„Der Mensch ist des Menschen Wolf“, behauptete einst der Philosoph Thomas Hobbes. Wer sich heute in der Welt umsieht, mag durchaus versucht sein, dem Glauben zu schenken. Doch richten wir unser Augenmerk vielleicht zu sehr auf die Schreckensnachrichten unserer Zeit? Vergessen wir nicht die vielen Menschen, die ohne großes Aufheben, doch mit viel Mitgefühl dafür sorgen, dass die Welt sich weiterdreht?
Sie war auf dem Weg ins Krankenhaus, um ihren Vater zu besuchen, als sie aus dem Fenster eines Hauses Rauch aufsteigen sah. Ohne zu zögern, trat Nicole Hey auf die Bremse, sprang aus dem Auto und rannte in das brennende Haus. Dort kämpfte sie sich durch den Rauch in das Obergeschoß vor, wo der Bewohner des Hauses in Schockstarre saß. Gemeinsam mit einem anderen zur Hilfe geeilten Retter zerrte sie den alten Mann ins Freie. Kurz danach stürzte die Zimmerdecke ein.
In welche Gefahr sich die vierfache Mutter gebracht hatte, erkannte sie erst im Nachhinein. „In dem Moment funktioniert man einfach. Schließlich ging es um Leben und Tod“, sagt sie. Was für die mutige Frau offenbar eine Selbstverständlichkeit war, wirft weitreichende Fragen über die menschliche Natur auf: Was bringt Menschen dazu, ihr Leben für andere einzusetzen? Was lässt sie mitfühlend für andere einstehen?
Diese „HeldInnen des Alltags“, von deren beherzten Taten wir immer wieder hören, bezeugen ein Menschenbild, das auf Mitgefühl, Kooperation und Verbundenheit basiert. Und neue Studien aus der Neurobiologie und der Verhaltensforschung belegen es: Mitgefühl ist Grundbestandteil der menschlichen Evolution. „Der Erfolg der Menschheitsgeschichte ist unsere Kooperationsbereitschaft und nicht unsere Wettbewerbsfähigkeit“, schreibt der renommierte Verhaltensforscher Frans de Waal, der mit seinen Forschungen der neoliberalen und sozialdarwinistischen Theorie vom menschlichen Egoismus eine klare Absage erteilt. Wenn es aber stimmt, dass Mitgefühl angeboren ist – weshalb handeln so viele Menschen so, als ob sie keinen Zugriff darauf hätten?
Wie Mitgefühl entsteht
Wir Menschen sind ab dem ersten Augenblick unseres Lebens auf die fürsorgliche Unterstützung unserer Umwelt angewiesen. Wir müssen gehalten und getragen werden, um zu sozialen Wesen zu reifen. Fehlt es uns in frühen Jahren an Mitgefühl und Liebe, so wird der Kontakt zu den eigenen Gefühlen unterbunden und damit auch das Mitgefühl mit anderen blockiert.
Dies erklärt, weshalb Menschen oftmals keinen Zugang zu der ursprünglichen Güte und Zartheit ihres Herzens haben. Dass dies aber keineswegs so bleiben muss, davon ist die Neurobiologin Tania Singer, die am Leipziger Max-Planck-Institut eine „Wissenschaft des Mitgefühls“ begründete, überzeugt. Ihre umfangreichen Forschungen belegen, dass wir uns den Zugang zu unserem Mitgefühl jederzeit eröffnen können. Wir müssen uns nur dafür entscheiden und uns dann darin schulen. Das wichtigste Handwerkszeug für die Entwicklung von Mitgefühl fand die Wissenschaftlerin in den östlichen Weisheitslehren: der Meditation.
ProbandInnen, die an ihrem Trainingsprogramm mit intensiven Achtsamkeits- und Mitgefühlsmeditationen teilnahmen, berichteten schon nach einer Woche davon, dass ihre Bereitschaft, sich anderen Menschen fürsorglich zuzuwenden, spürbar gewachsen sei und dass sie sich hierfür innerlich gestärkt fühlten.
Achtung: „Empathiestress“
Indem wir uns dafür entscheiden, die Schutzhüllen abzustreifen, die wir um unser empfindsames Herz gelegt haben, werden wir wieder offen und berührbar für die Gefühle anderer Menschen. Wir können uns an ihrer Freude mitfreuen und nehmen Anteil an ihrem Leid. Letzteres kann uns mitunter aber auch überwältigen und zu dem führen, was die Psychologie „Empathiestress“ nennt. Gerade Menschen in helfenden Berufen machen häufig die Erfahrung, dass ihre Empathie für andere zu seelischer und körperlicher Erschöpfung und mitunter auch in das Burn-out führt.
Neue Studien aus der Psychologie weisen darauf hin, dass ein stabiles Fundament nötig ist, um sich dem Leid anderer zu stellen. Dieses errichten wir, indem wir lernen, zuerst einmal mitfühlend und fürsorglich mit uns selbst umzugehen. Denn nur wer gut für sich selbst sorgt, verfügt über die Ressourcen, liebevoll mit anderen Menschen umzugehen. Hierfür ist es hilfreich, sich kleine Rituale der Selbstliebe im Alltag zu schaffen, bewusst Dinge zu tun, die den Körper entspannen, den Geist anregen, die Seele nähren. Worum es also geht, ist nichts anderes, als öfter einmal gut zu sich selbst zu sein.
