Die Zahl übergewichtiger, depressiver und aggressiver Kinder nimmt zu, sagen ExpertInnen. Doch stimmt das? Und woran krankt Österreichs Nachwuchs? Eine Spurensuche.
Schwierige Schülerinnen
Auf dem Schreibtisch von Pflichtschullehrer-Gewerkschafter Thomas Krebs landen pro Woche ein bis mehrere Berichte über Gewaltdelikte gegen LehrerInnen. „Die Rückmeldungen sind erschreckend“, sagt er. Nicht nur habe Gewalt zugenommen, sie sei auch subtiler und intensiver geworden. Vieles werde über die sozialen Medien gespielt.
Schulen in Ballungsräumen seien besonders von Gewalt betroffen, sagt Krebs. „In ländlichen Gemeinden gibt es noch mehr Regulativ. Die Leute achten mehr aufeinander.“ Die zunehmende Aggressionsbereitschaft mancher Kinder – nicht nur gegenüber LehrerInnen, sondern auch untereinander – beginne bereits in den Volksschulen. Der Lehrerfunktionär führt das zum einen auf eine „Verrohung in der Gesellschaft“ zurück: „Man braucht sich nur den Umgang miteinander in öffentlichen Verkehrsmitteln anzusehen.“ Aber auch Migration und damit einhergehend ethnische Konflikte spielten eine Rolle. Zudem schleppten Kinder immer größere emotionale Rucksäcke mit sich herum, und manchmal seien auch Eltern die AnstifterInnen, wenn sie dem Nachwuchs einimpfen: „Lass dir nichts gefallen!“
Präventionsprogramme laufen seit Jahren, leider gebe es kein Patentrezept. Krebs, Vater zweier erwachsener Kinder, appelliert einerseits an die Eltern und ihre Erziehungspflicht, die sie nicht auf die Schule abwälzen sollten, andererseits an die Gesellschaft: „Wir müssen wieder mehr aufeinander schauen.“ Als ganz konkreten Handlungsauftrag bräuchte es mehr SozialarbeiterInnen an Schulen, meint er.
Gerda Reißner ist Pädagogin mit 40 Berufsjahren an der Neuen Mittelschule Schopenhauerstraße im 18. Wiener Gemeindebezirk, einer sogenannten Brennpunktschule. Es ist eine Schule, in der die meisten Kinder aus bildungsfernen und sozial benachteiligten Familien stammen und zu fast 100 Prozent Migrationshintergrund haben. „Ich will nichts schönreden. Gewalt ist ein Thema und wir müssen uns damit auseinandersetzen“, sagt Reißner. Gerade an ihrer Schule landen viele „schwierige Schüler“. Um Gewalteskalationen zu vermeiden, hat man dort ein dichtes Netz gespannt – vom Gespräch mit dem Schul-Sozialarbeiter bis zum Vertrag, den die SchülerInnen selbst formulieren und unterschreiben, nach dem Muster: „Ich werde in der nächsten Woche dies und jenes machen.“
Die Mutter dreier erwachsener Kinder, die auch im Programm „Youth Start“ arbeitet, mit Methoden, die die Jugendlichen in ihren Kompetenzen stärken, hat es sich zur Maxime gemacht, vor allem auch auf das Gute zu schauen. „Die Eintrittskarte ist, die Jugendlichen ernst zu nehmen und auf sie zuzugehen. Das Um und Auf ist der Beziehungsaufbau.“ Die Pädagogin weist darauf hin, dass aggressive Jugendliche oft selbst Gewalterfahrungen gemacht haben, also ihrerseits Opfer von Gewalt wurden. LehrerInnen sollte schon an der pädagogischen Hochschule das Handwerkszeug vermittelt werden, wie sie in kritischen Situationen reagieren können.
Schwindendes Miteinander
Respekt heißt, dass ich den anderen in seiner Individualität akzeptiere, seine Meinung gelten lasse, zuhöre, nicht verurteile und auch nicht beurteile“, definiert Gerda Reißner. Dass es Jugendlichen an Respekt mangelt, kann die Pädagogin nicht wahrnehmen. „Aber Respekt ist etwas, das man sich erarbeiten muss. Der Lehrer, der automatisch eine Respektsperson ist, das gibt es nicht mehr“, sagt sie. Es komme also darauf an, was man vorlebt.
„Alter alleine ist kein Grund mehr, Respekt einfordern zu können“, sagt auch Matthias Rohrer vom Institut für Jugendkulturforschung: „Die Jugendlichen suchen sich Vorbilder in den verschiedenen Lebensbereichen. Ausschlaggebend ist nicht das Alter, sondern sind die ‚Skills‘, also die Fähigkeiten dieser Vorbilder im jeweils relevanten Umfeld.“ Das schwindende Gefühl für das Miteinander ist für ihn nichts spezifisch Jugendliches, sondern ein gesamtgesellschaftliches Phänomen.
