Die acht steilen Treppenstufen, die zum Haus von Luisa hinunterführen, sind meist von den zahlreichen Katzen belagert, die ihr Leben begleiten. Im Schloss der olivgrünen Holztür steckt tagsüber immer der Schlüssel – ein Zeichen jenes Urvertrauens, das in Zeiten großstädtisch geprägter Zivilisation beinahe ausgestorben ist und nur mehr vereinzelt in kleinen Dörfern, wo jeder jeden kennt, überleben konnte. Der außen steckende Schlüssel signalisiert, dass sie zu Hause ist und dich sicher gleich mit einem Lächeln, einem Kaffee oder mit einem Gläschen hausgemachten Myrtenlikörs begrüßen wird – falls davon noch etwas übrig ist.
Die aromatischen Myrtenbeeren pflückt sie immer auf dem Weg zum Friedhof im höher gelegenen Teil der Insel. Luisa begrüßt alle und hinterlässt bei allen eine bleibende Erinnerung an den Ort ihres Lebens – an diese schöne und zugleich verdammte Insel.
Gorgona ist die kleinste und nördlichste der toskanischen Inseln und ein Mikrokosmos voller Kontraste: Sie liegt inmitten einer Meeresfläche, die als Heiligtum der Wale bezeichnet wird, sie ist Nationalpark, letzte Gefängnisinsel Italiens und Europas, landwirtschaftlicher Großbetrieb und Ort für hoffnungsvolle Experimente und altes Leiden gleichermaßen.
Luisas Haus bildet mit etwa zwölf anderen das alte Fischerdorf, das im 18. Jahrhundert entstand, noch bevor dort 1869 die Strafkolonie mit angeschlossener Landwirtschaft angesiedelt wurde. Der Großherzog der Toskana hatte die Verbannung der Häftlinge angeordnet in der Absicht, die Läuterung und moralische Erneuerung der Verbannten durch landwirtschaftliche Arbeit zu fördern.
Gorgona: ein düsterer Name
Die Geschichte von Gorgona ist seit jeher mit Plagen und Leiden verbunden; darauf deutet schon der Name der Insel hin, denn „gorgo“ bezeichnet im Italienischen den Graben, den Abgrund, die Tiefe, in die man stürzen kann oder die einen hinabzieht. Nicht von ungefähr war in der griechischen Mythologie der Anblick der drei Gorgonen – Stheno, Euryale und Medusa – grauenerregend, und wer es wagte, ihnen in die Augen zu blicken, wurde augenblicklich versteinert. Zudem verkörperten die Gorgonen die Perversion in ihren drei Ausprägungen: in der Sexualität, in der Moral und im Intellektuellen.
Dem düsteren Ursprung des Namens entsprechend stellt die Insel Gorgona alle – Inhaftierte wie freie BürgerInnen, Menschen wie Tiere – auf harte Proben. Auch Luisa blieb davon nicht verschont, obwohl man es der betagten und zierlichen Person heute kaum ansieht. Zwei Schlüsselbegriffe erklären ihr Leben: Schicksal und Mut. Aber der Reihe nach.
Bonbon unterm Kissen
Am Küchentisch mit Blick auf den Strand des kleinen Hafens hat sie mir oft ihre Geschichte erzählt: Als sie am 12. Februar 1927 zur Welt kam, schrie und weinte sie nicht wie die meisten Neugeborenen. Ihre Eltern nahmen dies als Zeichen mangelnder Vitalität und riefen in ihrer Sorge den Inselpriester, um für das vorzeitige Dahinscheiden der Tochter gerüstet zu sein. Weil sie als Säugling zudem wenig Appetit zeigte, blieb bei ihrer Mutter die Milch aus, woraufhin der Vater von der etwa 20 Meilen entfernten Insel Capraia eine Ziege zur Ernährung der Tochter kommen ließ.
Später hatte sie als Kind von neun Jahren ein traumatisches Erlebnis zu verarbeiten: Luisa erzählt mit schwacher und zugleich fester Stimme vom Verlust ihres über alles geliebten Vaters, der sie jeden Morgen mit einem Bonbon unter ihrem Kopfkissen überraschte. Ihr Vater war als Leuchtturmwärter mit dem Meer vertraut. Eines abends, kurz vor Ostern, fuhr er zusammen mit einem Cousin zum Fischen aus, um mit dem Fang den Verwandten ein Ostergeschenk zu bereiten. Eine große Welle, wahrscheinlich von einem in zu nahem Abstand vorbeifahrenden Schiff, brachte das kleine Ruderboot zum Kentern.
