Das innere Kind wecken: Zehn spannende Lektionen

Das innere Kind wecken: Zehn spannende Lektionen
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  • Veröffentlicht: 11.01.2022
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Bretter vor dem Kopf sind Kindern fremd. Genauso wie falsche Höflichkeit und Grübelei. Grund genug, um bei ihnen in die Lehre zu gehen.

Was wir von unseren Kindern lernen können

Gestandene Managerinnen und Manager sind einiges gewöhnt. Ob Hochseilklettergarten oder Coaching mit Pferden – kaum eine Methode, die noch nicht ausprobiert worden wäre, um Führungskräften das Quer- und Andersdenken beizubringen. Ein Pilotprojekt der European Leadership Academy (ELA) ringt den TeilnehmerInnen des hochkarätigen Führungskräfteprogramms dennoch Respekt ab: Sie sollen von Kindern lernen.

„Kinder sehen mehr Möglichkeiten und weniger Grenzen. Ihre Sichtweisen sind jenseits von Konventionen. Sie stellen alles infrage.“ So erklärt Guido Fiolka, Geschäftsführer der ELA, warum er ausgerechnet SchülerInnen der Evangelischen Schule Berlin Zentrum engagiert hat, um das Denken der ManagerInnen aus festgefahrenen Spurrillen zu hieven. „Nach den eineinhalb Tagen Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen waren die Erwachsenen zwar ganz schön erschöpft, gleichzeitig aber auch angeregt, berührt und erstaunt“, schildert Fiolka.

„Kinder sind Zenmeister in den eigenen vier Wänden.“

Das Beispiel der ELA zeigt ganz deutlich: Lernen von Kindern funktioniert anders. Es funktioniert über direkte Erfahrungen, denen man sich öffnen muss. Und zwar nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Herzen. Genau aus diesem Grund vergleicht der bekannte Achtsamkeitslehrer Jon Kabat-Zinn Kinder mit spirituellen LehrerInnen. „Zenmeister erklären nicht, was sie meinen. Sie verkörpern einfach nur Präsenz, Gegenwärtigsein“, erklärt er in seinem Buch „Mit Kindern wachsen“. „Sie konfrontieren uns immer wieder mit neuen Herausforderungen, die wir durch das Denken allein nicht lösen können.“

Kinder und insbesondere Babys seien in vielerlei Hinsicht ähnlich, so Kabat-Zinn. Die „Zenmeister in den eigenen vier Wänden“ haben einen ursprünglichen, offenen und reinen Geist, der nicht mit allen möglichen Dingen überfrachtet ist. Gerade weil Kinder noch nicht viel von der Welt, wie sie ist, gesehen haben, haben sie uns einiges voraus. Sie mögen uns gerade mal bis zu den Knien oder bis zum Nabel gehen – dafür haben sie den Kopf mal in den Wolken, mal voller Flausen, immer aber frei für das, was gerade Spaß machen könnte. Ihre Füße mögen nur halb so groß sein wie unsere – dafür sind sie allzeit bereit für einen wilden Galopp, einen beherzten Sprung oder ein Fangenspiel.

10 Tipps für Eltern von ihren Kindern

Von Kindern zu lernen bedeutet in erster Linie, zur Ursprünglichkeit zurückzukehren.

Gleichzeitig ist es eine Reise in die Zukunft, denn ihre Seelen wohnen im Haus von morgen, wie es der arabische Dichter Khalil Gibran in seinem bekanntesten Werk „Der Prophet“ ausdrückt: „Ihr dürft euch bemühen, wie sie zu sein, aber versucht nicht, sie euch ähnlich zu machen. Denn das Leben läuft niemals rückwärts.“

1. Kreativität.

Kinder sind schöpferisch. Dabei haben sie nicht das Ergebnis im Auge, sondern gehen ganz im Tun auf.

2. Unbekümmert im Moment sein.

Grübeln über das Gestern und Morgen ist vor allem kleinen Kindern fremd. Sie sind geborgen im Leben – genau wie wir. Nur dass sie es noch wissen.

