Gemeinsam gegen Gewalt auftreten

Gemeinsam gegen Gewalt auftreten
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  • Veröffentlicht: 25.11.2022
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Gewalt gegen Frauen sei ein historisch gewachsenes Problem, das vor allem eines brauche: miteinander dagegen aufzustehen – einen Schulterschluss von Politik über NGOs und Medien bis zur Zivilgesellschaft, sagt Psychotherapeutin Elisabeth Cinatl, Geschäftsleiterin des Vereins „Wendepunkt“ in Wiener Neustadt und erklärt, warum es Frauen oft so schwerfällt, sich von Gewalttätern zu trennen.

Es macht immer wieder aufs Neue betroffen, wenn eine Frau über Gewalterfahrung in einer Partnerschaft berichtet. Warum dauert es oft so lang, bis Frauen sich aus solchen Beziehungen lösen können oder warum bleiben sie auch weiter in der Beziehung? 

Es geht um ein Spannungsfeld Liebe/Angst, um Hoffnung, Scham- und Schuldgefühle, oft aber auch um Abhängigkeiten finanzieller Natur. Oder es ist wegen der Kinder: Häufig droht der Gefährder oder Gewalttäter, dass die Frau die Kinder nicht mehr sehen darf, wenn sie ihn verlässt. Und die Frauen suchen die Schuld für das Verhalten des Mannes bei sich selbst. Dazu kommen gesellschaftliche Bilder. Gewalttäter haben ganz oft zwei Gesichter. Nach außen hin ist er der beste, tollste, liebste Kumpel und Freund, von dem man alles haben kann – aber zuhause zeigt er ein ganz anderes Gesicht. Das macht es für Frauen noch einmal schwieriger, weil sie befürchten müssen, dass ihnen nicht geglaubt wird. Und dann gibt es gesellschaftliche Bilder, die Gewalt noch immer als in Ordnung oder als Kavaliersdelikt benennen.
Und es ist ja auch nicht so, dass das Paar sich kennenlernt und ein paar Wochen später prügelt er sie. Das beginnt schleichend, oft ganz subtil. Wenn er die Frau zum Beispiel bittet, doch bei ihm zuhause zu bleiben, statt ihre Freundin zu treffen, kann man das eventuell noch irgendwie als süß und nett deuten. Es beginnt oft ganz langsam, dass die Frauen sich isolieren oder isoliert werden.
Vielen Frauen ist auch ganz lange nicht bewusst, dass sie abgewertet werden, weil die Grenzverschiebung so langsam passiert, dass man es nicht bemerkt. Wenn er zum Beispiel im Spaß sagt: „Na, wie schaust denn du heute wieder aus.“ Oder: „Jetzt hast du auch schon wieder zehn Kilo zugenommen.“ Da ist vieles gesellschaftlich irgendwie noch akzeptiert, und das verschiebt bei den Frauen sozusagen die eigene Grenze – sie empfinden es zwar als unangenehm, denken dann aber, dass sie vielleicht zu empfindlich sind.
All das sind Faktoren, die es für Frauen so schwer machen, sich zu lösen. Und der größte Faktor: Die Trennung ist die gefährlichste Zeit für Frauen. Das spüren sie.  

 

Warum ist der Zeitpunkt der Trennung ein Knackpunkt? 

Bei Gewalt geht es immer um Macht, das ist der Unterschied zu einem Streit. Viele Männer haben ein Anspruchsdenken: Die Frau gehört mir. Oder eine Frau wird ermordet und danach begeht der Mann versuchten oder auch durchgeführten Suizid. Das ist dieser Größenwahn (das sage ich jetzt bewusst so): „Die gehört zu mir und ich gehe sicher nicht alleine aus dieser Welt.“ Die Frau ist die Verlängerung seiner selbst. Und diese Verlängerung, die kann ihn natürlich nicht verlassen. Das ist eine so tiefe narzisstische Kränkung, da geht es wirklich ans Eingemachte. Und deshalb: Bevor ein anderer diese Frau bekommt, muss sie sterben – um es jetzt einmal pathetisch zu sagen. Das sind die inneren Täterdynamiken. Es geht immer um Macht, um Besitzdenken, also noch immer um dieses Ungleichgewicht, wie viel eine Frau wert ist und wie viele Rechte der Mann hat.  