Am Ostersonntagmorgen fand sie zuerst das vertraute Bonbon unter ihrem Kopfpolster und später den toten Vater auf dem marmornen Küchentisch – dieser Tisch ist heute noch erhalten.
Das karge Leben auf einer kleinen Insel in den Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, zwischen Fischfang und in der Landwirtschaft arbeitenden Häftlingen, ist heute kaum vorstellbar. Insgesamt lebten damals noch viel mehr Menschen auf Gorgona. Die Einwohnerschaft bestand aus den ansässigen Familien – auch Zivilisten genannt – und den Mitarbeitern der Gefängnisverwaltung. Luisa erzählt, dass das Zusammenleben einigermaßen konfliktfrei funktionierte und der Inselbevölkerung ein Auskommen sicherte, ohne ständige Entbehrungen, wie sie damals auf anderen kleinen Inseln typisch waren.
Rückkehr auf die Insel Gorgona
Schon im zarten Alter von 15 Jahren heiratete Luisa einen kaum älteren Soldaten aus Florenz. Angesichts ihrer Jugend warteten sie noch einige Jahre, bis sie ihre Kinder Paola und Renzo in die Welt setzten. Danach übersiedelten sie für viele Jahre nach Florenz. Die Hauptstadt der Toskana sieht sie auch heute noch als ihr bevorzugtes Zuhause, und dort erlebte sie unter anderem auch das verheerende Arno-Hochwasser vom 4. November 1996. Nach dem frühen Tod ihres Gatten entschloss sich Luisa, mit ihren damals schon erwachsenen Kindern nach Gorgona zurückzukehren – und seit damals hat sie die Insel nur mehr für kurze Ausflüge verlassen.
Das Fischerdorf liegt wie ein weißer Fleck wenige Meter hinter der schmalen Hafeneinfahrt. Luisas Haus war eines der ersten hier, und die Zeit und die salzigen Winde Scirocco und Grecale haben besonders an den Fensterrahmen deutliche Spuren hinterlassen. Die Fenster sind nach Osten gerichtet, in Richtung des Festlandes und der etwa 18 Kilometer entfernten Stadt Livorno.
Luisas Zimmer liegen im zweiten Stock des würfelförmigen, weiß getünchten Hauses; eine kleine Treppe führt an den kleinen Strand. Diese Treppe war Schauplatz einer weiteren dramatischen Episode in ihrem Leben: Im September 1994 hatten tagelang anhaltende Regengüsse die Erde auf der sonst eher niederschlagsarmen Insel aufgeweicht.
Angesichts der steilen Abhänge ohne Befestigungsmauern und des Fehlens jedweder Kanalisation ergab sich eine bedrohliche Lage. Als der Regen, statt nachzulassen, immer stärker wurde, beobachtete Luisa das Inferno von ihrem Küchenfenster auf der Meerseite des Hauses mit ihrem Feldstecher, als sie plötzlich von einem lauten Krachen hinter ihr überrascht wurde. Eine Schlammlawine hatte sich den Abhang heruntergewälzt und die Haustüre zertrümmert. Luisa wurde von den Schlammmassen in ihrer Küche erfasst und aus dem Fenster gerissen; über die darunterliegende kleine Treppe strömte die Lawine weiter ins Meer.
Wunder der Rettung
Wie durch ein Wunder bemerkten NachbarInnen einen menschlichen Arm, der aus den schmutzig braunen Fluten ragte, und sie kamen Luisa zu Hilfe; wenige Augenblicke später hätte es keine Rettung mehr gegeben. Das schlammige Wasser war bereits in ihre Lunge eingesickert, und die Stürze hatten ihr einige Rippen gebrochen, sodass Luisa erst nach monatelanger Spitalsbehandlung wieder nach Gorgona zurückkehren konnte.