3. Ehrlichkeit.

Kinder drücken Enttäuschung ebenso hemmungslos aus wie Abneigung, Wut oder Traurigkeit. Nicht immer ist das im Erwachsenenleben angebracht. Manchmal könnte es aber befreiend sein.

4. Gesunder Egoismus.

Das Neinsagen braucht Kindern niemand beizubringen, auch nicht das Abgrenzen und das vehemente Äußern von Wünschen und Bedürfnissen: Darin sind sie ausnahmslos Naturtalente.

5. Blick für Kleinigkeiten.

Ein Kieselstein, eine Lichtreflexion an der Wand. Die Wolke, die aussieht wie ein Dinosaurier. Die ganze Welt in einem Sandkorn eben – Kinder haben noch Augen dafür.

6. Neugier.

„Kenn ich schon, hatten wir schon.“ Uns Erwachsenen entgeht einiges, weil wir glauben, alles bereits zu wissen. Dabei lässt sich vieles neu entdecken, wieder und wieder.

7. Flow.

Was der Psychologe Mihály Csíkszentmihályi als Flowzustand bezeichnet, ist für Kinder ganz normal. Sie müssen sich nicht motivieren und konzentrieren, weil sie beides ganz automatisch sind: motiviert und konzentriert. Vielleicht nicht unbedingt dann, wenn sie alle Landeshauptstädte für den Sachunterrichtstest auswendig lernen sollen. Aber mit Sicherheit, wenn es um etwas wirklich Spannendes geht.

8. Empathie.

Kinder haben Mitgefühl mit Schnecken, Regenwürmern, Schneeflocken und manchmal sogar mit jüngeren Geschwistern. Vielleicht gelingt es ihnen auch leichter, mitzufühlen, ohne mitzuleiden. Ein bedeutender Unterschied.

9. Weinen und lachen.

Manchmal sogar gleichzeitig! Dass beides zum Leben gehört, wissen Kinder auch ohne Lebenshilferatgeber. Weil sie ihre Tränen ungehindert fließen lassen, bricht sich ihr Lachen umso schneller wieder Bahn.

10. Keine Angst vorm Scheitern.

Ließen Kinder sich von Misserfolgen ebenso schnell entmutigen wie wir, würde keines von ihnen das Laufen lernen. Einmal öfter aufstehen als hinfallen und keinen Moment lang zweifeln – dann klappt es auch mit den großen Zielen.

Ferien im Bett sind auch gut

Die Koffer waren gepackt, das Taxi war bestellt, die Vorfreude groß. Venedig zu Ostern – das hatte sich vor allem die Frau im Hause schon lange gewünscht. Doch es kam anders. Als wir uns am Abend vor der Reise schlafen legten, begann unsere zweijährige Tochter zu erbrechen. Kurz hofften wir, sie habe bloß das Abendessen nicht vertragen, doch in Wahrheit wussten wir es längst: Ein Magen-Darm-Infekt war gerade dabei, uns alle hintereinander kurz, aber schmerzvoll ins Bett zu zwingen.

Wer Kindern gut zuhört, erfährt so manche Weisheit. Regine Bogensberger mit ihrem Nachwuchs.

