Ein Ein-, Rück- und Ausblick aufs Kulturhauptstadtjahr 2024
Schon gehört vom inzwischen legendären „Pudertanz“ mit elf nackten TänzerInnen bei der Open-Air-Eröffnung der „Kulturhauptstadt Europas 2024“ vorletztes Wochenende im Bad Ischler Kurpark? Bei gut und gerne drei Grad unter null brachte die Tanzperformance der vom Attersee stammenden Choreografin Doris Uhlich das Blut mancher ZuschauerInnen gehörig ins Wallen: Die Polizei erhielt Anrufe von Anzeigewilligen. Die Ischler Bürgermeisterin Ines Schiller erlebte einen Shitstorm. Social-Media-Skandalisierte und Leserbriefschreiber an „Kronen Zeitung“ & Co überschlugen sich vor Entsetzen. Kinder und Jugendliche, die tanzende Nackte mitansehen müssen! Das soll Kultur sein? So zeigen wir uns Europa und der Welt?
Tatsächlich ging’s bei Uhlichs rhythmischem Nacktkörper-Einpudern zu Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ darum, Körper- und wohl auch Geschichts- und Kulturvorstellungen aufs Eindringlichste zu entstauben. „Hinweg mit den Altlasten!“, schienen die Puderwolken zu versprechen, die die wilden TänzerInnen mit ihren so vielgestaltigen, keiner Norm entsprechenden Körpern im Scheinwerfergegenlicht hinterließen und die ein klirrend kalter Jännerwind mit sich davontrug.
Stoff für Diskussionen
Polarisierend war’s, ja! Sehr viele konnten allerdings auch sehr viel damit anfangen. Die „Süddeutsche Zeitung“ fand die Eröffnung „furios“, die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ sah gar „viel subversiven Humor“ darin. Direkt vor Ort erzählte mir eine Ischlerin nach der Eröffnung: „Ich habe nur Positives gehört. Vor allem von Frauen, die diese Eröffnung vielleicht als Öffnung verstanden haben.“
Für Gesprächsstoff war jedenfalls gesorgt: auch mit Hubert von Goiserns etwas unsicher, wenn auch berührend jodelndem Chor der Tausend auf der Bühne, auf den eine als Kaiserin Sisi adjustierte Conchita folgte, die den ZuschauerInnen zurief: „Geht’s wählen!“ Gemeint war: in Zeiten von Kriegen, Rechtsruck und Unsicherheit. Kunst und Kultur gegen Hass und Hetze, wie es Vizekanzler Werner Kogler in seinem Grußwort ausdrückte. Wer das als politischen Missbrauch einer Kulturveranstaltung verstand (und die gab es auch!), ist mit einem sehr engen Kulturbegriff geschlagen. Vielmehr war es Conchitas Ausdruck einer Überzeugung, der auch Kulturhauptstadt-Intendantin Elisabeth Schweeger anhängt. „Kultur ist gesellschaftsbildend“, ist einer der Sätze, die man von ihr öfter hört, seit sie im Sommer 2021 die Nachfolge ihres geschasten Vorgängers antrat.
Eine Synthese aus Tradition und Moderne
Das 300 Projekte umfassende Programm der „Kulturhauptstadt 2024 Bad Ischl-Salzkammergut“ ist prononciert modernistisch, prononciert kleinteilig und prononciert regional-international. 85 Prozent der Projekte entstehen unter regionaler Beteiligung – entsprechend dem ursprünglichen, aus der Region selbst entstandenen Bewerbungs-Bid-Book, mit dem das Salzkammergut das Rennen um die Kulturhauptstadt 2024 (vor Favorit Sankt Pölten) überhaupt erst für sich entscheiden konnte.
Das Salzkammergut, so die künstlerische Leiterin Elisabeth Schweeger, sei immer weltoffen und in Kontakt mit der Welt gewesen. Das liege schon allein im jahrtausendealten Salzhandel begründet, der die Gegend ebenso geprägt hat wie Kaiserhaus, kulturelle Sommerfrische oder Landschaftsschönheit. „Der Austausch zwischen den Kulturen ist im Grunde das Fundament der Region“, so Schweeger.
