Sie teilen den genetischen Bauplan, den Mutterleib, die Kindheit, und sie haben es nicht immer leicht, ihren eigenen Weg zu gehen. Das Leben von Zwillingen ist ein Tanz zwischen Symbiose und Selbstentfaltung.
Stellen Sie sich vor, Sie treffen jemanden, den Sie noch nie zuvor gesehen haben. Einen Menschen, der Ihnen fremd und gleichzeitig total vertraut ist. Der aussieht wie Sie, lächelt wie Sie und sogar dieselben Redewendungen benutzt. Eine faszinierende Vorstellung? Oder eine unheimliche? Es gibt Menschen, die genau das erleben. Menschen, die gar nicht wussten, dass sie als Zwilling geboren wurden, die erst als Erwachsene jene zweite Hälfte finden, mit der sie monatelang zusammen waren, deren Herzschlag sie gehört und deren Nähe sie gefühlt haben.
Zwillinge haben seit jeher fasziniert. Mythen und Geschichten ranken sich um dieses seltsame Doppelwesen. Im Mittelalter glaubte man, die gleichen Geschwister würden sich eine Seele teilen. Je nach Kulturkreis wurden sie entweder als besonders göttliche und segenbringende oder aber als widernatürliche, wenn nicht gar mit dem Bösen in Verbindung stehende Wesen angesehen. Da wie dort bezweifelte man, dass es bei der Zeugung mit rechten Dingen zugegangen sein könne.
Zweieiige Zwillinge – vielleicht von zwei Vätern
Dass die Zeugung eineiiger Zwillinge genauso verläuft wie jede andere, weiß die moderne Medizin längst. Zweieiige Zwillinge stellen die große Ausnahme dar, da sie aus zwei verschiedenen Eizellen entstehen. Sie müssen nicht einmal beim selben Geschlechtsakt gezeugt worden sein, in seltenen Fällen haben zweieiige Zwillinge sogar unterschiedliche Väter. Eineiige Zwillinge hingegen stammen aus ein und derselben befruchteten Eizelle, die dann sozusagen beschließt, sich zu zwei Embryonalanlagen zu entwickeln.
Je nach Zeitpunkt dieses Prozesses haben die Embryos einen eigenen Mutterkuchen oder müssen sich einen mit dem Zwilling teilen. Wenn die Teilung sehr spät geschieht, bewohnen die Embryos sogar ein und dieselbe Fruchtblase. Bei zwei Prozent aller Zwillinge ist das der Fall. Eine so späte Teilung ist oft nicht mehr vollständig. Das Ergebnis sind siamesische Zwillinge.
So gut erforscht diese Zusammenhänge sind, so unsicher bleiben die Antworten auf die Frage nach dem Warum der Zwillingsentstehung. Möglicherweise liegt es an einer Mutation im Erbgut, oder ein mechanischer Impuls führt dazu, dass aus einem Zellhaufen, der normalerweise das frühe Stadium eines einzelnen Wesens darstellt, zwei eigenständige mit einer völlig identischen Erbanlage werden.
Einzigartigkeit mit Fragezeichen
Ob Mysterium, Zufall oder Laune der Natur: Die Faszination, die diese Zweiheit im Einssein ausübt, hat nicht nur eine biologische, sondern auch eine psychologische, wenn nicht gar eine philosophisch-spirituelle Dimension. „Das, was wir uns als Menschen zuschreiben, nämlich dass jeder und jede von uns einzigartig und etwas Besonderes ist, wird infrage gestellt“, erläutert Frank Michael Spinath. „Wir glauben, unsere Biografie sei hochgradig individuell. Aber dann stoßen wir auf Zwillinge, die gleich nach der Geburt getrennt wurden und als 40-Jährige feststellen, wie ähnlich ihr Leben verlaufen ist. Wie selbstbestimmt sind wir also wirklich?“
Der Professor für differenzielle Psychologie an der Universität des Saarlandes widmet sich mit Leib und Seele der Zwillingsforschung: „Sie erlaubt uns eine Reihe spannender Einsichten in die Persönlichkeit des Menschen.“ Dabei geht es um die uralte Frage: Was ist vererbt, was anerzogen? Welche Teile unserer Persönlichkeit sind durch unsere DNA vorprogrammiert, welche ein Resultat der Erziehung und Umwelt? ZwillingsforscherInnen suchen gezielt nach Eigenschaften, in denen sich eineiige Zwillinge mehr ähneln als zweieiige oder herkömmliche Geschwister, und ziehen daraus Rückschlüsse auf die Bedeutung des genetischen Bauplans für die psychische Entwicklung.