Die Reise nach Venedig musste also abgesagt werden. Nein, eine Stornoversicherung hatten wir nicht abgeschlossen, das Geld für die Reise war verloren. Dafür waren die diesjährigen Osterferien reich an Lektionen: Es zählt doch nur, dass wir gesund und zusammen sind, kam es mir, als wir endlich wieder gemeinsam eine Mahlzeit genießen konnten. Und noch mehr: Während ich noch immer jammerte und klagte – ach, jetzt würden wir gerade das in Venedig anschauen und jetzt täten wir das – freuten sich die Kinder, wieder gesundet, längst über eine Rauferei im Bett und über Schneehaufen und Pfützchen auf den Straßen Wiens. Für sie gibt es kein Grübeln, kein Jammern über Vergangenes, keine ausdauernde Unversöhnlichkeit. Sie leben im Hier und Jetzt. Zwar wird ein Schmerz unmittelbar und laut rausgebrüllt, um aber schon im nächsten Moment, die letzten Tränen wegwischend, ein neues Spiel zu beginnen. Doch so einfach lässt sich der viel zitierte Kalenderspruch vom Leben im Hier und Jetzt nicht auf das Dasein von Erwachsenen übertragen. Schon bei Kindern zeigen sich Schattenseiten dieses Leitspruchs: Gnadenloses Fordern – ich will, und zwar jetzt und sofort – geht nicht selten damit einher. Selbst wenn man diese egoistische Ausprägung außer Acht lassen würde, wäre es naiv, zu denken, ein reifer Mensch könne ohne Reflexion und Vorausdenken ein gutes und verantwortungsvolles Leben führen. Aber – und das ist wohl der Kern der Lehre von den Kindern – er sollte sich diese Freude, dass man lebt, immer wieder bewusst machen. Es geht also vielmehr um ein gegenseitiges Lernen: Während die Großen den Kleinen zeigen, was im Leben wichtig ist und wie die Welt funktioniert, sollten wir Erwachsene uns darauf besinnen, nicht über unveränderbare vergangene Dinge zu grübeln oder schon während eines fröhlichen Sonntags immerzu an einen unangenehmen Termin am nächsten Morgen zu denken.

Im konkreten Fall würde das für uns Eltern heißen: Schwamm drüber, Venedig kann warten, Osterferien im Bett und Schnee können auch Spaß machen. Und die Kinder hatten auch ihre Lektion: Wenn ich einmal groß bin, schließe ich immer eine Stornoversicherung ab, ich bin doch nicht blöd!

Sie halten meine Ungeduld wach

Erwachsene Kinder halten jung. Diese Erfahrung hat "Welt der Frau"-Mitarbeiterin Eva Reithofer-Haidacher, 50, gemacht, als Mutter von zwei Töchtern, die in Graz und Istanbul studieren.

Meine Töchter sind keine Engel. Sie machen gerne Nächte durch, sie sind tätowiert und werden ihre Studien nicht in Mindestzeit abschließen. Magdalena ist 25, Christina 23 Jahre alt und manchmal denke ich mir: Wann werden sie endlich erwachsen? Doch andererseits: Was heißt „erwachsen“? Wenn Reifsein auch Freisein bedeutet, dann haben sie mir sicher etwas voraus.

Magdalena ist in technischen Dingen begabt. Sie geht an Computer und andere Geräte mit einer Unbeschwertheit heran, die mir imponiert. „Probieren wir es einfach“, das ist ihr Standardsatz – und meistens klappt es. Kürzlich wurde unser Leitungswasser nicht warm. Ein wenig zittrig, aber an Magdalenas Mantra denkend, habe ich das Drücken eines mir unbekannten Knopfes am Boiler gewagt. Voilà, es hat funktioniert! Christina hat Wagemut, mit wenig Geld in der Tasche auf große Reisen zu gehen. Sie braucht kein Hotelzimmer, keinen Mietwagen und keine Restaurants.

Begeistert erzählt sie von der schönen Bucht an der Küste Südfrankreichs, wo sie mit Blick aufs Meer in der Hängematte übernachtet hat. Christina braucht nicht viel, um glücklich zu sein. Ich denke an sie, wenn ich mir wieder einmal etwas Unnötiges kaufen möchte – und lasse es liegen. Freilich haben mein Mann und ich unsere Töchter geprägt. In vielem, was sie denken und tun, erkenne ich uns mit Anfang 20 wieder. Sie wollen Umweltzerstörung, Rassismus und rechtes Gedankengut aus der Welt schaffen. Manches sehe ich heute abgeklärter.

