Lieber auf Wolke vier

Lieber auf Wolke vier
Foto: pexels / Magda Ehlers
  • Teile mit:
  • Veröffentlicht: 12.12.2023
  • Drucken

Brauchen wir Selbstoptimierung und Leistungsdruck, um voranzukommen, oder dürfen wir uns auch mit dem Mittelmaß zufriedengeben? Über das Loslassen der Perfektion.

Das frühe Eintauchen in die Finsternis, welches diese Jahreszeit mit sich bringt, lädt mich immer wieder dazu ein, es mir zu Hause auf meinem Lieblingssessel mit einer heißen Tasse Tee gemütlich zu machen. Dort lese ich dann gerne, sticke oder meditiere. Neulich war mir aber danach, Musik zu hören. „Lass uns die Wolke vier bitte nie mehr verlassen, weil wir auf Wolke sieben viel zu viel verpassen. Ich war da schon einmal und bin zu tief gefallen“, tönte es aus meinem Lautsprecher. Ein Lied von Philipp Dittberger und Marv, das mich immer wieder zum Nachdenken anregt. In einer Welt, in der scheinbar alle nach Perfektion, Selbstoptimierung und Vergleichen streben, lieber auf Wolke vier leben zu wollen, ist ein mutiger und zugleich beruhigender Gedanke. Kann uns diese Durchschnittlichkeit glücklich machen? Brauchen wir den Optimierungswahn, den Vergleich mit anderen, um vorwärtszukommen, oder darf es auch mal das Mittelmaß sein? Bietet die Wolke vier sogar Vorteile?

„Immer öfter stelle ich mir die Frage, ob ich ständig auf Wolke sieben schweben, die Perfektion erreichen will?“

Ich beobachte in der Gesellschaft einen starken Hang zur „Wolke sieben“. Es wird betont und mehrfach erwähnt, was für einen tollen Lebenslauf diese oder jene Person hat, was sie schon alles erreicht hat und was sie noch erreichen will. Es werden wunderschöne Worte gefunden für Tätigkeiten, die alltäglich sind. Es wird geframt, gepusht und getäuscht. Immer öfter stelle ich mir die Frage, ob ich da mitmachen möchte, ob ich ständig auf Wolke sieben schweben, die Perfektion erreichen will? Können wir nicht auch mit dem Gewöhnlichen zufrieden sein?

Bei meinem letzten Elterntraining stellten sich diese Fragen in anderer Form. Ich erlebe, dass viele Eltern sehr kritisch und streng mit sich selbst umgehen. Sie haben Angst, etwas falsch zu machen. Das Bewusstsein, welche einschneidenden Auswirkungen die Erziehung auf die eigenen Kinder haben kann, ist stark ausgeprägt. Darüber legen sich oft Selbstzweifel. In diesem Zusammenhang erwähne ich gerne einen meiner Lieblingssprüche: „Echt sein geht vor perfekt sein!“ Das betrifft vor allem den Anspruch an uns selbst und die Beziehung zu unseren Liebsten. Kinder wollen verlässliche Eltern, die an ihrer Kommunikation und ihrem Beziehungsverhalten arbeiten und dieses reflektieren. Sie wollen aber auch authentische Eltern, die ihre Emotionen im Idealfall konstruktiv leben. Kinder und Jugendliche brauchen Erwachsene, auf die sie sich verlassen können und die sie so akzeptieren, wie sie sind. Das erfordert oft, dass die Perfektion losgelassen werden muss.

Weshalb fällt uns das Loslassen der Perfektion so schwer?

