Warum es mehr Naturerlebnisse statt luxuriöser Wellnessaufenthalte braucht, wieso die Qualität eines Urlaubs nicht vom Preis abhängt und weshalb meine kostbarsten Schätze gelb, hauchdünn und mit Klebestreifen versehen sind.
Dieses Desaster sahen wir nicht kommen. Ein Novemberwochenende im Jahr 2010, wir steuern Richtung Osten des Landes und freuen uns wie verrückt auf einen Tapetenwechsel. Mit drei kleinen Kindern und einer Unmenge an Gepäck im fahrbaren Untersatz düsen wir zu einer sogenannten Babytherme. Alleine bei dem Begriff hätten schon die Alarmglocken schrillen sollen. Babys haben keinen Bedarf, einen Wellnessurlaub zu verbringen. Aber wir Erwachsenen lechzen nach ein wenig Abwechslung, Entspannung und Genuss nahe thermalen Quellen.
Hohe Erwartungen an die pannonische Tiefebene
Alles beginnt wunderbar. Die Lobby ist mit Teppichböden ausstaffiert, die Kinder flitzen mit den dafür vorgesehenen Bobbycars durch die Hallen, während wir gemütlich einchecken. „Endlich jemand, der versteht, was Jungfamilien brauchen“, denke ich mir. Süße kleine Bademäntel werden uns ausgehändigt, wir beziehen unser Familienzimmer und freuen uns auf das Urlaubswochenende, das ich zu meinem 30. Geburtstag vom besten aller Ehemänner geschenkt bekommen habe. Es ist fast zu schön, um wahr zu sein.
„Menschlich, wie ich bin, haben die Bilder und Tricks der Werbeindustrie auch auf mich gewirkt.“
Der erste Streit zwischen Mädchen entfacht sogleich bei der Wahl des Schlafplatzes. „Kann nicht einmal Ruhe sein?“, denke ich leise, obwohl die beiden grundsätzlich halbwegs harmonisch miteinander umgehen. Rückblickend betrachtet waren meine Erwartungen an dieses Wochenende in der pannonischen Tiefebene wohl doch etwas überhöht. Menschlich, wie ich bin, haben die Bilder und Tricks der Werbeindustrie auch auf mich gewirkt.
Erschöpfungszustände zum Abendessen
Wenn Paare oder Familien in den Fokus der Event- oder Urlaubsbranche rücken, wird es richtig fies. Bilder von gut gelaunten Kindern, entspannten Erwachsenen und herrlichen Ausblicken prasseln als Plakatwerbung oder Bewegtbild auf uns ein. Sehr subtil wird vermittelt: „Komm zu uns, da gibt es Leichtigkeit, Spaß und Abenteuer! Wir sehen auch noch gut aus, lieben uns pausenlos und sind fast lächerlich glücklich hier! Gönn dir das! Es ist doch so leicht!“ Man spielt mit unseren Sehnsüchten, Wünschen und Gefühlen Roulette – so, als gäbe es nur Hauptgewinne!
Unsere Thermentage verlaufen hingegen denkbar anders. Das sieben Monate alte Stillbaby, das sich bisher der meisten Beikost strikt verwehrt hat, lässt auch der Anblick des überbordenden Babybuffetts kalt. Jedes Menü bekommen wir wahlweise grob oder fein püriert. Schon am zweiten Tag kapituliere ich angesichts der Mengen an zergatschtem Essen, das wir retour schicken, weil er es partout nicht anrührt. Er verzieht lediglich sein Gesicht, bevor er es sich genussvoll an meiner Brust schmecken lässt.
„Auch wenn das gesamte Personal sehr bemüht ist, erinnere ich mich nur mehr an meinen in bis dahin unbekannte Höhen gestiegenen Erschöpfungszustand, der wie eine schlechte Weinbegleitung über diesem Abendessen schwebt.“
Wir liegen uns in den Haaren, weil unser Durchhaltevermögen, ihn zum Essen zu animieren, unterschiedlich ist. Abstillen in Sichtweite? Fehlanzeige. Ein tatsächliches Glanzlicht des Speisesaals ist der Kinderspielplatz, zu dem die Sprösslinge hinunterrutschen können, während die Eltern fertig speisen. Ein überdimensionales Laufgitter, aus dem die Kleinen nur in Begleitung der Erwachsenen wieder hochkommen. Auch wenn das gesamte Personal sehr bemüht ist, erinnere ich mich nur mehr an meinen in bis dahin unbekannte Höhen gestiegenen Erschöpfungszustand, der wie eine schlechte Weinbegleitung über diesem Abendessen schwebt.