Ohne meine Töchter hätte ich vielleicht schon aufgegeben. Wenn die beiden dann aber streitbar am Sonntagstisch argumentieren, warum es sich zu kämpfen lohnt, erinnere ich mich, wie schön es ist, einer Vision zu folgen. Und dann weiß ich wieder: Ich will nicht werden wie jene, die sich nur ums eigene Wohlergehen sorgen. Ich will nicht werden wie die, denen Ruhe, Sauberkeit und Ordnung genügen. Meinen Töchtern habe ich zu verdanken, dass mir die Ungeduld des Herzens geblieben ist. Die beiden sind einander – trotz großer Unterschiedlichkeit – in seltener Innigkeit nahe. Sie sind Schwestern, das genügt ihnen, damit jede die andere annimmt, wie sie ist. Ohne Wertung, ohne Vorbehalte. Da kann ich noch viel von ihnen lernen. Ich glaube, sie sind doch Engel.

Fotos: Lupi Spuma

Spontan und voller Lebensfreude

Gerade Mütter sollten sich von der verspielten Sichtweise ihrer Kinder anstecken und auch mal fünf gerade sein lassen, meint die Autorin und vierfache Mutter Cornelia Nitsch.

Eltern denken hauptsächlich darüber nach, wie sie ihre Kinder am besten erziehen sollen. Braucht es eine andere Haltung, damit Eltern auch von ihren Kindern lernen können?
Cornelia Nitsch: Ja, die braucht es unbedingt, nämlich um überhaupt auf die Idee zu kommen, dass das Zusammenleben mit Kindern nicht nur aus Erziehung besteht. Es geht vielmehr um die Gestaltung des gemeinsamen Lebens. Wenn Eltern verstehen, dass jedes Kind anders ist und dass sie es von Geburt an mit eigenen Persönlichkeiten zu tun haben, können sie sehr viel profitieren. Vor dem Hintergrund dieser respektvollen Haltung kann ein Pingpongspiel entstehen, bei dem beide Seiten viel lernen.

Hat sich diese respektvolle Haltung bei den meisten Eltern nicht längst durchgesetzt?
In den 1970er- und 1980er-Jahren veränderte sich die Sichtweise auf Kinder dahingehend, dass sie nicht mehr als kleine Wachskugeln wahrgenommen wurden, die erst zu Menschen geformt werden müssen. Diese positive Entwicklung hat sich in den letzten 20 Jahren leider wieder umgekehrt, und zwar durch den großen Druck, den unsere Leistungsgesellschaft auf die Familien ausübt. Dieser Druck geht meiner Ansicht nach hauptsächlich von unserem Wirtschaftssystem aus. Eltern haben das Gefühl, sie müssten ihre Kinder in erster Linie zu Menschen machen, die von der Wirtschaft gebraucht werden, die einen Arbeitsplatz finden und in unserem System funktionieren.

Wie kann man sich diesem Druck entziehen?
Indem man sich in Gelassenheit übt. Wir müssen dem „Bildungswust“ nicht voller Angst entgegenschauen und uns ständig fragen: „Schafft mein Kind das?“ „Gemach, gemach“, sage ich da nur. Es gibt tausend verschiedene Wege zum Glück, nicht nur den einen, der über Matura und Studium führt.

Und was können wir als Eltern nun von unseren Kindern lernen?
Dass sie spontan und voller Freude an das Leben herangehen. Wir können uns von ihrer Neugier und ihrem Forscherdrang anstecken lassen. Wir können die Welt mit den Augen unseres kompetenten Babys sehen und dadurch eine entspanntere, verspieltere Sichtweise entwickeln. Seine kreative und fantasievolle Art, mit der Welt umzugehen, hat einen ganz besonderen Zauber. Die uns Menschen von der Natur mitgegebene Fähigkeit zu spielen ist für Kinder im Hinblick auf ihre Entwicklung lebensnotwendig und für uns Erwachsene eine große Bereicherung. Auch Humor und Fröhlichkeit können wir von unseren Kindern lernen. Beides braucht aber Raum und Zeit, um sich zu entfalten – sowohl bei den Kindern als auch bei den Eltern. Kinder frisieren sich ihre Wirklichkeit so, wie sie es brauchen. Das ist keine Spinnerei, sondern eine sehr sinnvolle Weise, sich der Welt zu nähern, und es würde uns Erwachsenen nicht schaden, uns darauf einzulassen.