„Bis ins Jahr 1989 gab es die Vergewaltigung in der Ehe nicht als Straftatbestand. Sex war eine Pflicht in der Ehe.“

Ist das ein historisch gewachsenes Problem?  

Genau. Bis 1975 durften Frauen ja nicht einmal unterschreiben, dass sie arbeiten oder nicht mehr arbeiten gehen. Das ist ja ein Wahnsinn, das ist noch nicht einmal 50 Jahre her. Bis ins Jahr 1989 gab es die Vergewaltigung in der Ehe nicht als Straftatbestand. Sex war eine Pflicht in der Ehe. Und das ist erst 33 Jahre her. Ich finde, das sagt auch sehr viel aus. Wir haben im Verein „Wendepunkt“ ja seit 2019 auch die Fachberatung sexualisierte Gewalt für Niederösterreich angesiedelt. Und da sagen uns Frauen in der Beratung: „Logisch, dass er so ausgezuckt ist, wir haben ja schon drei Wochen keinen Sex gehabt. Das gehört ja dazu, es ist ja sein gutes Recht, Sex zu haben.“ Das ist noch immer in den Köpfen: die triebgesteuerten Männer. Aber ich finde, da tut man Männern auch unrecht mit diesem Bild des Mannes, der ständig kann und will. Das weiß ich aus meiner Psychotherapiepraxis, wo ich ja auch mit Männern arbeite: Die wollen nicht immer und können nicht immer. Aber grundsätzlich gibt es dieses Bild, dass Frauen für Sex zur Verfügung stehen müssen, egal, ob sie wollen oder nicht. Das hat natürlich einen historischen Hintergrund.

 

Betrifft es alle Berufs-, Bildungs- und Einkommensgruppen, alle Religionen und Herkunftsländer, quer durchs Gemüsebeet? 

Quer durchs Gemüsebeet, genau. Das kommt in jeder Schicht vor. Es geht bei finanziell bessergestellten Familien dann nur um andere Themen. Worüber ich mich aber immer wieder ärgere: wenn bei Gewalttätern die Nationalität nur angeführt wird, wenn sie keine Österreicher sind. Also entweder schreibt man die Nationalität bei allen oder bei keinem. Gleichzeitig möchte ich natürlich nicht unter den Tisch fallen lassen, dass es schon notwendig ist, ein Auge drauf zu haben, dass bei Männern aus anderen Herkunftsländern dieses patriarchale Denken mit Besitzdenken noch stärker ausgeprägt ist. Ich finde es wichtig, einerseits im Blick zu haben, dass andere Herkunft und Religion auch etwas ausmachen und gleichzeitig nicht so zu tun, als wäre Österreich die Insel der Seligen und das Problem importiert. Denn das ist es nicht. Es hat in Österreich immer Gewalt an Frauen durch „österreichische Männer“ gegeben.  

 

Für sich selbst können sich viele das nicht vorstellen. Aber kann es prinzipiell jeder Frau passieren, sich in einer Gewaltbeziehung wiederzufinden? 

Ja. Es gibt nicht diesen einen Typus Frau, dem das passiert. Davor ist keine gefeit, das hat die Dynamik von Gewalt so an sich. Die Männer sind wirklich hochcharmant am Anfang, total nett und lieb – und dann beginnt sich das langsam zu ändern. Und weil es sich so langsam ändert, spüren wir es nicht. Da gibt es dann einzelne Vorfälle, einzelne Abwertungen: Das ist wie bei einem Puzzle. Die Frauen sehen verständlicherweise oft nur das einzelne Puzzleteil. Bei Gewalt ist es aber wichtig, das Gesamte zu sehen. Das ist die Herausforderung in der Beratung: einen Schritt zurückzutreten und sich das ganze Bild anzuschauen. Erst dann sehen wir das Ausmaß und können es auch als Gewalt benennen.
Wir empfehlen Frauen zum Beispiel, eine Art Tagebuch zu führen: Sie können an jedem Tag eine Zahl von eins bis fünf in ihrem Kalender notieren – wobei eins keine Gewalt oder Angst vor dem Mann bedeutet und fünf extreme Gewalt oder Angst. Wenn sie das tun, fällt ihnen erst auf, wie häufig es passiert.  

„Film und Fernsehen haben extremen Einfluss auf eine Gesellschaft, auf Geschlechtsstereotype.“

Ist psychische Gewalt noch einmal eine Spur gemeiner, subtiler? 

