Marie Marvingt lebte tausende Leben in einem: Sie erfand die Luftrettung, flog als erste Frau mit einem Heißluftballon über die Nordsee, bestieg die höchsten Gipfel der Alpen, diente als Kampfpilotin und war ganz nebenbei noch ein sportliches Universaltalent.
Es ist noch früh, als Marie Marvingt ihr Rad an die Startlinie schiebt. Genau einen Tag ist es her, dass hier die Tour de France begann. Mehr als hundert RadfahrerInnen starteten unter dem Jubel der ZuseherInnen in das Rennen des Jahres 1908, das sie über 4.500 Kilometer durch ganz Frankreich führen wird. Jetzt ist niemand mehr hier. Die Sonne steigt langsam über die Dächer des sommerlichen Paris, die Straßen sind verlassen.
Marie schiebt mit dem Fuß eines der vergessenen Papierfähnchen beiseite, die die Ränder der Strecke säumen. Dann steigt sie auf ihr Rad. Man kann ihr verbieten, am Rennen teilzunehmen, weil sie eine Frau ist. Aber niemand kann sie daran hindern, einfach einen Tag später loszufahren. Denn wer kann die Tour de France beenden, wenn nicht die Braut der Gefahr?
Meisterin „aller Sportarten“
Marie Marvingt kommt im Februar 1875 im französischen Aurillac zur Welt. Ihre Eltern, der Postbeamte Félix Marvingt und seine Frau Élisabeth, haben zuvor drei Söhne verloren. Auch Maries jüngerer Bruder Eugène bleibt zeitlebens kränklich. Deswegen teilt ihr Vater seine Liebe zum Sport mit der kleinen Marie.
Schon früh zeigt sie unfassbares Talent: Sie schwimmt, reitet, ficht, fährt Ski, besteigt Berge, spielt Tennis, Fußball und Hockey, gewinnt als Schützin Meisterschaften und lernt nebenher noch Seiltanz. Alles fällt ihr spielerisch leicht. Als sie fünfzehn Jahre alt ist, fährt sie mit dem Kanu alleine 400 Kilometer von Nancy nach Koblenz.
Das ist für ein Mädchen im Jahr 1890 mehr als ungewöhnlich, doch das interessiert Marie nicht. Sie ist ehrgeizig, eigensinnig und liebt Herausforderungen – je gefährlicher, desto besser. Mit achtundzwanzig Jahren besteigt sie als erste Frau die höchsten Gipfel der Alpen. Mit dreißig Jahren schwimmt sie in der Seine durch ganz Paris, woraufhin die Zeitungen ihr wegen ihres feuerroten Badeanzugs den Spitznamen „Die rote Amphibie“ verpassen.
Mit dreiunddreißig Jahren fährt sie alleine die Tour de France und schließt das Rennen ab, während zwei Drittel der männlichen Teilnehmer es nicht ins Ziel schaffen. Und als sie fünfunddreißig Jahre alt ist, kann niemand mehr ihre Talente ignorieren: Die französische Académie des Sports verleiht ihr als erstem und bisher einzigem Menschen überhaupt eine Goldmedaille „in allen Sportarten“.
Fliegen für das Gute
Doch seit Marie das erste Mal in den Korb eines Heißluftballons gestiegen ist, ist ihre wahre Leidenschaft das Fliegen. Zunächst macht sie, was Marie Marvingt eben so macht: Sie fliegt als erste Frau mit einem Heißluftballon über die Nordsee nach England. Danach lässt sie sich als eine der ersten Französinnen zur Pilotin ausbilden und stellt einen Weltrekord im Weitfliegen auf.
Den Namen „Braut der Gefahr“ trägt sie da schon lange und mit Stolz, doch es ist etwas anderes, das sie bewegt: Nämlich die Fliegerei nicht nur für Abenteuer und Kriege einzusetzen, sondern auch für das Gute. Marie möchte eine „Luftambulanz“ gründen. Mit Flugzeugen, so ihre Idee, könnte man Verletzte auch an abgelegenen Orten erreichen, versorgen und bergen. Doch die französischen Behörden haben kein Interesse an ihrer Idee.
Marie gibt nicht auf und lässt ein Flugzeug nach ihren Vorstellungen bauen, doch der Betrieb geht in Konkurs, bevor ihr Projekt vollendet ist. Als der Erste Weltkrieg ausbricht, lässt sie sich zur Krankenschwester ausbilden. Danach wendet sie sich erneut an den französischen Staat – und wird erneut abgewiesen. Stattdessen fliegt sie als Kampfpilotin Angriffe auf Deutschland. Doch die Luftambulanz wird ihr Lebenswerk.
Marie bereist die Welt und wirbt auf tausenden Konferenzen und Seminaren für ihre Idee. 1934, vierundzwanzig Jahre nachdem sie sich das erste Mal an die französischen Behörden gewandt hat, wird ihr endlich erlaubt, in Marokko eine Flugambulanz einzurichten. Das Projekt wird ein Erfolg, und Marie für ihre Verdienste mit der marokkanischen Friedensmedaille ausgezeichnet.
In den Jahren danach entwickelt sie ein Ausbildungsprogramm für Luftretterinnen. Sie selbst wird die erste zertifizierte Luftkrankenschwester. Als der Zweite Weltkrieg ausbricht, kommt ihr Korps zustande – fünfhundert „Fliegende Schwestern“ und weibliche Pilotinnen melden sich, um Verwundete aus der Luft zu versorgen. Und die Liebe zur Fliegerei lässt Marie nie wieder los: Mit achtzig Jahren lernt sie noch, einen Hubschrauber zu fliegen.
Damit kann sie Heißluftballone, Flugzeuge, Wasserflugzeuge und Hubschrauber steuern. Für ihr Lebenswerk erhält sie dutzende Auszeichnungen und wird in die französische Ehrenlegion aufgenommen. 1963 verstirbt sie im Alter von achtundachtzig Jahren in einem kleinen Dorf im Nordosten Frankreichs. Das Gesicht der „Braut der Gefahr“ ziert heute eine Briefmarke der französischen Luftpost.
Ricarda Opis
wurde 1996 in Graz geboren und studierte ebendort Journalismus und Public Relations (PR). Sie erzählt am liebsten die Geschichten von Frauen und Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen. Für diese Serie verbindet sie ihre beiden größten Leidenschaften, indem sie die Geschichten großer Frauen nicht nur erzählt, sondern auch bebildert. Wenn sie nicht gerade schreibt oder zeichnet, begeistert sie sich für alles, was sonst noch kreativ ist, und die Geschichte, Kulturen und Politik des Nahen Ostens.