Viele medizinische Produkte und Prozeduren sind auf Männer abgestimmt. Diese Beispiele zeigen, warum Medizin unbedingt geschlechtersensibel sein muss.
Es gibt eine ganze Reihe an Krankheiten, die sich bei Frauen anders als bei Männern auswirken. So zeigen sich Symptome auf andere Weise, später oder gar nicht. Die Erforschung der geschlechtsspezifischen Unterschiede ist lange Zeit ignoriert worden: Der männliche Körper galt als Maßstab, der weibliche als Abweichung davon. Es wurde vor allem an männlichen Testpersonen geforscht und Frauen wie kleine, leichtere Männer behandelt. Der aus dem Englischen stammende Begriff „Gendermedizin“ hat sich durchgesetzt, auch wenn es nicht (nur) um das soziale, sondern hauptsächlich um das biologische Geschlecht geht.
Das berühmteste Beispiel: der Herzinfarkt
Während die meisten Menschen die Symptome für einen Herzinfarkt bei Männern aus dem Stegreif nennen können (Schmerzen im Brustkorb, die in andere Körperregionen wie Arme ausstrahlen), wissen die wenigsten, wie sich ein Herzinfarkt bei Frauen bemerkbar macht: Atemnot, Schweißausbrüche, Rückenschmerzen, Übelkeit und Erbrechen, Bauchschmerzen oder Müdigkeit sind häufige Symptome. Diese werden oft als Magenverstimmung oder beginnender grippaler Infekt missverstanden, was dazu führt, dass Frauen im Schnitt später als Männer medizinische Hilfe bekommen.
Fact: Tatsächlich haben Frauen seltener Herzinfarkte als Männer, diese verlaufen aber häufiger tödlich.
Alzheimer: typisch Frau?
Ein Großteil der an Alzheimer leidenden Personen sind Frauen. Das wurde lange mit der höheren Lebenserwartung von Frauen erklärt, weil das Risiko, an Alzheimer zu erkranken, mit dem Alter steigt. Inzwischen vermuten die Forschenden jedoch, dass geschlechtsspezifische Gene dahinterstecken könnten, die für die Durchblutung des Gehirns und die Informationsweitergabe zuständig sind. Aber auch kognitive und soziale Faktoren, die vor allem Frauen betreffen, stehen im Verdacht.
Der Punkt ist: Endlich wird erforscht, warum viel mehr Frauen an Alzheimer erkranken, und so werden vielleicht Therapiemöglichkeiten gefunden.
Traurige Berühmtheit: Contergan
Weil Medikamente meist nur an Männern getestet und daraus Ergebnisse für Frauenkörper abgeleitet wurden, wurde das Medikament Contergan auch Schwangeren verabreicht. In den 1960er-Jahren galt es als DAS Mittel gegen Morgenübelkeit. Der Wirkstoff war aber nicht einmal an schwangeren Labortieren getestet worden. Es dauerte viele Jahre, bis ein Zusammenhang zwischen dem Medikament und einer Häufung von Kindern, die mit Fehlbildungen zur Welt kamen, hergestellt wurde.
Paradox: Als Folge davon wurden gebärfähige Frauen zu ihrem Schutz von klinischen Studien ausgeschlossen und bekommen erst recht keine passende Medikation.
Undiagnostiziert und leidend: Frauen mit AD(H)S
Mädchen und Frauen werden häufig erst spät oder gar nicht mit Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom diagnostiziert. Der Grund dafür ist, dass sich das Syndrom anders zeigt: Sind Buben zappelig, laut und unkonzentriert, so weisen Mädchen häufiger die Variante ohne Hyperaktivität auf, ziehen sich eher zurück, sind sensibel, verunsichert und verletzlich. Sie zeigen also Verhalten, das gesellschaftlich akzeptiert ist, und leben so oft jahrelang ohne AD(H)S-Diagnose – und damit auch ohne angemessene medizinische Unterstützung.
Die Folge: Erwachsene Frauen haben oft diffuse AD(H)S-Symptome und eher das Gefühl, dass „etwas nicht stimmt“ – und werden damit abgespeist, „nur“ überfordert zu sein.
Die Liste ließe sich – leider – endlos fortsetzen. Die gute Nachricht ist: Gendermedizin ist inzwischen im Fokus der Aufmerksamkeit medizinischer Forschung angelangt. Was fehlt, ist wie so oft das Geld: Um Frauen in klinischen Studien sichtbarer zu machen, muss auch der Anteil an Teilnehmerinnen in der Testgruppe vergrößert werden. Das kostet Geld – und das muss endlich aufgebracht werden, um einer gendergerechten Medizin näher zu kommen.