Geschichte: Der Adventstrand

Geschichte: Der Adventstrand
Promptografie: KI-Grill
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  • Veröffentlicht: 24.11.2023
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Von einem kleinen Mädchen, getrockneten Früchten, einem Weihnachtscomputerspiel, einem Kreuzzeichen und einem Meeresbecken.

Sie saßen beide direkt neben mir. Reihe 26, Plätze D, E und F, im Charterflug zurück von Teneriffa nach Salzburg. Die Kleine am Fenster, ihre Mutter in der Mitte, ich am Gang. Wie es so ist in Charterflügen, war es ziemlich eng. Außerdem: So klein die Kleine, so groß war ihre Mutter. Groß, nicht ausladend. Ihr linker Oberarm, hübsch gebräunt, stand verflixt zu mir herüber. Wir mussten uns beide schmal machen und wussten nicht, wohin mit unseren Beinen. Ein paar Mal hatten wir während des Hin und Hers mit Handtaschen, Wasserflaschen und dem Einräumen der Gepäckfächer schon entschuldigende Blicke gewechselt. Jetzt kehrte Ruhe ein. 

Unmittelbar nach dem Start schob die Kleine die Fensterblende herunter, und beide schliefen – die eine in den Armen der anderen – sofort umstandslos und bummfest ein. So als flögen sie jeden Tag von hier ab und brächten kein Interesse mehr auf für einen Blick auf die farbige Inselwelt unter uns, auf den Ozean, den blauen Himmel oder die rosa-orangen Wolkenbänke am Horizont, die nun nicht mehr zu sehen waren. Auch für mich nicht. Das blickdichte Fenster irritierte mich. Lebten die beiden auf Teneriffa? Hatte sie jemand zum Flughafen gebracht? Der Vater der Kleinen? Würde sie jemand abholen? Unüberhörbar stammten sie aus Vorarlberg. 

„Sie schaute kurz freundlich zu mir auf: feines, halblanges Blondhaar, haselnussbraune Knopfaugen, Vorschulalter. Sehr viel Pink und Rosa an Kleidung, Haarspange, Trinkflasche und Rucksack – Eiskönigin-Elsa-Phase.“

Während ich, die ich nichts anderes zu tun hatte, so vor mich hin überlegte, schlief ich ebenfalls ein, und als ich eine Stunde später wieder aufwachte, hatte sich die Szenerie auf den beiden Nebensitzen geändert. Mutter und Tochter hatten Platz gewechselt. Jetzt saß die Kleine neben mir. Sie schaute kurz freundlich zu mir auf: feines, halblanges Blondhaar, haselnussbraune Knopfaugen, Vorschulalter. Sehr viel Pink und Rosa an Kleidung, Haarspange, Trinkflasche und Rucksack – Eiskönigin-Elsa-Phase. Auf dem Bildschirm ihres ebenfalls pinken Kindertablets lief jetzt ein dicker Comic-Weihnachtsmann durch eine langsam von oben nach unten durchwandernde Comic-Winterlandschaft voller rundlicher Schneehasen, karottennasiger Schneemänner, dickwangiger Engel und roter Christbaumkugeln. Die Kleine wischte mit ihrem rechten Zeigefinger in einem Affentempo auf dem Bildschirm herum. Als wäre ihr Finger ein Radiergummi, tappte sie hier und da auf eins der Objekte und löschte es weg. Im Hintergrund dudelte eine fröhliche Tingeltangel-Musik, die heiterer wurde, wenn die Kleine wieder eine Weihnachtsfigur tilgte. Darum schien es mir jedenfalls zu gehen. Aha, Weihnachten als kindliche Ausstreich-Übung, dachte ich. Ist mal etwas anderes. Die Mutter, die versonnen an ihrer Trinkflasche nuckelte und aus dem – nunmehr offenen – Fenster schaute, griff kurz herüber und drehte mit geübtem Handgriff das Tingeltangel-Gedudel auf leise. 