Nicht die Gene allein
Seit ihren Anfängen im 19. Jahrhundert nahm die Zwillingsforschung nicht nur Einfluss auf das Bild des Menschen, sondern diente auch dazu, die eine oder die andere gegenteilige These zu untermauern. So wurden ihre Ergebnisse herangezogen, um zu beweisen, dass alles in den Genen liege und es daher Rassen oder Geschlechter gebe, die anderen überlegen seien. Umgekehrt diente die Zwillingsforschung auch dazu, die Behauptung zu stützen, dass fast ausschließlich Umwelteinflüsse den Menschen zu dem machten, was er ist.
Diese polaren Sichtweisen gehören der Vergangenheit an. „Mittlerweile hat man sich vom ,Entweder-oder‘ gelöst“, so Frank M. Spinath. „Wir wissen, dass sowohl Gene als auch Umwelt die Persönlichkeit des Menschen beeinflussen. Jetzt geht es darum, herauszufinden, wie die einzelnen Faktoren zusammenspielen.“ Die Forschung an Zwillingen ist dafür ein methodischer Zugang, und ihre Ergebnisse können Licht in so manche grundlegende Frage des Menschseins bringen. Erkenntnisse darüber, wie Zwillinge selbst sich fühlen, sich verhalten und ihr Leben führen, sind ein wenig beachtetes Nebenprodukt dieser Forschungen.
Nur wenige Studien beschäftigen sich gezielt mit der Frage, was es bedeutet, niemals allein, sondern stets Teil eines Duos zu sein. Wie es sich anfühlt, ständig im Mittelpunkt zu stehen – weil Zwillinge nun einmal etwas Besonderes sind –, andererseits kaum als Individuum wahrgenommen zu werden, weil es ja immer noch den „Klon“ gibt. Was es bedeutet, ständig verglichen oder auch verwechselt zu werden und sich nicht nur von den Eltern abnabeln zu müssen, sondern auch vom Zwillingsgeschwister, mit dem man Mutterbauch, Kinderzimmer, Kleidung und Schulbank geteilt hat.
Bekannt sind extreme Beispiele von Zwillingsbeziehungen, wie etwa das der Britinnen Alice und Nellie Clarke, die im Jahr 2000 ihren hundertsten Geburtstag feierten und kurz danach verstarben. Sie hatten nie geheiratet und angeblich keine einzige Nacht ohne einander verbracht. Letzteres galt auch für die Brüder Chang und Eng, auf deren Geburt im Jahre 1811 in Thailand, dem damaligen Siam, auch der Name „siamesische Zwillinge“ zurückgeht. Chang und Eng waren vom Brustbein bis zum Bauchnabel zusammengewachsen. Im Gegensatz zu Alice und Nellie heirateten sie, und jeder von ihnen bekam zahlreiche Nachkommen.
Zunächst wohnten die beiden Familien unter einem Dach, später trennten sie sich, angeblich, weil die Ehefrauen der Zwillinge zu streiten begonnen hatten. Die beiden Brüder lebten fortan nach einem strengen Zeitplan: drei Tage im Haus der einen Familie, drei Tage im Haus der anderen, wobei der Hausherr jeweils den Ton angab und der „Gast“ sich seinem Willen beugen musste.
Was an den Lebensgeschichten von Alice und Nellie, Chang und Eng deutlich wird, zeigen auch moderne Forschungsergebnisse: In der Zwillingspaarbeziehung ist zwischen totaler Symbiose und einem hohen Grad an Unabhängigkeit alles drin. „Manche finden es ein Leben lang toll, Zwilling zu sein, andere erleben ein Hin- und Hergerissensein, wieder andere brechen den Kontakt völlig ab. Das kommt ganz auf die Persönlichkeit an. Manche sind eben konkurrenzorientiert, andere anlehnungsbedürftig. Es gibt keine allgemeingültige Antwort auf die Frage, welchen Einfluss das Zwillingsdasein auf die psychische Entwicklung nimmt“, sagt Spinath.