Sie haben vier inzwischen erwachsene Söhne. Was können Ihrer Erfahrung nach speziell Mütter von ihren Söhnen lernen?
Da die meisten Mütter sich für die Pflichten des Alltags zuständig fühlen und einiges an Ballast mit sich herumschleppen, ist vielen eine gewisse Lockerheit abhandengekommen. Das Spielen ist nicht unbedingt ihre Domäne, da haben die Väter die Nase vorn, wie auch verschiedene Studien zeigen. Es wäre gut, wenn Mütter sich von dem gemeinsamen Spaß anstecken lassen würden. Ich finde es toll, wie Jungen ihr eigenes Ding machen und sich nicht so leicht von Leistungsdenken und äußeren Maßstäben vereinnahmen lassen. Genau das gereicht ihnen jedoch in der Schule häufig zum Nachteil. Ich persönlich habe von meinen Söhnen gelernt, auch mal fünf gerade sein zu lassen, und es ist mir gar nichts anderes übrig geblieben, als lockerer zu werden. Ihre Lebendigkeit und Sportlichkeit, für die sie sich neben Schule und allen sonstigen Pflichten immer Raum geschaffen haben, haben mich begeistert, da habe ich mich gerne mitreißen lassen.

Als Mutter von vier erwachsenen Söhnen hat Cornelia Nitsch schon einige Turbulenzen hinter sich. Als Journalistin und Autorin sind ihre Themenschwerpunkte Entwicklung und Erziehung. Wie man mit kleinen Rambos und Muttersöhnchen umgehen lernt, schreibt sie in ihrem Buch „Jungen sind einfach anders“.

Omas Haare sind doch wunderschön

Welt der Frau-Mitarbeiterin Laya Kirsten Commenda lernt von ihrem Sohn Nicolai, dass Schönheit im Auge des Betrachters liegt.

Die Oma ist sooo schön, flüstert mein sechsjähriger Sohn mir beim abendlichen Kuschelritual ins Ohr. Ich versuche, mir meine Verwunderung nicht anmerken zu lassen. Die Oma ist 70 und klein. Ihre Oberarme hängen, ihre Haut ist runzelig und voller Altersflecken. „Was findest du denn so schön an ihr?“ – „Ihre Haare!“, haucht mein Sohn andächtig. Noch mehr Wundern. Omas Haare sind grau und schon so dünn, dass die Kopfhaut trotz Dauerwelle durchschimmert.

Meinem Kind, völlig unbeeindruckt von Shampoo-Werbungen und gängigen Schönheitsidealen, gefällt das. Ich staune und lerne. Es sieht die Welt mit einer Unvoreingenommenheit, die mir längst abhandengekommen ist.

Nicht immer waren meine Lernerfahrungen im Zusammenleben mit meinem Sohn so erfreulich – im Gegenteil. Am meisten habe ich dort gelernt, wo es wehtat. Einmal hat er mich angespuckt, außer sich vor Zorn, weil ich ihm die ersehnte Spielfigur nicht gekauft habe. Im ersten Moment war ich völlig fassungslos, fühlte mich erniedrigt, war erfüllt von Schmerz und Unverständnis. Später habe ich verstanden: Er hatte nicht m i c h angespuckt, sondern einfach seine Wut ausgedrückt. Diese Situation hat mich gelehrt, nicht alles persönlich zu nehmen, mein eigenes Kind und sein Verhalten aus einer gesunden Distanz heraus zu betrachten, so gut es eben geht.