Eine meiner Vermutungen, warum wir uns mit dem Unvollkommenen so schwertun: weil wir auf Social Media und Co. gefühlt ständig Perfektion vorgelebt bekommen. Perfekte Instagram-Stories, gutaussehende Menschen, die ein wundervolles Leben führen und vermeintlich ständig auf Wolke sieben schweben. Sie haben alles und das in Fülle. In den Herbstferien wurde mir das besonders bewusst. Viele posteten Urlaubsfotos von tollen Destinationen, die sie besucht hatten. Scheinbar harmonische Erlebnisse. Es muss uns allerdings bewusst sein, dass so ein Foto nur eine Momentaufnahme ist. Schon im nächsten Augenblick kann wieder gestritten, diskutiert oder getrennte Wege gegangen worden sein. Suggeriert wird uns eine schöne, heile und perfekte Welt, nach der wir uns automatisch sehnen.

Daraus ergibt sich eine weitere Annahme, weshalb wir der Perfektion so gerne nachjagen: das permanente Vergleichen mit anderen. Kaum erzählt uns jemand von einem Erlebnis, einer Idee oder einer Veränderung, vergleichen wir das Gesagte mit unserer eigenen Situation. Prompt entsteht das Gefühl einer Leere, einer Lücke, die gefüllt werden möchte. Ohne den Vergleich wäre diese Lücke allerdings womöglich nicht entstanden und müsste folglich nicht geschlossen werden. Das bedeutet: Manchmal dürfen Impulse von außen auch einfach wieder losgelassen werden.

Wie uns das Loslassen gelingen kann

  1. Bewusstsein dafür schaffen, dass Inhalte in den sozialen Medien nur eine Momentaufnahme sind
  2. spüren, ob ich das Angestrebte wirklich brauche und möchte und ob ich bereit bin, meine Energie dafür einzusetzen
  3. das Loslassen visualisieren, etwa indem man das Loszulassende auf einen Stein oder Zettel schreibt und im Anschluss wegwirft oder verbrennt
  4. darüber reden
  5. sich in Bescheidenheit, Demut und Dankbarkeit üben, etwa durch Gedankenimpulse wie „Schätze, was du hast und du wirst immer genug haben!“ von Tao Te Ching

Vor Kurzem diskutierte ich auch mit einer sehr guten Freundin über dieses Thema. Ihre Ansicht hat mich noch lange beschäftigt. Sie meinte, dass manche Menschen glauben, alles haben zu müssen, und dadurch erst recht unzufrieden sind. Die Wolke sieben kann also manchmal auch zu viel sein. Müssen wir wirklich alles haben? Muss meine Familie immer harmonisch und glücklich sein? Muss ich beruflich erfolgreich sein? Muss ich immer gut aussehen? Muss ich viele FreundInnen haben? Muss ich ein Haustier haben? 

„Das Streben nach Perfektion ist die Garantie für lebenslange Frustration“. Dieser Spruch beruhigt mich immer wieder aufs Neue. Je mehr ich der Fülle und Perfektion hinterherjage, desto frustrierter fühle ich mich. Dann lieber doch auf Wolke vier – hier lebt es sich gelassener, aber vor allem authentischer.

„Manchmal ist der Preis für die Wolke sieben einfach zu hoch. In unserem Streben nach dem Bestmöglichen lassen wir Dinge oder Menschen auf der Strecke, die uns wirklich wichtig sind. “

„Lass uns die Wolke vier bitte nie mehr verlassen, weil wir auf Wolke sieben viel zu viel verpassen. Ich war da schon einmal und bin zu tief gefallen. Lieber Wolke vier mit dir als unten wieder ganz allein“, tönte es weiter aus dem Lautsprecher. Manchmal ist der Preis für die Wolke sieben einfach zu hoch. In unserem Streben nach dem Bestmöglichen lassen wir Dinge oder Menschen auf der Strecke, die uns wirklich wichtig sind. Natürlich kann uns das Setzen von Zielen und die Sehnsucht nach einer anderen Wolke voranbringen, aber muss das wirklich in allen Lebensbereichen sein? Nein, ich glaube, man darf sich auch bewusst dafür entscheiden, in manchen Bereichen auf Wolke vier zu bleiben. Einfach weil es sich entspannter anfühlt. Und: Auch auf Wolke vier hat man einen sehr schönen Ausblick! Hier kann man es sich richtig gemütlich einrichten.