Distanz ist gesund
Zwillinge lernen später sprechen als Einlinge, manche Zwillingspaare entwickeln sogar ihre eigene Sprache. Oft erkennen Zwillinge sich im Spiegel oder auf Fotos nicht selbst, sondern glauben, das Zwillingsgeschwister vor sich zu haben. Insgesamt weisen sie leichte Entwicklungsrückstände auf, die sich aber im Laufe der Jahre meist geben. Auch wenn es kaum systematische Studien gibt, so weiß man, dass Zwillinge im Durchschnitt seltener und später heiraten als Einlinge und dass die Selbstmordhäufigkeit unter ihnen geringer ist als in der Gesamtbevölkerung. In Sachen Partnerwahl gehen Zwillinge tendenziell ihre eigenen Wege und finden unterschiedliche Menschen attraktiv. Dass Zwillinge Zwillinge heiraten, ist selten.
Klar ist, dass die Herausforderungen an die eigene Identität und Individualität für Zwillinge vielschichtiger sind als für andere Menschen. Wie leicht ihnen die Abnabelung fällt, hängt auch damit zusammen, wie sie von Eltern, Geschwistern und Umwelt wahrgenommen und behandelt werden. „Die Umwelt versucht, ein Paar zu sehen. Zum Beispiel wurden meine Schwester und ich mit 18 in der Schule von einem Lehrer immer gemeinsam geprüft“, erinnert sich Marianne Enzlberger. „Das war furchtbar. Jede von uns wollte ein eigener Mensch sein und als solcher wahrgenommen werden.“
Die Soziologin ist selbst eineiiger Zwilling und hat sich in ihrer Dissertation mit dem Thema auseinandergesetzt. Sie rät Zwillingseltern dringend, ihre Kinder nicht gleich anzuziehen, sie beim eigenen Namen anstatt „die Zwillinge“ zu nennen und als Vater oder Mutter öfter mit jeder bzw. jedem einzeln etwas zu unternehmen. Für die Persönlichkeitsentwicklung sei es entscheidend, die Individualisierung zu fördern, meint Marianne Enzlberger. Sie empfand Ähnlichkeit mit und Nähe zu ihrer Schwester Gabi manchmal als beklemmend. Heute ist sie froh über eine gesunde Distanz: „Schließlich kann man nicht als Paar durchs Leben gehen. Jede muss ihre eigene Aufgabe bewältigen.“
Verlorener Zwilling: Zwei minus eins = einsam
Die psychischen und körperlichen Symptome des „einsamen Zwillings“ könnten auch ganz andere Ursachen haben, und die Sehnsucht nach Einssein kennt wohl jeder. Woher wissen Sie, dass jemand darunter leidet, einen Zwilling verloren zu haben?
Alfred R. Austermann: Was wir in unserer Arbeit beobachten, ist nicht die Sehnsucht nach Einssein mit dem Göttlichen, sondern der Wunsch, physisch und psychisch in jemand anderen hineinzufließen, mit ihm zu verschmelzen. Das ist eine andere, eine überaus menschliche Erfahrungsebene, die typisch für allein geborene Zwillinge ist. Wer nach wissenschaftlichen Beweisen sucht, wird meist nicht fündig, aber ich verlasse mich hier auf das Emotionale. Wenn ein Mensch, der immerzu sucht, permanent Schuldgefühle hat, sich einsam fühlt und nicht richtig im Leben stehen kann oder will, sich von diesem Thema angesprochen fühlt, dann reicht mir das als Arbeitshypothese.
Sie sagen, die Erinnerung an den verlorenen Zwilling sei auf Zellebene gespeichert. Was meinen Sie damit?
Wenn der Zwilling sehr früh stirbt, gibt es noch gar kein Gehirn. Die Erfahrung muss also auf einer anderen Ebene gespeichert sein. Angenommen, jemand, der gar nicht weiß, dass er einst ein Zwilling war, verliebt sich. Aus unerklärlichen Gründen reagiert er mit Panikattacken oder Schüttelfrost auf die Nähe zu dem anderen Menschen, obwohl es doch eigentlich wunderschön ist, verliebt zu sein. Plötzlich meldet sich eine Angst aus dem Körpergedächtnis.
Gibt es eine Heilung von diesen Symptomen?
Narben werden bleiben, und aus einem allein geborenen Zwilling wird niemals ein Einling. Zum Heilungsprozess gehört, sich dem inneren Embryo, der den Tod seines Zwillings im Mutterleib miterlebt hat, liebevoll zuzuwenden. Der ursprüngliche Schmerz kann sogar zur Ressource werden, denn allein geborene Zwillinge sind oft besonders einfühlsam und sensibel.
Alfred R. und Bettina Austermann:
Das Drama im Mutterleib. Der verlorene Zwilling.