Die Zeichen an der Wand
Bin ich auf einen Werbeschmäh hereingefallen? Ja, ich denke schon. Ist das verwunderlich? Nein, nicht in meinem damaligen Zustand. Natürlich ist man in dem Hotel bemüht, Familien eine schöne Zeit zu bescheren. Unter diesem Dach finden sich viele kluge Ideen und entlastende Elemente für Eltern. Die Wahrheit ist aber auch: Es lässt sich damit sehr viel Geld verdienen. Mit ein wenig Abstand und Lebenserfahrung erschließt sich mir: Entspannung gibt es wesentlich günstiger an anderen Orten. Dieser Erkenntnis wurden wir uns erst im Laufe der Zeit bewusst.
Als Kind verbrachte ich Urlaube mit meinen Eltern und den vier Schwestern oft einfach bis spartanisch. Am Ruschhof, wo immer der Eierkocher Probleme machte. Auf der Almhütte, wo es fließendes Wasser nur am Bach vor dem Haus gab. In der Jugendherberge mit Stockbetten. Der größte Flop blieb jedoch unser letzter Familienurlaub, den wir in einem Fünfsternehaus im steirischen Thermenland verbrachten. Etwas Besonderes, das unsere Eltern uns gönnen wollten. Die Interessen von 17-jährigen Teenagermädchen (an der im Hotel trainierenden Fußballmannschaft), das Spielbedürfnis meiner zweijährigen Schwester und der Wunsch nach Wellness und Entspannung meiner Eltern spalteten die Familienharmonie in diesen Tagen in mikroskopisch kleine Teilchen. Die Zeichen standen also an der Wand. Ich hatte sie aber ein gutes Jahrzehnt später schlicht vergessen.
Entschleunigung zwischen Eisenhut und pfeifenden Murmeltieren
Zurück im Burgenland. Die Reizüberflutung leistet am dritten Tag ganze Arbeit. Mitten in der Poollandschaft beginnt sich eines der Kinder zu übergeben. Alles zu viel. Der Körper kann nicht mehr und befreit sich von der Verdauungsaufgabe. Am Weg zum Klo ziehen das Kind und ich eine Spur durch das Hallenbad. Ich möchte am liebsten in einem großen schwarzen Loch versinken. Doch ich bin beschäftigt, ein krankes, weinendes Kind zu trösten und dem Bademeister im Vorbeigehen unsere Misere zu beichten. Zwei Stunden später sitzen wir im Auto auf dem Weg nach Hause. Urlaub habe ich jetzt noch viel dringender nötig als vor drei Tagen.
Unserer Naturverbundenheit und einer befreundeten Familie haben wir es zu verdanken, dass wir auch ganz andere Erfahrungen machen dürfen. Ein paar Jahre nach dem Luxusthermenbunker verbringen wir fünf Tage auf der Alm im Ländle. Ein schlichtes Schlaflager und ansonsten: Berge und Kühe, soweit das Auge reicht. Sechs Kinder und vier Erwachsene, die gemeinsam abwaschen und wandern. Eine Motorsäge, der Viehtrieb und händisch geschlagener Eischnee sind die Highlights unseres Aufenthalts. Jeden Tag vertreten wir uns die Beine zwischen kreisrunden Kuhfladen, giftigem Eisenhut und pfeifenden Murmeltieren. Entspannt und entschleunigt kehren wir nach Hause zurück.
Wenn ich in 20 Jahren Elternschaft und Beziehungserfahrung etwas gelernt habe, dann das:
- Entschleunigung findet man mit mehr Zeit und weniger Zeug.
- Es braucht mehr Naturerlebnisse statt Plastikspielzeughallen.
- Bei Bewegung in der Natur entspannen Kinder und Erwachsene gleichermaßen.
- Aufenthalte in der Natur sind ökonomisch UND ökologisch sinnvoll.
- Werbung gibt es nur für Dinge, mit denen Geld verdient werden kann.
- Ein kritischer Blick auf alles, was mir angepriesen wird, ist empfehlenswert.
- Einfache Dinge schenken mir mehr Freude als Luxusartikel.
Meine wertvollsten Diamanten kleben in meinem Badezimmerschrank
Apropos Luxusartikel: Am Anfang unserer Ehe bekam ich öfter schöne Schmuckstücke von meinem Liebsten. Alles Unikate, vom Juwelier seines Vertrauens gefertigt, passend zu einem Kleidungsstück oder bevorstehenden Anlass. Sie lagern mittlerweile in schicken Schatullen und sind mir entweder zu besonders zum Tragen oder aber ich bin zu einfallslos, was Schmuck betrifft. Was ich aber hüte wie kostbare Schätze, sind kleine Notizzettel mit lieben Worten von ihm. Einer klebte etwa am Belag meiner Ski, die er für mein Mädelswochenende präparierte. Diese Worte wieder und wieder an der Innentür meines Badezimmerschranks zu lesen, lässt mich erstrahlen. Heller als jeder noch so teure Diamant dieser Welt.
Kerstin Bamminger
Psychologische Beraterin & Elementarpädagogin
Web: www.kerstinbamminger.com
Mail: lebendig@kerstinbamminger.com
Instagram: @die.beziehungsweise