Unterforderung kennen wir alle. Aber warum sind manche Menschen mehr davon betroffen als andere, und was sagt das über unsere Gesellschaft aus? Ein Gespräch mit Soziologin Silke Ohlmeier
Frau Ohlmeier, Langeweile wurde bislang überwiegend von der Psychologie erforscht. Sie haben das Thema aus der soziologischen Perspektive betrachtet und festgestellt, dass Langeweile Menschen nicht zufällig trifft. Warum?
Zunächst ist mir wichtig, zu sagen, dass Langeweile nicht einfach nur bedeutet, nichts zu tun zu haben. Sie resultiert aus dem Wunsch, einer befriedigenden Tätigkeit nachzugehen. Habe ich einfach nur nichts zu tun, kann das unangenehm sein, muss es aber nicht zwingend, sondern kann auch durchaus entspannend sein. Es gibt unterschiedliche Formen von Langeweile, etwa die situative Langeweile, das heißt, eine aktuelle Tätigkeit langweilt mich, etwa, in der Schlange an der Supermarktkassa zu warten oder meine Steuererklärung zu machen. Diese Form ist von kurzer Dauer und völlig normal. Dann gibt es aber auch jene Langeweile, die große und existenzielle Bereiche meines Lebens betrifft, etwa wenn mich mein Job oder meine Beziehung langweilt. Dieser Zustand kann chronisch werden und sich massiv auf die Gesundheit auswirken. Und eben die existenzielle Langeweile trifft Menschen nicht zufällig. Sie ist das Produkt ungleicher Machtverhältnisse, falscher gesellschaftlicher Versprechungen oder einengender Normen.
Welche Menschen sind von dieser Form der Langeweile besonders betroffen und warum?
Frauen etwa wurden historisch betrachtet lange Zeit systematisch von wichtigen gesellschaftlichen Positionen ausgeschlossen. Ihnen blieb nahezu ausschließlich die Rolle der Hausfrau und Mutter. Wenn sich Frauen dann in dieser Rolle langweilten, was häufig der Fall war, lag das nicht an dem Problem, dass sie zu wenig zu tun gehabt hätten oder sich nicht gut mit sich selbst beschäftigen konnten. Ihre Langeweile war Ausdruck ihrer Unterdrückung und Perspektivlosigkeit. Diese gesellschaftlich verursachte Langeweile betraf und betrifft aber nicht nur Frauen. Ebenso werden Menschen mit Migrationshintergrund, Menschen in den unteren sozialen Klassen oder Menschen mit Behinderung benachteiligt, wenn es darum geht, gesellschaftlich als befriedigend propagierten Tätigkeiten nachzugehen. Manchmal geschieht das, weil es an Geld fehlt, manchmal mangelt es an Barrierefreiheit.
Arbeit ist für Menschen mit Behinderung oft lediglich in geschützten Beschäftigungsstätten möglich. Kinder mit Behinderung, etwa mit dem Downsyndrom, haben das Recht auf zehn Schuljahre – eine höhere Schule oder ein Studium bleiben ihnen oft verwehrt. Warum führt der Ausschluss dieser Menschen vom Arbeitsmarkt zu chronischer Langeweile?
Leider gibt es bislang keine Studien, die sich dezidiert mit diesem Thema auseinandersetzen. Aber im Kern geht es darum, dass Langeweile eben nicht ein rein quantitatives Beschäftigungsproblem ist. Im Sinne von: Wenn Menschen mit einer Behinderung in Werkstätten arbeiten, haben sie ja eine Beschäftigung und langweilen sich nicht. Langeweile ist eine Frage der Qualität der Beschäftigung und eine Frage der Passung zwischen individuellen Fähigkeiten, Interessen und der Tätigkeit. Das gilt für Menschen mit wie für Menschen ohne Behinderung. Und der Wunsch nach einer befriedigenden Tätigkeit ist ein legitimes Bedürfnis, kein zusätzlicher Luxus. Studien zeigen, dass sich Langeweile ganz generell negativ auf die psychische und physische Gesundheit auswirkt.
Sie sagen, Langeweile sei ein verkanntes Gefühl. Wieso sollte es mehr Beachtung bekommen?
