Lektionen für ein gutes Leben

Lektionen für ein gutes Leben
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  • Veröffentlicht: 20.01.2022
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Als meine Mutter diese Erde verließ, habe ich viel über die natürlichen Vorgänge des Werdens und Vergehens gelernt.

Wenn ein sehr nahestehender Mensch stirbt, stellen sich unweigerlich die großen Fragen des Lebens. Was macht unser Sein eigentlich aus? Wer oder was stirbt – und wer oder was lebt weiter?

Durch den Tod meiner Mutter ist mir sehr bewusst geworden, dass es hauptsächlich unser Widerstand gegen die Vergänglichkeit ist, der Abschiede und Übergänge so schmerzhaft macht. Wenn wir jedoch diesen Widerstand aufgeben und damit einverstanden sind, dass alles, was geboren wird, auch wieder sterben muss, wenn wir uns ganz dem zuwenden, was vom Tod unberührt bleibt, dann müssen wir unter Abschieden und Verlusten nicht so sehr leiden.

Natürlich ist das keine einfache Lektion für uns Menschenwesen, die wir uns doch oft gefangen fühlen in den Dimensionen von Raum und Zeit und in der deutlichen Begrenztheit unseres fragilen Körpergehäuses. Aber es ist wohl nicht nur eine der schwierigsten, sondern auch eine der wichtigsten Lektionen für uns – wenn nicht die wichtigste überhaupt.

Ein gutes Leben – wie geht das?

Neben den großen Fragen stellten sich mir in der Zeit, in der ich meine Mutter in ihrem letzten Lebensabschnitt begleitete, aber auch noch andere, praktischere Fragen – zum Beispiel die, was es eigentlich für ein gelungenes, für ein gut gelebtes Leben braucht. Ich denke, dass jede Generation ihre eigenen Entwicklungsaufgaben hat und dass wir auf dem aufbauen können, was unsere Mütter und Väter, unsere Ahnen und Ahninnen vor uns gelernt und verwirklicht haben.

Meine Mutter war eine sehr zarte und empfindsame Frau, gleichzeitig aber auch ungemein zäh. Ein guter Freund von mir nannte sie einmal „die zerbrechliche Königin“, und ich kann mir keine treffendere Bezeichnung vorstellen. Obwohl sie in ärmlichen Verhältnissen groß wurde, war sie eine echte Lady. Ihre Würde, die sie auch nicht verließ, als sie von der Krankheit schon schwer gezeichnet war, verlieh ihr etwas Königliches.

Von dieser wunderbaren und besonderen Frau, von der zerbrechlichen Königin, habe ich als deren einzige Tochter viel gelernt.

7 Tipps für ein gutes Leben

1. Hör nie auf zu staunen

Selbst als sie schon weit über 70 war, hatte meine Mutter immer noch die staunenden Augen eines kleinen Mädchens. Nichts war ihr zu unscheinbar oder zu alltäglich, als dass sie es nicht hätte bewundern können. Sie lebte in einer sehr kleinen Welt. Aber da sie so viel Liebe zum Detail hatte, konnte sie über kleine Dinge genauso staunen wie andere Menschen nur beim Anblick des Grand Canyons oder der höchsten Gipfel des Himalajas.

„Es gibt zwei Arten, sein Leben zu leben: entweder so, als wäre nichts ein Wunder, oder so, als wäre alles eines. Ich glaube an Letzteres“, sagte Albert Einstein. Meine Mutter war keine Nobelpreisträgerin, aber dass der Schlüssel zum Glück in unserer Perspektive auf das Leben liegt, wusste sie mindestens so gut wie der berühmte Physiker.

2. Sei flexibel wenn es darum geht, deine Berufung zu finden

Meine Mutter wäre am liebsten Kindergärtnerin geworden, aber wie so vielen Frauen ihrer Generation blieb es ihr verwehrt, einen Beruf zu ergreifen, der ihren Gaben und Fähigkeiten entsprach. Der Lehrberuf als kaufmännische Angestellte wurde ihr einfach zugewiesen. Unvorstellbar!

Heute haben wir zwar viel mehr Wahlmöglichkeiten, aber es gibt immer noch genug innere und äußere Blockaden, die uns daran hindern, unser Potenzial voll zu entfalten. Eine davon ist, dass wir oft zu fixe Vorstellungen haben oder von dem ausgehen, was es bereits gibt, anstatt unsere eigenen Berufe und Arbeitsfelder zu kreieren. Das hindert uns daran, neue Formen und Möglichkeiten dafür zu finden, worum es uns in der Essenz geht.

