Am 16. September 2022 löste der Tod von Mahsa Amini nicht nur im Iran, sondern weltweit Proteste aus. Seither hat sich die Situation nicht verbessert, die Frauen leiden nach wie vor, berichtet Shoura Zehetner-Hashemi, Iran-Expertin und Geschäftsführerin von Amnesty Österreich.
Frau Zehetner-Hashemi, vor einem Jahr wurde Mahsa Amini wegen eines schlecht sitzenden Kopftuchs von Sittenwächtern verhaftet und ermordet. Die Folge waren zahlreiche Demonstrationen. Hat sich die Situation seither verändert?
Ja, es hat sich einiges verändert. Zum einen sind es Dinge, die sichtbar sind. In allen Teilen des Landes, nicht nur in den großen Städten, sind es vor allem jüngere, aber auch ältere Generationen von Frauen, die nicht mehr bereit sind, sich unter Zwang zu verhüllen. Das war vor einigen Jahren noch nicht so.
Was sich in den Köpfen der Menschen sehr verändert hat, ist außerdem dieser Mut, der im vergangenen Jahr zum Anstoß der Protestbewegung geführt hat. Es besteht ein gewisser Ungehorsam, ein ziviler Widerstand, der nicht aufhört – im Gegensatz zu den Demonstrationen. Vor allem gibt es auch ein Bewusstsein dafür, dass dieses System eigentlich als nicht mehr lebensfähig angesehen wird. Das ist meiner Ansicht nach eine Errungenschaft dieser Protestbewegung.
Kurz vor Aminis erstem Todestag haben die iranischen Behörden bereits damit begonnen, die Familien der Getöteten und die Bevölkerung einzuschüchtern. Wie schätzen Sie die aktuelle Lage ein?
Das Regime wurde im Vorjahr von der Protestbewegung überrumpelt. Dieses Jahr wollen sie vorbereitet sein. Wir haben dazu vor Kurzem auf internationaler Ebene einen Bericht veröffentlicht, in dem diese Vorfälle verifiziert wurden. Diese gab es laut den sozialen Netzwerken bereits seit circa zwei Monaten. Sie sprechen von Massenverhaftungen von Familienangehörigen der Personen, die letztes Jahr im Rahmen der Proteste getötet wurden. Es kommt zu neuerlichen Verhaftungen, besonders von jenen Frauen, die damals auf Kaution entlassen wurden. Zudem werden Gräber teilweise vor den Augen der Familien geschändet. Das Regime versucht, eine Stimmung der Angst zu verbreiten. Sie wollen unbedingt vermeiden, dass sich diese Bilder, die letztes Jahr um die Welt gegangen sind, wiederholen.
„So wird das auch im Iran wahrgenommen: dass die Angst vor der Macht dieses Regimes und vor der Atombombe so groß ist, dass man lieber in diesen Tätigkeitsfeldern handelt und dafür die Menschenrechte nicht mehr thematisiert.“
Auch die internationale Gemeinschaft äußerte im Vorjahr Kritik, weltweit hielten die Menschen Solidaritätsbekundungen ab. Rund ein Jahr später scheint das verhallt zu sein.
Das Problem mit der internationalen Gemeinschaft ist, dass der Fokus beim Iran ein anderer ist. Dieser betrifft einerseits das Atomprogramm des Iran und andererseits aus aktuellem Anlass die Verbrüderung mit Russland gegen die Ukraine und die damit verbundenen Waffenlieferungen. Dort wird auch im Hintergrund an einem neuen Atomdeal gearbeitet.
Weniger im Fokus stehen die Protestbewegung „Frau, Leben, Freiheit“ und die Menschenrechte im Allgemeinen. So wird das auch im Iran wahrgenommen: dass die Angst vor der Macht dieses Regimes und vor der Atombombe so groß ist, dass man lieber in diesen Tätigkeitsfeldern handelt und dafür die Menschenrechte nicht mehr thematisiert. Damit fällt man aber der Protestbewegung in den Rücken. Für die Motivation dieser jungen Generation ist das erschütternd.
Wie sieht der Alltag iranischer Frauen aus?
Die Lage der Frauen im Iran ist schlecht, aber es gibt einen Unterschied zum Nachbarland Afghanistan. Im Iran haben Frauen einen Zugang zu Bildung. Natürlich gibt es Diskriminierung und Repression, auch in der Schule und auf der Uni müssen Frauen sich verhüllen, zum Teil herrscht Geschlechtertrennung. Aber der Zugang ist an sich gegeben, die Bildungsaffinität ist da. Diesen Bereich sehe ich als nicht so stark gefährdet an, problematisch ist hingegen die Frage ihres Auftretens. Sie können sich in der Öffentlichkeit nicht so kleiden, wie sie möchten. Berührungen zwischen Frauen und Männern sind verboten, ebenso wie jede Form von Beziehungen vor der Ehe – auch wenn das nicht in dem Ausmaß eingehalten wird. Aber diese Dinge sind es, die Frauen unterdrücken. Außerdem muss zwischen der städtischen und der ländlichen Bevölkerung unterschieden werden, hier herrscht eine kulturelle Kluft. Am Land werden die Mädchen sehr jung verheiratet. Das Heiratsalter liegt nicht bei 18 Jahren, es wurde von neun auf zwölf Jahre hinaufgesetzt.