Jemand aus meiner Freundesgruppe reichte ein Plastiksackerl mit Trockenfrüchten durch. Ich sah den Blick der Kleinen und hielt ihr das Säckchen hin. Die Mutter nickte, die Kleine griff hinein, bedankte sich, nahm eine rote, picksüße Erdbeere und später eine Ananasscheibe. Nach einiger Zeit sagte sie recht unvermittelt zu mir: „Die heb ich mir auf“, und deutete auf die halbe Ananasscheibe, die sie fein säuberlich auf dem Rand ihres Tablets platziert hatte. Ich lobte ihre Weitsicht und bot ihr weitere Früchte an. Ab jetzt wechselten wir gelegentlich ein paar Sätze. 

Sie war offenherzig und ohne Scheu. Unter Zuhilfenahme ihrer Finger zählte sie mir die Namen ihrer FreundInnen auf. Sie wolle auch noch ein anderes Mädchen fragen, ob sie ihre Freundin sein möchte, sagte sie leise. „Ich habe Angst, dass sie Nein sagt.“ Sie flüsterte es mehr zu sich selbst als zu mir. „Der Leon hat überhaupt gar keinen Papa“, ließ sie mich wissen. Und schließlich: „In unserer Familie leben wir auch getrennt.“ Ich fragte sie nach ihrer Reise und danach, was sie alles gesehen hatte. Sie erzählte von Papageien und Delphinen. Die Mutter fügte Tiere hinzu. Beim Wort Tiger krümmte die Kleine ihre Finger zu Raubtierkrallen, beim Wort Affe spitzte sie ihre Lippen wie ein Schimpanse.

„Die Kleine lachte vergnügt. Sie freue sich schon so aufs Christkind, sagte sie. Aufgeregt teilte sie mir mit, sie sei auf Teneriffa außerdem am Adventstrand gewesen.“

Dann sagte die Mutter: „Ich bin zum ersten Mal seit zwölf Jahren wieder geflogen.“ Sie sei Alleinerzieherin. Drei Jahre habe sie für diese Woche mit ihrer Tochter auf Teneriffa gespart. „Aber ich wollte es unbedingt machen. Ich hab’s ihr versprochen.“ Sie arbeite in einem Schichtbetrieb. Mamma mia, dachte ich mir! Schichtbetrieb und alleinerziehend. 

Sie schicke die Kleine nicht den ganzen Tag in den Kindergarten. Nur drei Vormittage die Woche. Auch wenn es schwierig sei, aber sie habe kein Kind bekommen, um es dann den Großteil des Tages nicht zu sehen. Ich hatte das Gefühl, sie erwähnte das auch, um gleich von vornherein den Vorwurf auszuhebeln, sie kümmere sich als Alleinerzieherin nicht gut genug um ihr Kind. Das Flugzeug landete. Die Mutter machte ein Kreuzzeichen. Die Kleine machte es auch. Ein bisschen ungelenk, wie im Scherz. „Als ob du nicht wüsstest, wie man ein Kreuzzeichen macht. Als ob ich nicht jeden Abend mit dir beten würde“, lachte die Mutter. Wieder hatte ich den Eindruck, sie würde das auch sagen, damit niemand auf die Idee kommen könne, sie hätte nicht auch das Seelenheil ihres Kindes stets im Blick. 

Die Kleine lachte vergnügt. Sie freue sich schon so aufs Christkind, sagte sie. Aufgeregt teilte sie mir mit, sie sei auf Teneriffa außerdem am Adventstrand gewesen. „Am Adventstrand?“, fragte ich zurück. Ja, der heiße so, sagte die Kleine glücklich und versonnen und ließ mich wissen, dass ihr Koffer ebenfalls pink sei und ich mit ihr am Gepäckband warten solle, damit sie ihn mir noch zeigen könne. Das tat ich. Ich dachte über den Adventstrand nach. Mir war kein Adventstrand untergekommen. Ich bewunderte ausgiebig den pinken Rollkoffer. Wir gaben uns die Hand, und ich wünschte ihr Glück. Die Kleine winkte mir nach und rief mir laut einen Gruß hinterher. Ich sah die Mutter lachen. 

Dann fiel der Groschen. Ich war an einem Strand gewesen, vielmehr bei einem Lavabecken am Meer: Es hieß „Charco del viento“. Del viento, des Windes. Vielleicht war im Kopf der Kleinen „del viento“ zu „advento“ geworden. Jetzt hatte der Wind auch sie wieder aus meinem Leben davongetragen, und der Advent fing an.