr: Ich werde einmal sterben, ich werde einmal ausgelöscht sein. Es ist völlig natürlich, dass wir uns gegen den Tod wehren. Kranke sollen immer positiv denken, man sagt ihnen dauernd: „Glaub an dich! Sei stark!“ Wenn sich die Krankheit als unheilbar herausstellt und der Kranke sich wehrt und nicht aufgeben will, heißt es plötzlich: „Du musst loslassen!“ Warum sollte er?

Was hat uns die Coronakrise über unser Verhältnis zur Vergänglichkeit gezeigt?

Wir meinen, wir könnten alles haben und alles kontrollieren. Der Tod führt uns vor Augen, dass das eine Illusion ist, und das Coronavirus ist ein gutes Beispiel dafür. Es zeigt unsere Kreatürlichkeit: Wir sind völlig hilfl os in diese Natur hineingeworfen. Es ist lächerlich, zu denken, der Mensch beherrsche die Natur. Und dann kommt so ein kleines Kugerl und macht uns völlig fertig. Trotz technischen Fortschritts reagieren wir mit ganz einfachen, 100.000 Jahre alten Reflexen: Angst, Flucht, Suche nach Schutz. Was machen wir erst, wenn ein noch viel gefährlicheres, tödlicheres Virus kommt? Dann brauchen wir keine Kassiererinnen mehr beklatschen, denn dann sitzt dort niemand mehr. 

Martin Prein (geb. 1975) in Grieskirchen, ist gelernter Rauch fangkehrer, arbeitete als Metallarbeiter, Busfahrer und Sanitäter, bevor er Bestatter wurde. Als Arbeiterkind traute er sich lange kein Studium zu. 2003 startete er dennoch sein Psychologiestudium, machte das Doktorat und gründete das Institut für Thanatologie, der Wissenschaft vom Tod und der Sterblichkeit, in Linz. Er arbeitet als Thanatologe und Notfallpsychologe.

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