So zeigt auch das KH-Programm übers Jahr viel Austausch zwischen Drinnen und Draußen, Regionalem und Internationalem – im Dienste einer kreativen Synthese aus Tradition und Moderne. Groß ist auch die Zahl der partizipativen Projekte, in denen es um so Vielfältiges wie Jungsein im Salzkammergut, Nützung von leerstehenden Gebäuden oder die Miteinbeziehung der legendär schönen Landschaft in Kunst- und Kulturprojekte geht: von Ella Raidels audiovisueller, Virtual-Reality-angereicherter „Regional_Express“-Reise entlang der Bahnstrecke Gmunden-Bad Aussee über „Die Landschaftsorgel-Salzkammergut(sch)all“, für die BlasmusikerInnen Talkessel und Schottergrube in Resonanz- und Echoräume verwandeln, bis zu Bill Fontanas Klimawandel-Klangskulptur in den Dachstein-Eishöhlen oder der „Hallstatt Denkwerkstatt“, die sich – als mehrjähriger Prozess konzipiert – in Kooperation zwischen Einheimischen und ExpertInnen mit neuen Wohn- und Arbeitswelten auseinandersetzt. Daneben gibt es natürlich auch Klassischeres wie eine Ai Wei Wei-Schau im Ischler Kaiserpark, eine von Franz Welser-Möst kuratierte Volksmusikreihe, Anton Bruckner in der Salinenproduktionshalle Ebensee, Oscar Strauss’ Operette „Eine Frau, die weiß, was sie will“, Ausstellungen zur Zeitgeschichte, Theater, Film-, Literatur- oder Landartprojekte.
Eine künstlerisch-kulturelle Spurensuche durchs Salzkammergut
Eines wird rasch klar: Das Kulturhauptstadt-Programm versteht Kunst und Kultur als Werkzeuge, die Lösungsansätze und kreative Ideen für den Umgang mit wichtigen Themen der Gegenwart beisteuern können, welche das Salzkammergut im Herzen Europas ebenso betreffen wie andere ländliche Regionen weltweit – Landflucht, nachhaltiger Tourismus, Probleme des öffentlichen Verkehrs, Fragen des Umgangs mit der eigenen Geschichte, Geschlechterrollen et cetera.
Die Projekte insgesamt ergeben ein Gesamtbild, das sich, wie es „Die Presse“ formulierte, deutlich „weiblich, poetisch und intelligent“ präsentiert. Zudem hat man sich entschieden, weniger in Form von Riesenkunstevents, sondern in kleinteiliger Vielfalt mit den Mitteln von Kunst und Kultur über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Salzkammerguts nachzudenken. Die Austragungsorte – nämlich 23 Kulturhauptstadtgemeinden sowie assoziierte Projekte in der weiteren Umgebung – sind dabei höchst unterschiedlich. Überhaupt ist es das erste Mal in der fast vierzigjährigen Geschichte der „Kulturhauptstadt Europas“, dass nicht eine einzelne größere Stadt, sondern 23 ländliche Gemeinden zusammen eine Kulturhauptstadt ausrichten. Diesem Novum trägt die experimentierfreudige Vielzahl und -gestalt der Projekte Rechnung: vom vazierenden Gastroprojekt „Wirtshauslabor“, das auf kulinarisch-köstliche Weise auch das allgegenwärtige Wirtshaussterben am Land thematisiert, über das Handwerks-, Nachhaltigkeits- und Tourismus-Designprojekt „Zimmer mit Aussicht“ bis zu den „Fermentierten Landschaften“ der Künstlerin Anita Fuchs.
Wer will, kann in dieses Kulturhauptstadtjahr eintauchen und sich mithilfe des fast 350 Seiten umfassenden Programmbuchs unter dem Slogan „kultur salzt europa“ zu einer künstlerisch-kulturellen Spurensuche quer durchs Salzkammergut aufmachen, um sich inspirieren, anregen und unterhalten zu lassen. Es gibt jede Menge zu sehen. Ein bisschen suchen muss man halt danach, auch weil die Region so verschachtelt ist.
Die große Skepsis gegenüber der Riesenunternehmung „Kulturhauptstadt Europas 2024 Bad Ischl-Salzkammergut“, die in ihren Anfängen mit einer Vielzahl von Widerständen zu kämpfen hatte, ist nun eindeutig Neugier und Unternehmungslust gewichen. Allein am Eröffnungswochenende waren fast 75.000 Menschen in Bad Ischl in Sachen Kunst und Kultur unterwegs.
Julia Kospach
ist langjährige „Welt der Frauen“-Autorin, Kulturjournalistin und Buchautorin. Zuletzt hat sie gemeinsam mit Elisabeth Schweeger das offizielle Buch zur Kulturhauptstadt 2024 herausgegeben: „Salz Seen Land. Das Salzkammergut von Anarchie bis Ziehharmonika“ (Prestel Verlag).