Ja. Psychische Gewalt ist ja die Gewaltform, die grundsätzlich immer dabei ist. Wenn ich körperliche Gewalt erfahre, ist die Bedrohung auch etwas Psychisches. Aber ja, psychische Gewalt ist extrem subtil und noch einmal schwieriger zu erkennen. In der Begleitung hat mir einmal eine Frau gesagt: „Wissen Sie, mir wäre es 13-mal lieber gewesen, er hätte mich grün und blau geschlagen – dann hätte ich es gesehen, dann hätte ich es gespürt. Und dann hätte ich klar sagen können: Das ist Gewalt. So wie er es gemacht hat, habe ich es nicht benennen können, weil es nicht sichtbar war.“ Das hat mich damals sehr betroffen gemacht und ich finde, das ist auch sehr nachvollziehbar. Da, wo es um psychische Gewalt geht, gilt sozusagen nur das eigene Gefühl: Da ist etwas komisch, ich habe Angst, ich habe Sorge, ich möchte am liebsten weg. Und da kann die Frau sich immer sagen: Geh, warum soll ich jetzt Angst vor ihm haben, er ist doch eh lieb. Das kann die Frau immer wegwischen. Den blauen Fleck kann sie nicht wegwischen. 

 

Gewalt gegen Frauen hat viele Gesichter: in und außerhalb einer Beziehung, von verbaler Herabsetzung bis zur Vergewaltigung. Warum glauben Männer immer noch, Frauen derart behandeln zu können? Haben wir ein gesellschaftliches Problem? 

Da gibt es viele Faktoren. Wenn man sich bewusst Musik anhört, Deutschrap zum Beispiel oder auch Schlager, was da an Gewalt oder Besitzdenken in den Texten verpackt ist … Wenn ich das Lied „Im Wagen vor mir“ hernehme: Die Frau singt davon, dass sie Angst hat, sie weiß nicht, was da passiert – und er singt „Da ist ein schönes Mädchen und ich fahre ihr jetzt hinterher tatatadam…“ Im Grunde geht es darum: Eine Frau hat Angst, und er merkt es nicht einmal. Es gibt ganz viele solcher Texte.
Dann geht es natürlich auch darum, was zum Teil in den Medien repräsentiert wird. Film und Fernsehen haben extremen Einfluss auf eine Gesellschaft, auf Geschlechtsstereotype.
Es gibt ja auch die wichtige Männlichkeitsforschung, 
Paul Scheibelhofer aus Innsbruck ist hier zum Beispiel ein Vertreter. Die Männlichkeitsforschung sagt, verkürzt dargestellt: Männlichkeit ist mit Gewalt verknüpft im Sinne von „Ich bin größer, stärker, schneller“ und Konkurrenzdenken – und um das zu erreichen, ist Gewalt durchaus ein legitimes Mittel zur Zielerreichung. Diese männliche Idee von „Ich bin mehr wert, mein Job ist mehr wert, ich bringe ja das Geld nach Hause“ führt sozusagen zu einer innerlichen Überhöhung, einer Männlichkeitsüberhöhung gegenüber dem Weiblichen.
Diesen Männlichkeitsdiskurs müssen wir führen. Da braucht es für die Burschen auch eine andere Idee von Männlichkeit – nämlich versorgende Männlichkeit, so wie es eine versorgende Weiblichkeit gibt. Derzeit gilt: Mannsein heißt, du bist keine Frau und du bist nicht schwul. Männlichkeit wird über Ausschlussverfahren generiert, und das ist keine stabile Persönlichkeit.
Also ja, wir haben ein gesellschaftliches Problem. Wir haben vor allem ein sicherheitspolitisches Problem, und das muss auch von der Politik benannt werden. Wenn niemand öffentlich sagt: „Das geht nicht“, ist das auch ein Signal. Es ist ein wichtiges Instrumentarium, dass man gemeinsam gegen Gewalt auftritt. Und mit gemeinsam meine ich wirklich: NGOs, die Politik, die Medien – und in letzter Konsequenz die Zivilgesellschaft. Dieses Miteinander braucht es. 

Zur Person:
Elisabeth Cinatl ist Psychotherapeutin, Geschäftsleiterin des Vereins „Wendepunkt“, Frauenhaus und Frauenberatungsstelle in Wiener Neustadt und Vorstandsvorsitzende des Netzwerks österreichischer Frauen- und Mädchenberatungsstellen.