Das Frauennetzwerk „Xiao Shui Di“ in Shanghai unterstützt Mütter, die ganztags bei ihren Kindern bleiben wollen – denn in China ist Vollzeitmutterschaft die Ausnahme & nicht gern gesehen ...
Das Frauennetzwerk „Xiao Shui Di“ in Shanghai unterstützt Mütter, die ganztags bei ihren Kindern bleiben wollen – denn im Reich der Mitte ist Vollzeitmutterschaft die Ausnahme und nicht gern gesehen. Eine Begegnung mit kulinarischem Rahmenprogramm.
Als ich die 32-jährige Liu Yi erstmals in Shanghai treffe, ist von vorsichtiger Distanz nichts zu spüren. Die ausgebildete Kommunikationstrainerin hat ihren Job bei den Vereinten Nationen aufgegeben, um sich in ihrem Heimatland für eine nachhaltige Verbesserung der Gesellschaftsstrukturen in China zu engagieren.
Als ich Liu Yi von meinem Kochprojekt erzähle, ist sie begeistert und lädt mich zu einem kulinarischen Treffen mit Teilnehmerinnen des Frauennetzwerkes „Xiao Shui Di“ ein. Der Fokus dieser Gruppe liegt auf der Unterstützung von hauptberuflichen Müttern, die in China eine Randerscheinung darstellen und im chinesischen System nicht vorgesehen sind.
Abgesehen von den vier Monaten nach der Geburt existiert keine geschützte Karenzzeit für Mütter oder Väter, und traditionell übernehmen die Großeltern oder Kindermädchen die Erziehung bis zum Alter von drei Jahren, wenn die Kinder in den öffentlichen Kindergarten gehen können. Bei den Herausforderungen, die für Vollzeitmütter entstehen, wie Reintegration in den Arbeitsmarkt, Abhängigkeit vom Einkommen des Mannes, versucht das Netzwerk die Mitglieder mit Kursen zu unterstützen.
Nur Arbeit zählt
Als ich mich am vereinbarten Tag auf den Weg zum Treffpunkt mit Liu Yi mache, nehme ich ein Taxi. Nur fünf U-Bahn-Stationen ist mein Hotel vom Treffpunkt entfernt, aber die Fahrt dauert eine halbe Stunde, denn die Distanzen in Shanghai sind groß. Dieser Ballungsraum ist eine schlicht nicht enden wollende bebaute Fläche, auf der 24 Millionen Menschen leben.
Liu Yi erwartet mich gut gelaunt am Treffpunkt mit Zutaten für unser Kochen. Wir sind in einer Gegend, in der die chinesische Mittelschicht lebt und die Wohnhäuser nicht mehr ganz neu sind. Yezi, die Gastgeberin, begrüßt mich in ihrer schönen Dreizimmerwohnung mit offenem Wohn-und Esszimmer im Erdgeschoß und einem kleinen Garten. In der Wohnung läuft das Lied „Luka“ von Suzanne Vega, und plötzlich fühle ich mich willkommen und angenehm vertraut.
Yezi ist 36 Jahre alt, verheiratet, Mutter eines 6-jährigen Sohnes und seit sieben Jahren Hausfrau und Mutter. „Es war eine bewusste Entscheidung, meine Tätigkeit als Juristin in der Personalabteilung eines Investmentunternehmens aufzugeben“, erzählt Yezi. Sie stammt aus einer Bauernfamilie in einem Dorf der Provinz Zhejiang und hat in ihrer Kindheit die Geborgenheit in der Familie und ihre Mutter vermisst.
Als sie zehn Monate alt war, begann ihre Mutter als Schneiderin in der Stadt zu arbeiten, um Geld für die Familie zu verdienen. Sie konnte die Familie nur noch ein- bis zweimal pro Jahr besuchen, und Yezi übernahm früh die Agenden der abwesenden Mutter. Das ist ein Schicksal, das sie mit vielen anderen chinesischen Familien teile, erklärt Yezi, „denn die chinesische Wirtschaft basiert auf billiger Arbeitskraft und die Firmen suchen daher auf dem Land nach billigen Arbeitern. Die Bauern werden mit einem sicheren Einkommen und der Aussicht auf ein besseres Leben für ihre Kinder in die Fabriken gelockt.“
Yezis Großeltern hatten fünf Söhne und eine Tochter, aber die Tochter wurde zum Arbeiten weggeschickt. „Der Wert und die Stellung der Frau waren vor einer Generation noch sehr niedrig, und auch ich musste mehr und härter als mein Bruder arbeiten, um die gleiche Wertschätzung und Aufmerksamkeit von meinen Eltern zu bekommen“, erinnert sich Yezi. Als Zweitgeborene ist Yezi noch vor der Einführung der berühmten Einkindpolitik 1979 geboren. Die schrumpfende Kinderanzahl über drei Generationen von sechs auf zwei und auf eins ist chinesische Realität.