Weil Langeweile so unangenehm für uns ist, gibt sie auch den Impuls, etwas verändern zu wollen. Wenn wir chronisch gelangweilt sind, wächst die Bereitschaft, viel dafür zu tun, um aus der Situation herauszukommen. So kann Langeweile auch helfen, etwas im Leben zu verändern. Es kann deshalb wichtig sein, das eigene Gefühl zu beobachten: Was genau langweilt mich, in welchen Bereichen meines Lebens fühle ich mich gefangen und ohnmächtig und was kann ich tun, damit das anders wird? Die Frage ist dabei aber immer: Wie viel kann ich selbst überhaupt an der Situation ändern, in der ich mich befinde, und wo bräuchte es eine gesellschaftliche Veränderung?
„Die ungleiche Verteilung der Langeweile in unserer Gesellschaft zeigt, dass sie ein Produkt ungleicher Machtverhältnisse ist. Es herrscht häufig die Meinung in unserer Gesellschaft, jeder hätte sein Glück selbst in der Hand. Das stimmt aber nicht.“
Langweilen sich Frauen häufiger als Männer?
Studien zeigen, dass sich Frauen nicht generell häufiger langweilen als Männer. Aber es könnte sein, dass Frauen häufiger in ihrer Passivität bleiben und ihre Lage eher akzeptieren als Männer, weil sie die Schuld eher bei sich und nicht so sehr in der Situation suchen. Außerdem gibt es bestimmte geschlechtstypische Vorstellungen, die Langeweile erzeugen oder begünstigen können. Beispielsweise die Vorstellung, dass Frauen voll und ganz in ihrer Mutterrolle aufgehen und daher keine anderen Bedürfnisse mehr hätten. Es ist aber wichtig, auch den eigenen Bedürfnissen und Fähigkeiten nachgehen zu können und nicht nur für die des Kindes zuständig zu sein.
In der Kindererziehung raten viele ExpertInnen, Kinder in ihrer Langeweile zu lassen, weil das ihre Kreativität anrege. Finden Sie diesen Ansatz richtig?
Ich finde die Grundhaltung falsch, Kinder sich langweilen zu lassen, um ihre Kreativität zu fördern. Studien zeigen, dass Langeweile nicht per se kreativ macht. Ob aus Langeweile etwas Kreatives entspringt, hängt sehr von den persönlichen Voraussetzungen des Kindes und vom Kontext ab. Damit meine ich nicht, man müsse Kinder permanent beschäftigen und bespaßen. Aber ich halte es für sinnvoller, gemeinsam mit dem Kind zu schauen, warum es Langeweile empfindet, also gemeinsam zu fragen, was hinter diesem Gefühl steckt, anstatt das Kind sich selbst zu überlassen. Vielleicht kann es seine Fähigkeiten und Interessen nicht ausleben und braucht Unterstützung. Kleine Kinder sind ja häufig noch gar nicht in der Lage, sich sinnvoll selbst zu beschäftigen. Das muss man erst lernen.
„Es scheint, dass Menschen, die sich in wichtigen Bereichen ihres Lebens langweilen, manchmal schlechte Bewältigungsstrategien wählen und etwa vermehrt essen oder zu viel Alkohol trinken.“
Warum kann chronische Langeweile auch gefährlich werden?
Chronische Langeweile geht mit einer ganzen Reihe negativer psychischer Zustände einher, beispielsweise mit Einsamkeit, Aggressivität und Depressivität. Es gibt auch eine enge Verbindung zu Süchten. Es scheint, dass Menschen, die sich in wichtigen Bereichen ihres Lebens langweilen, manchmal schlechte Bewältigungsstrategien wählen und etwa vermehrt essen oder zu viel Alkohol trinken.
Welchen Umgang mit Langeweile fordern Sie?
Ich möchte Langeweile entstigmatisieren und plädiere für einen sachlichen Umgang mit ihr. Die ungleiche Verteilung der Langeweile in unserer Gesellschaft zeigt, dass sie ein Produkt ungleicher Machtverhältnisse ist. Es herrscht häufig die Meinung in unserer Gesellschaft, jeder hätte sein Glück selbst in der Hand. Das stimmt aber nicht. Für manche Menschen ist es schwieriger als für andere, ein Leben ohne Langeweile zu führen. Nicht alle Menschen haben genügend Macht und Geld, um selbst aus ihrer Langeweile herauszufinden. Es braucht strukturelle Veränderungen, um allen Menschen zu ermöglichen, ihr Leben selbstbestimmt und in ihrem Sinne befriedigend zu gestalten.
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