„Ich glaube, dass sie wissen, dass das Regime am Ende ist, wenn sich die Iranerinnen oder eine Bewegung wie „Frauen, Leben, Freiheit“ durchsetzen.“
Welches Interesse haben die Machthabenden daran, die weibliche Bevölkerung derart zu unterdrücken?
Die Macht, die sie über Frauen ausüben, indem sie ihre komplette Selbstbestimmung einschränken, stellt einen der Grundpfeiler ihres Regimes dar. Frauen sollen nicht selbstständig entscheiden dürfen, was sie tun, was sie anziehen oder mit wem sie auf der Straße händchenhaltend gehen. Ich bin der Ansicht, dass diese Theokratie, die 1979 aus einer Revolution, aus einem Putsch heraus zustande gekommen ist, stark auf dieser Unterdrückung aufbaut. Die Frauen waren damals die allererste Gruppe, die in Massen auf die Straßen gegangen ist. Sie hatten im Iran schon immer eine wichtige Widerstandsrolle inne, auch in den Jahrzehnten davor. Das macht den Mullahs Angst. Ich glaube, dass sie wissen, dass das Regime am Ende ist, wenn sich die Iranerinnen oder eine Bewegung wie „Frauen, Leben, Freiheit“ durchsetzen.
Nicht nur die harten Strafen für DemonstrantInnen, sondern auch Vergiftungsfälle an Schulen, das Verbrennen von Musikinstrumenten oder die Verschärfung der Strafrechtsreform zur Kopftuchpflicht zeigten in den letzten Monaten, dass die Situation angespannt ist.
Die Mullahs wissen, dass alles, was mit dem Thema Frauenrechte zu tun hat, am Fundament ihrer Macht kratzt. Das ist der Grund, warum sie sich so stark auf das Thema der Zwangsverschleierung konzentrieren und Gesetze erlassen, die noch strenger sind als vor der Protestbewegung von 2022. Das neue Hijab-Gesetz ist, zumindest auf dem Papier, ein Rückschritt in die 80er- und 90er-Jahre, in die Zeit nach der Revolution. Ich glaube nicht, dass das in einem modernen Iran durchsetzbar ist. Für mich ist es auch ein Zeichen, dass das Regime absolut nicht in der Lage ist, in irgendeine Form von Dialog zu treten.
Welche Schritte wären nun vonseiten der internationalen Regierungen notwendig? Können diese tatsächlich so viel Druck auf das Mullah-Regime ausüben?
Ja, das können sie. Die Frage ist, ob sie bereit sind, höhere Forderungen an den Iran zu stellen, zum Beispiel bei den Atomverhandlungen. Mein Eindruck ist, dass der Westen große Angst vor dem Iran und auch vor einem Flächenbrand hat. Es klingt paradox, aber das Land wird als stabil betrachtet. Man sieht die Situation in Afghanistan, in Syrien, im Libanon, und es gilt die These: Die Mullahs sind grausam, aber sie sind stabil, weil es keinen Bürgerkrieg gibt.
Ich würde mir wünschen, dass man von dieser These abweicht und sieht, dass in Wirklichkeit ein demokratischer Iran, in dem sich eine Freiheitsbewegung durchsetzt, viel stabiler wäre und einen guten Einfluss hätte. Die Atomverhandlungen wären dafür ein Hebel. Ich fürchte nur, dass der Westen diesen Schritt nicht wagt.
„In dieser Zeit wurden Familienmitglieder verhaftet und Menschen aus unserer Umgebung hingerichtet.“
Sie haben Ihre Kindheit im Iran verbracht. Erinnern Sie sich noch an diese Zeit?
Ich habe bis zu meinem fünften Lebensjahr mit meinen Eltern im Untergrund im Iran gelebt, aber ich kann mich an nichts erinnern. Wir waren versteckt und mussten immer wieder den Wohnort wechseln. Ich nehme an, dass die Tatsache, dass ich mich nicht erinnere, damit zusammenhängt, dass es eine Kindheit war, die ganz und gar nicht unter normalen Umständen verlief. In dieser Zeit wurden Familienmitglieder verhaftet und Menschen aus unserer Umgebung hingerichtet. Aber erst als die Situation wirklich bedrohlich wurde und beide Geschwister meiner Mutter verhaftet und zunächst zum Tode verurteilt wurden – was dann in Haftstrafen umgewandelt wurde –, ist es meinen Eltern gelungen, mit einem Kontingent des österreichischen Ministeriums für politisch Verfolgte zu fliehen.
Zur Person:
Mit August 2023 hat die Menschenrechtsaktivistin und Iran-Expertin Shoura Zehetner-Hashemi (40) die Geschäftsführung von Amnesty International Österreich übernommen. Anlässlich des ersten Todestages von Mahsa Amini startet auch die Menschenrechtsorganisation im September mit einer großen Iran-Kampagne.