Heute noch gehört es zum Ritual beim Besuch von guten FreundInnen, sich mit dem Feldstecher in der Hand aus besagtem Küchenfenster zu lehnen und dabei das Wunder der Rettung aus den Fluten an jenem Septembertag anzusprechen. Kaum zu glauben, dass eine zarte und betagte Frau diesen Fünfmetersturz ohne bleibende Schäden überstanden hat; es scheint, als ob die rettende Hand damals übermenschliche Qualitäten gehabt hätte.
Die Naturgewalten sind auf dieser Insel allgegenwärtig, und man tut gut daran, sich darauf einzustellen, auch wenn man nur einen kurzen Abstecher dorthin plant. Jede Planung ist abhängig von den Launen des Tyrrhenischen Meeres, von der Windrichtung und vom Luftdruck. Die unbekannten Faktoren beeinflussen die vertrauten Gegebenheiten, und als Homöopath komme ich nicht umhin, darin ein Gleichnis zum Gleichgewicht des Lebens und der Lebewesen im Allgemeinen zu sehen.
Die unsichtbare Lebensenergie durchdringt und koordiniert die Bestandteile unseres Organismus und versucht sie ins Gleichgewicht zu bringen, woraus jener oszillierende Zustand entsteht, den wir Gesundheit nennen: Es sind vielfältige Beziehungen, die miteinander in Einklang kommen, um das Netzwerk des Lebens zu flechten. Wenn man mit Gorgona und seinen BewohnerInnen in Kontakt kommt, werden diese Zusammenhänge klar. Auf den bescheidenen 2,2 Quadratkilometern dieses Felsbrockens bekommt man tiefe Einsicht in die Makrodynamik des Ganzen. Luisa ist Teil dieses Ganzen, und sie kann uns helfen, die Wichtigkeit des Spirituellen in diesem delikaten Gleichgewicht zu verstehen.
Fröhliche Einsamkeit
Genau das lebt uns Luisa in einfacher und direkter Weise vor: Da ist die Natur mit ihren Kräften, da sind die Pflanzen, Haus- und Wildtiere, die kleine Kirche mit dem Piniengeruch ihrer Holzbänke und der einfache Friedhof an der Nordküste. Luisa scheint in ein permanentes Gebet versunken, das ihr erlaubt, in dieser Einsamkeit fröhlich zu bleiben.
Vielleicht war es genau diese Erfahrung, die mich vor einigen Jahren dazu trieb, meine Firmung ausgerechnet auf Gorgona nachzuholen. Damals war in Livorno Bischof Alberto Ablondi in Amt und Würden, ein Mann von außerordentlicher Humanität und Kultur; mit ihm habe ich viele Überfahrten nach Gorgona zur Betreuung der Inhaftierten erlebt. Zur Messe war regelmäßig die gesamte Gemeinde von Gorgona erschienen, mit Luisa in der ersten Reihe als Vorsängerin, die den Ton vorgab, wie die erste Nachtigall im Morgengrauen. Nach dem strengen Verhaltenskodex auf der Gefängnisinsel durften die Inhaftierten erst nach der einzigen Inselbewohnerin die Kirche betreten. Als ich dann eines schönen Tages wie gewohnt mit Rucksack und in Wanderstiefeln auf der Insel ankam, teilte mir der Kaplan Pater David mit, dass an jenem Dienstag die letzten Firmungszeremonien im Beisein von Bischof Ablondi stattfänden, da der Bischof in den Folgejahren aus Gesundheitsgründen die Insel nicht mehr besuchen könne. Ich entschloss mich kurzerhand, die letzte Chance zu nutzen, und trat unangemeldet am selben Tag zur Firmung an. Luisa war dabei meine Firmpatin und die Häftlinge bildeten meine Familie.
Luisa lebt glücklich, im Bewusstsein ihres Daseins und der zerbrechlichen Schönheit des Lebens. Diese Frau lehrte mich, wie man mit Einfachheit das Leben meistern kann. Es gehört zu den Geschenken Gorgonas, sie kennengelernt zu haben, als Beweis, dass es viele kleine Schätze gibt; dort wo man sie am wenigsten vermutet und wo die wenigsten danach suchen.
Dr. Marco Verdone
ist Tierarzt, Homöopath und Buchautor. Er war 25 Jahre lang auf der Gefängnisinsel Gorgona tätig. www.ondamica.it
Erschienen in „Welt der Frau“ Juli/August 2015