Elegant und dicht erzählt Khuê Phạms Roman „Wo auch immer ihr seid“ die beeindruckende Geschichte einer vietnamesischen Familie.
Für die Ich-Erzählerin fühlte sich das Lob der „Deutschen“ für ihre aus Vietnam stammende Familie, die alles so gern richtig machte, immer falsch an: Sie, die Ausländer also, konnten einen Christbaum, die perfekte Schiausrüstung, das perfekte Deutsch der Kinder, die Karriere des Vaters und den Fleiß der Mutter vorweisen. Besser ging es gar nicht.
Herkunft, Assimilation, Integration
Die 30-jährige Erzählerin geht der Frage nach ihrer Herkunft sehr tiefgründig nach, schreibt über Assimilation, Integration, das Leben und die Familie an sich. Der Begriff „Herkunft“ bekommt bei ihr einen tieferen und sehr bewegenden Sinn: Welche Geschichten erzählte die Großmutter, welche die Onkel, welcher der Vater? Eine Spurensuche beginnt.
Khues Großmutter liegt im Sterben und will noch einmal ihren Sohn, den Vater der Ich-Erzählerin Khue sprechen. Dieser wehrt diese Bitte anfangs ab, warum soll die Familie denn von Berlin nach Kalifornien fliegen, wer weiß, ob Großmutter dann noch lebt, außerdem leide sie doch bereits fünf Jahre an Alzheimer.
Khues Aufrichtigkeit grenzt häufig an Selbstverletzung, sie weiß um ihre Kindheit zwischen den Kulturen, den Erwartungsdruck ihrer Eltern, ist vom Lob der Deutschen für sie und ihre Familie gekränkt, die ihre Eltern aber so stolz machen.
„Ich muss diese Geschichte mit einem Geständnis beginnen: Ich kann meinen eigenen Namen nicht aussprechen.“
Die Reise zur Familie in Kalifornien beantwortet viele der nicht gestellten Fragen, etwa über den Tod des Großvaters. Die Konventionen ihrer vietnamesischen Familie verstören die junge Frau, ärgern sie, obwohl sie glaubte, sich längst mit diesem engen Korsett – in das sie sich nie schnüren lassen würde – abgefunden zu haben.
Der Rückblick „Die Geschichte meines Vaters“ führt ab Seite 35 nach Saigon im Jahr 1965. Auch hier sitzen die Korsetts eng, in einer anderen Zeit, unter anderen Verhältnissen:
„Denk daran, dass es hier nicht nur um dich geht. Mindestens einer von euch fünf wird Arzt werden. Du bist der älteste Sohn, also wirst du mit gutem Beispiel vorangehen!“
Schließlich trifft Khuen ihre wichtigste Entscheidung in der Abflughalle beim Boarding des Fluges zurück nach Berlin, dabei hält sie ihre Bordkarte, 15A, Fensterplatz „in mein altes, deutsches Leben“ fest umklammernd. Sie bleibt in Kalifornien, weg von den Fragen „Und wo kommen Sie eigentlich her! Ihr Deutsch ist wirklich sehr gut!“
Was Sie verpassen, wenn Sie diesen Roman nicht lesen:
Humor, Familienleben, Identitätssuche, -krise und findung, Selbsterkenntnisse und Selbstbefragungen, viele Fragen und einige Antworten zum Thema Identität, Migration, Integration, Annäherung an eine verzweigte Familie und deren noch verzweigtere Familiengeschichte, Alltag einer vietnamesischen Familie in Deutschland (Berlin).
Die Autorin Khuê Phạm
ist eine der bekanntesten jungen deutschen Autorinnen. 1982 als Kind vietnamesischer Eltern in Westberlin geboren, Studium in London, danach Aubildung an der Henri-Nannen-Journalistenschule; 2009 Beginn bei der Wochenzeitung ZEIT. Bemerkens- und empfehlenswert ist ihr Buch, das sie gemeinsam mit Alice Bota und Özlem Topcu veröffentlichte „Wir neuen Deutschen“.
Khuê Phạm
Wo auch immer ihr seid
btb Verlag
304 Seiten.
Christina Repolust
Ihre Leidenschaft zu Büchern drückt die promovierte Germanistin so aus: „Ich habe mir lesend die Welt erobert, ich habe dabei verstanden, dass nicht immer alles so bleiben muss, wie es ist. So habe ich in Romanen vom großen Scheitern gelesen, von großen, mittleren und kleinen Lieben und so meine Liebe zu Außenseitern und Schelmen entwickelt.”
www.sprachbilder.at
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