Sprache als Anlauf zum Sprung
Iris Wolf weckt Sehnsüchte, Iris Wolf skizziert Familien mit jener Intensität und gleichzeitiger Distanz, die man sich so sehr wünscht und doch so selten findet. Sie urteilt nicht, sie beschreibt und spannt ihre detailreichen Geschichten über mehrere Generationen. Wer ihren Roman „So tun, als ob es regnet“ gelesen hat, ist bereits eingehört in diese leisen, klaren Töne und wird sich auch weiterhin an diesen feinen, dezenten, präzisen Beschreibungen nicht sattlesen können. Ihre ProtagonistInnen verortet sie im politischen Kontext 1989/1990, sie trotzen den Umbrüchen, zeigen Haltung, verlieren sich nur selten und da auch nur in der Liebe bzw. Poesie.
Florentine will ihr Kind behalten, der Kutscher versteht ihre stumme Botschaft und lenkt das Pferd mitten auf der Straße, drosselt das Tempo; Florentine denkt an ihren Vater, der zu dieser Situation wohl nur „ausgerechnet ein Rumäne“ zu sagen gewusst hätte. Im Krankenhaus begegnet Florentine der Verzweiflung der Frauen und dem Zynismus der Ärzte, Frauenleben sind hier in ein einziges Krankenzimmer gelegt, die Siebenbürgerin ist am Nachthemd zu erkennen.
„Ihr kam der Gedanke, dass sie vorsätzlich alle in einem Zimmer untergebracht worden waren. Es entband die Ärzte davon, sie als einzelne Menschen zu sehen, und es war leichter, am Fußende des Bettes zu urteilen und zu richten.“
Nika, in der Bukowina geboren, ist Florentines Freundin, nach den gemeinsamen Gesprächen in Nikas Küche riecht sie nach Küchenaromen, Kaffee und Zigarettenrauch, der Sauerkirschlikör, den sie gemeinsam trinken, hinterlässt keine Spuren. Hier eine kleine Idylle, die Verbindung zweier junger Frauen, die überall so erlebt werden könnte, würde Iris Wolff diese Frauenleben nicht im folgenden Absatz wie zur Erinnerung verorten:
„Florentine und Nika wurden beide im Sommer schwanger. Doch Nika wollte kein weiteres Kind. Sie spritzte sich ein Mittel, das man Kühen verabreichte, und starb innerhalb von drei Tagen unter Krämpfen. Im Krankenhaus weigerte man sich, sie zu behandeln. In der Volksrepublik Rumänien gab es keine Abtreibungen.“
Die Politik sitzt mit am Küchentisch, wenn Florentines Mann Hannes, zwei angehende Lehrer aus der DDR zum Bleiben im Pfarrhaus einlädt, ruft das die bewährten Spitzel auf den Plan. Verweilen wir noch bei dem kleinen Samuel, der Worte sammelt und wenig spricht, springen wir gemächlich zur nächsten Generation, und von dort noch einmal weiter, verbunden durch die Erzählungen, die bleiben. Noch ein Satz, den ich mir aufgeschrieben habe, das lohnt sich bei dieser Autor nämlich sehr:
„Für Anfänge musste man sich entscheiden, enden kamen von allein, wenn man sich nicht entschieden hatte.“
Was Sie versäumen, wenn Sie dieses Buch nicht lesen
Generationen- bzw. Familiengeschichte(n), mit Poesie begleitetes Streifen durch Landschaften, Politik und Gesellschaftspolitik, Gelegenheit zum Selberdenken, zum Wachwerden und Recherchieren über Ceausescus Politik, Umbrüche 1989/1990 Nachdenken über Kraft und Wert von Sprache.
Die Autorin Iris Wolff
wuchs in Hermannstadt und Semlak/Banat auf, emigrierte 1985 mit ihrer Familie nach Deutschland, studierte dort u. a. Deutsche Sprache und Literatur und war von 2003 bis 2013 Mitarbeiterin des Deutschen Literaturarchivs Marbach und Dozentin für Literaturvermittlung. Ihre Romane wurden mehrfach ausgezeichnet, sie erhielt den Marieluise-Fleißer-Preis für ihr Gesamtwerk.
Iris Wolff:
Die Unschärfe der Welt.
Klett-Cotta.
216 Seiten.
Christina Repolust
Ihre Leidenschaft zu Büchern drückt die promovierte Germanistin so aus: „Ich habe mir lesend die Welt erobert, ich habe dabei verstanden, dass nicht immer alles so bleiben muss, wie es ist. So habe ich in Romanen vom großen Scheitern gelesen, von großen, mittleren und kleinen Lieben und so meine Liebe zu Außenseitern und Schelmen entwickelt.”
www.sprachbilder.at
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