Gelehrt hat mein Sohn mich außerdem, dass Kitzeln und Grimassenschneiden die beste Medizin gegen schlechte Laune sind, dass man die Angst vor dem Gewitter besänftigen kann, indem man sich einredet, die Regenjacke sei „donnerabweisend“, und dass das Leben sich nicht an Prognosen hält. Er hat sich mich als Mutter ausgesucht und auf die einhellige Meinung der ÄrztInnen, ich könne nicht schwanger werden, einfach gepfiffen. Vor allem aber habe ich von ihm gelernt, dass Weisheit sich nicht in Lebensjahren messen lässt. „Heute habe ich wirklich keinen guten Tag gehabt“, seufze ich und lasse mich erschöpft aufs Sofa fallen. „Sei froh, dass du überhaupt einen Tag gehabt hast!“, gibt mein Sohn zurück. Recht hat er, der Bursche.

Fotos: Robert Maybach

Von Anfang an ist der Mensch da

Was hat Welt der Frau-Mitarbeiter Peter Lau, 52, von seiner Tochter Lina, fast 4, gelernt? Sein erster Gedanke: Alles. Und das ist auch gar nicht so falsch.

Lina fährt auf Kitareise. Dreimal wird sie vor den Toren der Stadt schlafen, ohne Mama und Papa. Sie ist sehr aufgeregt. Also bringen wir sie morgens zu zweit in die Kita (Kindertagesstätte, Anm. d. Red.). Weil es für sie eine wirklich große Reise ist. Und weil sie nicht, wie im vorigen Jahr, als sie noch nicht ganz drei war, erst später verstehen wird, dass ihre Eltern nicht dabei sein werden.

Diesmal weiß sie es. Und will beim Abschied nicht runter von Mamas Schoß. Papa hat einen Kuss bekommen – tschüss! Mama dagegen verlässt sie erst, als sie auf den Schoß einer Erzieherin darf. Da kann sie sich noch einen Moment festhalten. Und ich verstehe das. Ich verstehe meine Tochter, weil ich mich in vielen Situationen wie sie fühle. Alleine verreisen und nicht loswollen. Sich durch Menschenmengen drängeln und nicht weiterlaufen können. Mit FreundInnen spielen und sie nicht weglassen mögen. Oder einen Streit haben, einen Wunsch nicht erfüllt bekommen und einen Moment innehalten müssen, um sich umstellen zu können. Das alles kenne ich.

Ich habe es beim Innehalten begriffen. Seit Lina ganz klein ist, braucht sie einen Moment, um sich darauf einzustellen, dass sie etwas tun muss, was sie nicht tun will. Wir setzen uns dann hin, zum Beispiel auf die Treppe, wenn sie nicht selber laufen mag, sondern „Armi, Armi“ ruft, um getragen zu werden. Wir sitzen da und sie schimpft oder weint oder lehnt sich bloß an mich. Bis sie schließlich aufsteht, meine Hand nimmt und losstapft. Und ich denke: Genau das brauche ich auch – einige Sekunden oder Minuten, um mich auf eine neue Situation einzustellen.

Irgendwann habe ich begriffen: Da steckt ein Mensch in diesem Kind. Ja, ich weiß, es heißt, in jedem Menschen stecke ein Kind. Aber ich glaube, es ist umgekehrt. Der Mensch ist von Anfang da. Mit seinen Wünschen, Bedürfnissen, Sehnsüchten und Ängsten. Und die ändern sich im Leben nicht. Der einzige Unterschied ist, dass sie beim Kind vollkommen offenliegen.

Erst mit der Zeit wird dieser Mensch im Menschen verschüttet, von Regeln und Gewohnheiten, Disziplin und Ordnung, von Erziehung oder auch dem Wunsch nach Freiheit – sogar der Freiheit von sich selbst. Das war für mich Erwachsenwerden: Nicht mehr von meinen Launen und Wünschen abhängig zu sein. Dies ist für mich die einzige Freiheit, die wirklich zählt. Aber dabei ging etwas verloren: der Kontakt zu meinen Bedürfnissen, zu meinem Rhythmus, zu meinem Tempo.

Ich höre auf meine Tochter. Ich gebe ihr Zeit. Ich gebe ihr Raum. Und weil wir alle gleich sind, gebe ich all das ebenso den anderen Menschen. Auch mir. Das habe ich von Lina gelernt.

Erschienen in der „Welt der Frau“-Ausgabe Juli/August 2013