Meine Mutter zum Beispiel tat alles, was eine Kindergärtnerin tut, einfach in ihrem privaten Umfeld. Zuerst mit ihren eigenen Kindern, dann engagierte sie sich in der Kinder- und Jugendarbeit in der Gemeinde, und danach kamen die Enkelkinder an die Reihe. Sie nähte einen bunten Überwurf, der den Esstisch im Nu in die Villa Kunterbunt verwandelte, sie las mit Engelsgeduld vor und erzählte eigene Geschichten, sie sang, musizierte, bastelte, stricklieselte, und im Fasching wurde unsere Wohnung meist von einer Horde verkleideter Kinder gestürmt, die beim Verspeisen der von ihr selbst produzierten Faschingskrapfen überall die Spuren klebriger Marillenmarmelade hinterließen.

Es geht nicht um das Gefäß – es geht um den Inhalt. Es geht darum, was uns wirklich Freude macht, womit wir uns ganz in unserem Element und im Einklang mit unserer wahren Natur fühlen. Wenn wir diesem Gefühl folgen, findet sich mit Sicherheit eine passende äußere Form dafür.

Ich zum Beispiel wollte immer eine berühmte Schriftstellerin werden (hey, ich bin erst 44, das geht sich noch locker aus!). Irgendwann habe ich dann aber verstanden, dass es mir im Grunde darum geht, mich authentisch und kreativ auszudrücken, mit Worten, Gedanken und Gefühlen zu spielen, mich selbst besser zu verstehen und mich mit anderen Menschen zu verbinden. Also blogge ich wie wild und schreibe hin und wieder einen persönlichen Brief oder einen Artikel für eine Zeitschrift. Das macht mich rundherum glücklich – auch ohne Berühmtheit.

3. Schenke aus ganzem Herzen

Meine Mutter wuchs in bitterster Armut auf. Später lebten sie und mein Vater zwar in bescheidenem Wohlstand, aber meine Mutter verfügte nie über viel eigenes Geld. Dennoch war sie ganz groß im Schenken. Sie beschenkte nicht nur ihre Kinder, Enkelkinder und Freunde, sondern auch die Freunde ihrer Kinder und deren Kinder und Enkelkinder und überhaupt alle, die irgendwie in ihre Nähe kamen.

Meine Mutter machte sich viele Gedanken da­rüber, womit sie jemandem eine echte Freude bereiten konnte, und ihre kunstvollen kreativ-verspielten Geschenkverpackungen sind legendär. Egal, was sich darin versteckte: Sie schenkte damit ihre Aufmerksamkeit, ihre Zuwendung und ihre Liebe.

4. Setze gesunde Grenzen

Diese Lektion lernte auch meine Mutter erst in ihren allerletzten Lebensmonaten. Zuvor tat sie sich schwer damit, gesunde Grenzen zu wahren und sich vor Energievampiren jeder Art zu schützen. Sie besaß die an sich sehr wertvolle Fähigkeit, andere Menschen mit offenen Armen willkommen zu heißen und in ihr Herz zu schließen. Oft ging das gut und bereicherte beide Seiten. Oft genug geschah es aber auch, dass meine Mutter andere über ihre Grenzen trampeln, sich ausnutzen oder von oberflächlichem Geblubber ihre Zeit stehlen ließ. Sie hasste das zwar, fand aber lange keinen Weg, sich dagegen zur Wehr zu setzen.

Als jedoch klar wurde, dass ihre Zeit hier auf Erden bald zu Ende gehen würde, lernte sie, sich abzugrenzen und ihre Energie für jene Menschen aufzusparen, die ihr wirklich am Herzen lagen. Als ich diese Entwicklung bei ihr beobachtete, habe ich mir geschworen, nicht so lange damit zu warten wie sie. Zeit ist immer kostbar – nicht erst dann, wenn man unter einer schweren Krankheit leidet. Das Leben ist fragil und unvorhersehbar. Es ist zwar nie zu spät, um gesunde Grenzen zu setzen – aber auch nie zu früh.