„Wir neigen dazu, die dunkle Brille aufzusetzen, und dann findet man schnell etwas Schlechtes“, meint Gerda Reißner. „Es reicht oft ein kleiner Trigger – etwa wenn mich ein Jugendlicher in der Straßenbahn nicht gleich niedersetzen lässt –, und schon heißt es: ‚Der Jugend mangelt es an Respekt.‘“ Gerade Migrantenkindern werde das oft unterstellt. „Ich beobachte, dass sie zum Teil sogar noch mehr Respekt haben als österreichische Jugendliche.“ Es sei auch eine Sache der Wahrnehmung, worauf man den Fokus richte. Sie nehme vor allem auch jene jungen Menschen wahr, die sich für den Klimaschutz engagieren, auf Konsum verzichten und vieles hinterfragen: „Es geht in eine gute Richtung.“
Couch Potatoes
ÄrztInnen, WissenschaftlerInnen und SportlehrerInnen mahnen seit Jahren, dass Kinder zu viel Zeit mit Medien verbringen und sich zu wenig bewegen. Bereits jedes fünfte Kind in Österreich ist übergewichtig. Diabetes, Bluthochdruck, Verspannungen und Rückenschmerzen sowie der sogenannte „handy neck“ betreffen auch immer mehr junge Menschen. „Viele Kinder können keine Purzelbäume mehr schlagen oder auf Bäume klettern“, weiß Gerda Reißner, die früher selbst Turnen unterrichtet hat. Wenn Kinder Sport treiben, dann meist organisiert – im Fußballverein oder beim Reitunterricht. „Die Freiheit der Bewegung hat abgenommen.“
Wolfgang Baierl ist Sportwissenschaftler und Haltungs- und Bewegungsberater des Landes Oberösterreich. Er ist viel in Schulen unterwegs und erlebt zum einen Kinder, die sich sehr viel bewegen und zum Teil von ihren Eltern „überfördert“ werden. Auf der anderen Seite stehen Kinder, die sich körperlich wenig betätigen: „Die gesunde Mitte ist verloren gegangen.“ Dabei sollten Kinder in erster Linie Freude an der Bewegung haben und ihrem natürlichen Bewegungsdrang folgen. Eltern sollten nicht so übervorsichtig sein und ihren Kindern mehr zutrauen: „Du schaffst das!“
Auch bei der Ernährung gebe es eine große Kluft zwischen Kindern, die sehr gesundheitsbewusst essen, und solchen, die stark übergewichtig sind. Manche kommen schon mit einem Energydrink in der Hand in die Schule, beobachtet Reißner. Von 20 Kindern hätten nur drei eine Jause dabei, die anderen Geld, wovon sie sich meist eine Pizza kauften oder einen Softdrink.
Die HBSC-Studie, die größte europäische Kinder-und-Jugendgesundheits-Studie, zeigt für Österreichs Jugendliche jedoch eine positive Entwicklung. So wiesen im Jahr 2018 gegenüber 2010 mehr SchülerInnen ein gesundes Ernährungsverhalten auf (mehr Gemüse, weniger süße Limonaden und Süßigkeiten), auch der Sport ist wichtiger geworden und die Nichtraucherrate ist kontinuierlich gestiegen und beträgt derzeit 77 Prozent bei den Mädchen und 81 Prozent bei den Burschen.
Rückzug ins Private
Dass die junge Generation sehr kritisch ist und vieles hinterfragt, bestätigt auch Jugendforscher Matthias Rohrer. Was ist noch charakteristisch für die heutige Jugend? „Es handelt sich um eine Generation, die sehr unsicher ist in allen Lebenslagen“, sagt er, daraus resultierten bei manchen eine starke Fokussierung auf das Hier und Jetzt sowie der Rückzug ins Private, Stichwort „neues Biedermeier“. Eltern und andere Bezugspersonen könnten oft nicht mehr genügend Sicherheit vermitteln, da sie selbst mit den Anforderungen der heutigen Welt kämpften: „Was Eltern vorleben, ist nicht immer positiv besetzt und daher nicht unbedingt eine Option.“
Stark verändert habe sich in den vergangenen Jahrzehnten die Generationenbeziehung, konstatiert Rohrer. „Die Generationen nähern sich einander an. Junge Erwachsene geben vor, was Trend ist, etwa was den Technologiebereich betrifft oder den Lifestyle-Fashion-Bereich.“
Umgang mit Gefühlen