Königsweg Verlag, 292 Seiten, Euro 20,00
Porträt: Christian und Thomas Mayer
Dass Zwillingsgeschwister vieles teilen, ist nichts Ungewöhnliches. Bei Christian und Thomas Mayer, den jüngsten von fünf Geschwistern, ist der Gleichklang aber fast schon unheimlich. Nicht nur, dass beide Mechatronik studierten, in einem WG-Zimmer wohnten und heute, nur durch eine Bürowand voneinander getrennt, in derselben Firma arbeiten. Sie haben auch ihre späteren Ehefrauen praktisch zeitgleich kennengelernt und erlebten knapp hintereinander zum ersten Mal Vaterfreuden. Sie betreiben die gleichen Sportarten, hören die gleiche Musik, schauen sich dieselben Filme an.
Nicht immer war diese Nähe angenehm. „In der HTL-Zeit war es oft so, dass auf dem Schulweg einer von uns weit vorn gegangen ist und der andere möglichst weit hinten“, erinnert sich Christian Mayer. „Beim Sport waren wir immer gleichauf. Einerseits natürlich, weil wir ähnliche körperliche Voraussetzungen haben, andererseits aber auch, weil es viel Konkurrenz zwischen uns gab – und gibt. Keiner will den anderen davonziehen lassen.“
Nach dem Studium hatten beide das Gefühl, es sei an der Zeit, etwas Eigenes auszuprobieren. Als sein Bruder eine Stelle im gleichen Unternehmen annahm wie er, löste das bei Christian Mayer zunächst Unmut aus. Jetzt, wo jeder sein eigenes Leben mit Partnerin und Kind führt, hat er aber kein Problem mehr damit, und beim Betriebsausflug teilt er sich sogar freiwillig ein Doppelzimmer mit seinem Zwilling.
Die ArbeitskollegInnen der „Mayer-Zwillinge“ staunen manchmal über den rüden Umgangston, den die gleichen Brüder miteinander pflegen. „Anfangs haben wir uns nicht mal begrüßt. Wozu auch?“, erzählt Thomas Mayer. „Wir müssen nicht miteinander reden, um uns zu verstehen. Die Nähe ist für andere nicht immer offensichtlich, aber für uns ist es selbstverständlich, dass es da einen Zweiten gibt, der eine ähnliche Gedankenwelt hat.“ Und Christian Mayer fasst zusammen: „Es gibt ein starkes ,Wir‘. Aber im Gegensatz zu früher dominiert es unser Leben heute nicht mehr.“
Porträt: Thyra und Jasmine Barbier
Hass und Liebe liegen nah beisammen. Oder vielmehr: Die Nähe bestimmt, in welchem Bereich des Gefühlsspektrums sich Thyra und Jasmine Barbier in ihrer Beziehung zueinander gerade bewegen. „Wenn wir getrennt sind, wie jetzt, wo Jasmine in Spanien lebt, überwiegt die Liebe“, betont Thyra Barbier. „Aber zusammen wohnen ist unmöglich. Zum Beispiel sind mir Ordnung und Sauberkeit extrem wichtig, während Jasmine das viel lockerer sieht.“
Ihre Verbindung zueinander ist tiefer als die zu den älteren vier Geschwistern. „Wir waren länger kindlich, haben nonverbal kommuniziert. Wir mussten uns nur anschauen und haben schon angefangen zu kichern“, so Jasmine. Die anderen Familienmitglieder hatten oft Schwierigkeiten, sie auseinanderzuhalten. „Meistens wurden wir ,die Zwillinge‘ genannt, außer wenn wir etwas angestellt hatten, dann hat man uns bei unseren Vornamen gerufen.“
Dass jede von ihnen dennoch ein Unikat ist, haben Thyra und Jasmine erst mit der Zeit herausgefunden. Mittlerweile gehen sie recht unterschiedliche Wege. Jasmine entfaltet sich beim Reisen, lernt Nein zu sagen und will nicht mehr „funktionieren müssen“. Thyra hingegen testet gerade aus, wie es ist, im „System“ zu funktionieren, möchte Karriere machen und sucht neue Herausforderungen.
Dennoch freuen die Zwillingsschwestern sich jedes Mal, wenn sie wieder zusammenfinden und ihre Erfahrungen austauschen können: „Wir sind wie eine Seele mit zwei unterschiedlichen Charakteren. Wenn es uns gelingt, unsere Sturköpfe auszuschalten, dann spiegeln wir einander unser Wesen wider.“