5. Versuche nicht, andere Menschen zu ändern – und auch nicht das Leben

Meine Mutter hatte eine ganz besondere Art zu seufzen. Mit Jammern oder Resignation hatte diese Lautäußerung nichts zu tun – viel mehr mit Akzeptanz. Sie wusste, dass man andere Menschen nicht verändern kann. Wenn sich also wieder einmal jemand seltsam benahm oder nervig und anstrengend war, dann seufzte sie tief und sagte: „Nicht aufregen. Er ist nun mal, wie er ist.“ Und damit war die Sache erledigt.

Ihre Akzeptanz erstreckte sich aber nicht nur auf andere Menschen, sondern auch auf alles, was das Leben ihr brachte. Eine Kriegs- und Nachkriegskindheit in bitterer Armut, ihren ersten Sohn, der wenige Tage nach der Geburt wieder starb, die Krebserkrankung, die mit all ihren Phasen mehrere Jahre ihres Lebens prägte. Ich habe nie ein Wort der Auflehnung von ihr gehört, kein Jammern und kein Hadern. Irgendwie fand sie immer einen Weg, mit all dem einverstanden zu sein und das Beste daraus zu machen. Zu akzeptieren, dass auch Schmerz, Verlust, Krankheit und Leid zum Leben gehören, lässt uns eben diese Dinge leichter ertragen.

6. Friends forever

Meine Mutter hatte einen Kreis von Frauen, die sie seit der Volksschulzeit kannte. Diese Frauen kamen mehrmals im Jahr zu ihren sogenannten „Jungmädchentreffen“ zusammen, selbst als alle bereits ziemlich betagt waren. Diese Freundschaften trugen sie durchs Leben. Egal, was in den Familien, Berufen und Beziehungen geschah, die Jungmädchen hatten einander, stützten und unterstützten sich und teilten ihre Erfahrungen und Erinnerungen.

Tiefe Verbindungen sind eine der größten Kostbarkeiten des Lebens. Miteinander zu lachen, zu weinen und sich gegenseitig immer wieder Mut zuzusprechen – das nährt und gibt Halt. Und am Ende sind es vor allem unsere Herzensverbindungen, die zählen.

7. Wenn gar nichts mehr geht, geht immer noch eins!

Meine Mutter war nicht nur eine Königin, sondern auch eine Schelmin. Sie hatte einen Sinn für knochentrockenen Humor, der oftmals auch tiefschwarz sein konnte. Dieser Humor blitzte oft genau in jenen Momenten hervor, in denen es ganz eng wurde, zum Beispiel als beim Gespräch mit dem Arzt die düstere Prognose ihrer Krankheit klar zur Sprache kam oder als sie so schwach wurde, dass sie das Bett nicht mehr verlassen konnte.

Dann überraschte sie uns damit, dass sie von einer witzig-makabren Filmszene erzählte oder dass sie wie ein kleines Kind fragte, ob sie sich eines der in Glitzerpapier gehüllten Bonbons nehmen dürfe, die auf dem Tisch des Arztes lagen. Damit gab sie uns die Erlaubnis, in schweren Stunden nicht nur zu weinen, sondern auch zu lachen – und das verlieh der Schwere Flügel. Wenn gar nichts mehr geht, geht immer noch lachen. Und das ist gar nicht so wenig.

Ich vermisse sie sehr, diese zarte, starke Frau. Aber ich fühle ihre Kraft und ihre Weisheit in meinen Adern und Knochen. Alles, was meine Mutter ausmachte, lebt in mir weiter. Nichts ist jemals umsonst, nichts geht jemals verloren. Wir dürfen uns trösten – es gibt keinen Tod.

Laya mit ihrer Mutter

Zu dieser Geschichte: Edda Hütter wurde 1941 geboren und starb im November 2017. Ihre Tochter Laya Commenda begleitete sie dreieinhalb Jahre lang durch alle Phasen ihrer schweren Krebserkrankung. Während dieser Zeit lernte sie ihre Mutter noch einmal ganz neu kennen, und so manches, was die Mutter-Tochter-Beziehung zuvor getrübt hatte, wich großem Respekt vor- und tiefem Verständnis füreinander. Den Abschied von der „zerbrechlichen Königin“ hat Laya Commenda – trotz aller Trauer und allem Schmerz – als etwas sehr Tröstliches und Friedliches erlebt. Was bleibt, sind eine große Dankbarkeit und eine zarte, schwebende Verbundenheit.