Ein Viertel aller Kinder und Jugendlichen in Österreich leidet unter psychischen Problemen. Das ergab die Studie „MHAT – Mental Health in Austrian Teenagers“, durchgeführt vom Ludwig Boltzmann Institut und der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Wien. Die häufigsten Belastungen seien Angststörungen, Aufmerksamkeitsstörungen, Depressionen sowie Einschlafschwierigkeiten und Nervosität. Siebenjährige, die in der Klasse durchdrehen und von der Polizei in die Psychiatrie gebracht werden, und Elfjährige, die nicht mehr leben wollen – was unvorstellbar klingt, ist für Michael Merl, Leiter der Klinik für Psychiatrie und Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters am Kepler Universitätsklinikum in Linz Alltag. „Ich beobachte zwar keine Zunahme, was ich allerdings sagen kann, ist, dass die Erkrankungen schwerer und die auffälligen Kinder jünger werden“, so Merl. So hätten früher 17-Jährige Suizidversuche unternommen oder sich selbst verletzt, heute seien es bereits Zwölfjährige. „Viele Kinder können ihre Emotionen nur mehr schwer regulieren“, sagt Merl. Sie hätten nicht gelernt, mit Gefühlen, wie Wut, Angst oder Trauer umzugehen, weil viele Eltern selbst ihre Emotionen nicht im Griff hätten. Zudem ließen viele Eltern zu, dass Kinder ihre negativen Gefühle mit Konsum kompensieren. In der Pubertät gehe eine Emotionsregulationsstörung oft in eine Depression, Persönlichkeitsstörung und auch impulsive Störungen über. „Jedes Kind kommt außerdem mit einer Persönlichkeit auf die Welt“, sagt Merl „und genauso individuell geht jedes Kind auch mit Lebensereignissen, wie Verlust, Umzug oder Scheidung, um.“ Verletzte Kinderseelen habe es schon immer gegeben. Früher sei die Gesellschaft mit psychischen Erkrankung jedoch noch nicht so offen umgegangen wie heute. „Kinder standen außerdem nicht so im Mittelpunkt, Hilfe wurde kaum gesucht“, so Merl.
Es brauche dringend mehr therapeutische Möglichkeiten für Kinder und Jugendliche. „Allein in Oberösterreich gibt es nur halb so viel stationäre Plätze in psychiatrischen Kliniken, wie nötig wären.“ In der Kepler Universitätsklinik würden nur Akutfälle, etwa bei suizidalem Verhalten, sofort behandelt werden. Für therapeutische Aufenthalte gäbe es aber jahrelange Wartelisten. „Eine frühe Therapie bei psychischen Verhaltensauffälligkeiten wäre äußerst wichtig. Denn aus ihr könne sich im Erwachsenenalter eine psychische Erkrankungen entwickeln, die gravierender und deren Therapie langwieriger und kostenintensiver ist. Psychotherapeutische Angebote auch in Schulen und mehr PädagogInnen mit einer Ausbildung in Krisenintervention fände Merl eine notwendige Maßnahme.
Beziehungen zählen
Das Wichtigste ist, so früh wie möglich eine gute Bindung zum Kind aufzubauen“, sagt die klinische Psychologin Sabine Völkl-Kernstock. „Auf Basis einer sicheren Bindung kann das Kind dann in die Welt hinausgehen und seine Erfahrungen machen.“ Grenzen aufzuzeigen sei dabei ebenso wichtig wie zu vermitteln, dass das eigene Handeln Konsequenzen habe. Dabei komme es auf das richtige Maß an: „Zu viele Grenzen erzeugen Wut, zu wenige Angst.“ Wenn Eltern zu tolerant seien und Kindern erst im Jugendlichenalter Grenzen setzen wollten, gehe das meistens schief. „Denn gerade die Pubertät ist das Alter, in dem man über Grenzen geht.“ Die Psychologin vergleicht Jugendliche gerne mit TrapezkünstlerInnen. Manche machen mehr und manche weniger Kunststücke. Wichtig sei ein Netz, das sie auffange.
Während Eltern in der Erziehung manchmal zu tolerant seien, würde sich die Psychologin gesamtgesellschaftlich mehr Toleranzfähigkeit wünschen: „Da könnte man etwas nachsichtiger sein.“
Fakten zu Österreichs Jugend
Laut einer aktuellen Studie des Innenministeriums haben Gewaltdelikte an Österreichs Schulen bzw. Bildungseinrichtungen im Zeitraum von 2015 bis 2018 um 13,5 Prozent zugenommen.
13 Prozent der jungen ÖsterreicherInnen waren laut einer großen Jugendstudie von „DocLX“ und „Marketagent.com“ bereits Opfer von Onlinemobbing. 36 Prozent waren mit dem Thema im persönlichen Umfeld konfrontiert.
Dieselbe Jugendstudie gibt an, dass 72 Prozent der jungen Menschen ihren Körper gerne nach einem Idealbild formen würden.
78 Prozent sagen, dass ihre FreundInnen zu viel Zeit mit dem Smartphone verbringen.
Weniger als die Hälfte der Jugendlichen mit psychischer Erkrankung hat bisher Hilfe bei einem Kinder- oder Jugendpsychiater in Anspruch genommen.
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