Verbundenheit erfahren
Mitgefühl lässt uns nicht nur das Leid anderer Menschen erspüren, es löst auch den Wunsch aus, dieses Leid zu beenden. Alle religiösen Traditionen, ebenso wie die zeitgenössische Psychologie, sehen im Mitgefühl daher die Grundlage des menschlichen Miteinanders. Mitgefühl fördert Solidarität und Kooperation und motiviert dazu, ethisch zu handeln und sich für andere Menschen einzusetzen. „Was du dem Geringsten meiner Brüder getan hast, das hast du mir getan“, sagt der biblische Jesus und bringt damit die grundlegende Verbundenheit aller zum Ausdruck.
Die zeitgenössische Glücksforschung bestätigt es: Indem wir das Glück unserer Mitmenschen fördern, werden wir selbst glücklich. Indem wir anderen helfen, helfen wir uns selbst. Wer hingegen sein Herz vor dem Schmerz anderer schützt und Mitgefühl blockiert, empfindet schließlich auch keine Freude mehr. Denn Mitfreude und Mitgefühl sind auf das Engste miteinander verwandt. Nichts bringt uns Menschen einander näher als gemeinsame freudvolle Stunden und gemeinsam geteiltes Leid. Das sind die Momente, in denen wir erkennen: Wir alle sind Teil der einen großen Menschheitsfamilie.
Eine Sache der Entscheidung
Mitgefühl für nahestehende Menschen zu empfinden, fällt meist gar nicht so schwer. Doch wie können wir Mitgefühl auch auf fremde Menschen ausdehnen? Diese Fähigkeit ist in der globalisierten Welt wichtiger denn je ist. Bereits Mutter Teresa sagte einmal, dass die meisten Schwierigkeiten in der Welt dadurch entstünden, dass wir das Wort „Familie“ zu eng definierten.
Es ist genau dieses verengte Denken, das uns Grenzen schließen und glauben lässt, wir könnten uns das Leid anderer Menschen vom Leib halten. Dem stellte die Ordensfrau ihr Engagement des Herzens entgegen, das sich nicht vor dem Leid verschanzt, sondern sich diesem aktiv zuwendet. Hierfür gilt es, die Komfortzone des eigenen Lebens öfter einmal zu verlassen und an Orte zu gehen, die uns das Leid unserer Mitmenschen erfahren lassen.
Genau das hat die Salzburger Unternehmensberaterin Sonja Lauterbach getan, als sie im vergangenen Winter zur Insel Lesbos aufbrach. „Ich musste einfach helfen“, sagt sie rückblickend. Gemeinsam mit vielen Freiwilligen aus aller Welt packte sie vor Ort an, wenn die überfüllten Flüchtlingsboote in Sicht kamen. „Da bist du nur noch Mensch, da rennst du los, um zu helfen.“ Sie erzählt von der Todesangst in den Augen der Kinder und von der stillen Dankbarkeit der Geretteten. „Es war für mich eine Reise an die Quelle des Menschseins“, sagt sie und weiß heute: „Wir alle können in der Not ein Anker sein.“
Ein Training in Mitgefühl
Gibt es einfache Tipps, um Mitgefühl mit sich selbst zu entwickeln?
Frits Koster: Zuerst einmal ist es wichtig, achtsam zu sein und wahrzunehmen, was gerade in uns geschieht. Ähnlich wie wir im Fitnesstraining unsere Muskeln stärken, können wir auch Mitgefühl für uns selbst aufbauen. So können wir uns in Stresszeiten durch einige tiefe Atemzüge selbst beruhigen und uns ausruhen, wenn wir uns erschöpft fühlen. In schwierigen Situationen hilft es, sich selbst liebevoll zuzulächeln oder sich tröstend eine Hand auf Herz oder Bauch zu legen.
Wie können wir das Mitgefühl auf unsere Mitmenschen ausdehnen?
Indem wir uns bewusst machen, dass wir durch unser gemeinsames Menschsein verbunden sind und dass wir alle die gleichen Bedürfnisse haben: Wir möchten glücklich sein und in Sicherheit leben. Eine effektive kleine Übung, um für fremde Menschen ein freundliches Gefühl zu entwickeln, ist beispielsweise, ihnen im Verkehrsstau oder in der Warteschlange im Supermarkt einen freundlichen Gedanken zu schicken: „Ich wünsche dir Glück und Gesundheit!“ Oder: „Hab einen schönen Tag!“
Was sind die Bausteine für das Mitgefühlstraining, das Sie entwickelt haben?
Wir wenden viele Meditationsformen und Imaginationsübungen für die Entwicklung von Güte und Mitgefühl an. Wir stellen uns etwa einen mitfühlenden Begleiter an unserer Seite vor oder imaginieren einen Ort, an dem wir uns sicher und geborgen fühlen. Wir erkunden meditativ auch Bereiche im eigenen Leben, in denen wir uns blockiert fühlen. Studien aus der Neurowissenschaft belegen, dass wir durch Meditation bewusst neue neuronale Pfade im Gehirn aktiveren und so das Mitgefühl stärken können. Diese Studien belegen auch, dass sich das Meditieren positiv auf unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit auswirkt.
P.S.: Wenn Sie – so wie wir – beeindruckt sind von Menschen, die ganz selbstverständlich und ehrenamtlich für andere da sind, bedanken Sie sich doch mit einer „Welt der Frauen“-Abospende.
Sie unterstützen damit karitative Organisationen in ihrem Engagement und stärken nicht nur betreuende, sondern auch betreute Frauen in ihrem herausfordernden Alltag.
Erschienen in der „Welt der Frauen“-Ausgabe November 2016 – hier können Sie die Einzelausgabe nachbestellen.