Wo ist Geborgenheit?
„Traditionell sahen Eltern ihre Aufgabe darin, für ausreichend Essen und Geld zu sorgen. Nähe und Geborgenheit wurden vernachlässigt“, erklärt die 35-jährige Zhujing, Gründerin von „Xiao Shui Di“ und Mutter einer siebenjährigen Tochter. „Unsere Vorfahren hatten ein hartes Leben auf dem Land, und erst ab 1980 wurde es wirtschaftlich einfacher. Ich wuchs in einem kleinen Dorf in der Provinz Anhui auf. Aus heutiger Sicht fast unvorstellbar, aber mein Bruder und ich mussten noch mit dem Boot zur Schule gebracht werden, da es keine Straßen gab. In unserer freien Zeit haben wir uns auf dem Bauernhof nützlich gemacht. Damals war auch die Natur noch intakt und wir konnten Flusskrebse fischen. Aufgrund der Industrialisierung und Umweltverschmutzung ist das nicht mehr möglich und viele traditionelle Lebensmittel sind dadurch verschwunden“, erinnert sich Zhujing.
Auch die 27-jährige Chendan, Mutter eines sechsjährigen Sohnes, ist auf einem Bauernhof aufgewachsen, er lag in der Provinz Hunan. Als älteste von drei Kindern wohnte sie bis zu ihrem dritten Lebensjahr bei den Großeltern. „Auch danach, als ich mit meiner Familie zusammenlebte, hatte niemand Zeit für uns Kinder“, berichtet Chendan, die erst vor wenigen Monaten ihre Arbeit gekündigt hat, um ihren Sohn bei der Einschulung zu unterstützen.
„Beginnend mit dem Schuleintritt werden die Kinder auf die nationale Aufnahmeprüfung für die öffentlichen Universitäten vorbereitet. Pro Klasse gibt es aber 40 bis 50 Kinder und nur einen Lehrer. Nicht jedes Kind kommt mit der neuen Konkurrenzsituation und den Herausforderungen alleine klar.“
Yuqingyu ist in Shanghai geboren und mit 21 Jahren die Jüngste der Runde. Sie hat noch kein Kind, aber interessiert sich für das Angebot im Bereich der Persönlichkeitsentwicklung des Netzwerkes „Xiao Shui Di“.
Eine Art Widerstand
Nach vierstündigem Kochen setzen wir uns an den üppig gefüllten Tisch und diskutieren weiter. Zwischen der Verkostung der herrlich schmeckenden Gerichte erklären die Frauen mir, dass sie ihre Entscheidung als eine Art Feminismus und Auflehnung gegen das vorgegebene System sehen, da sie sich nicht, wie vom Staat vorgesehen, vier Monate nach der Geburt wieder ins Arbeitsleben und für die Wirtschaftsleistung eingliedern lassen. Als ich ihnen davon erzähle, dass sich europäische Frauen für eine geschlechtsunabhängige Kindererziehung und die stärkere Einbindung der Väter starkmachen, erklären sie, dass das zwar ein Ziel für sie sein könnte, sie aber noch weit davon entfernt seien.
Nach sechs Stunden werde ich zum Abschied fest umarmt. Die Frauen versprechen mir, einen Englischkurs zu organisieren, damit sie sich beim nächsten Treffen besser auf Englisch unterhalten können.
Bianca Gusenbauer
ist mit ihrem kulinarischen Projekt „Geheime Schnatterei“ auf Welttournee. Gemeinsam mit GastgeberInnen kocht sie in deren privaten Küchen lokale Rezepte und lernt dabei die Menschen und ihre Kultur kennen. Zu verfolgen ist das Projekt auf ihrem Blog „Gib Bianca Futter!“. www.gibbiancafutter.com
Erschienen in „Welt der Frau“ Februar 2014