Emmy Noether war die erste Mathematikprofessorin Deutschlands. Sie war eine Pionierin der theoretischen Physik und der abstrakten Algebra, Albert Einstein nannte sie ein Genie – doch als Frau und Jüdin musste sie zeitlebens um Anerkennung kämpfen.
Der Professor ist so entrüstet, dass er zu fest zupackt: Die Tinte spritzt aus seiner Füllfeder und hinterlässt einen königsblauen Fleck auf dem Briefpapier. Verärgert fegt er das Blatt vom Tisch und sucht ein neues heraus. Viele Jahre lehrt er schon an der ehrwürdigen Universität von Göttingen, und jetzt das! Eine Frau soll Mathematikdozentin werden.
Eine gewisse Emmy Noether, erst dreiunddreißig Jahre alt! Dabei sind Frauen erst seit wenigen Jahren überhaupt zum Studium zugelassen. Aber die Professoren an der mathematischen Fakultät haben scheinbar einen Narren an ihr gefressen. Kurz überlegt er, dann beginnt er an diesem Sommertag 1915 seinen Beschwerdebrief: „Müssen die Soldaten, wenn sie aus dem Krieg zurückkommen, sich nun in ihren Vorlesungen zu Füßen einer Frau wiederfinden?“
Keine Zulassung für Frauen
Amalie Noether, genannt Emmy, wird im März 1882 in eine jüdische Familie geboren. Ihr Vater ist Mathematikprofessor an der Universität ihrer Heimatstadt Erlangen, und auch ihr jüngerer Bruder wird später ein bekannter Mathematiker. Emmy selbst interessiert sich zunächst wenig für die Welt der Zahlen. Sie tanzt lieber, spielt mäßig gut Klavier und schließt mit achtzehn Jahren ihre Ausbildung zur Lehrerin für Englisch und Französisch ab. Doch sie wird keine einzige Stunde unterrichten – Emmy möchte studieren.
Es gibt nur ein Problem: Frauen sind zum Studium an der Universität Erlangen nicht zugelassen. Emmy muss jeden Professor einzeln um Erlaubnis bitten, als Gasthörerin den Vorlesungen lauschen zu dürfen. Drei Jahre bringt sie so zu und macht nebenher ihre Matura.
Das Zentrum der Mathematik
Im Winter 1903 geht sie für ein Semester an die Universität Göttingen, damals das unangefochtene Zentrum der Mathematik. Dort besucht sie unter anderem Vorlesungen der renommierten Mathematiker Felix Klein und David Hilbert. Als Frauen schließlich auch regulär studieren dürfen, kehrt Emmy an die Universität Erlangen zurück und promoviert 1907 als zweite Frau in Deutschland in Mathematik. In den Jahren danach beschäftigt sich mit Invarianten und lehrt in Erlangen – inoffiziell und ohne Bezahlung.
Das Noether-Theorem
Im Sommer 1915 rufen Felix Klein und David Hilbert sie zurück an die Universität Göttingen. Sie arbeiten an einer mathematischen Grundlegung für Einsteins Relativitätstheorie und benötigen Emmys Expertise. Binnen kurzer Zeit findet sie einen neuen Ansatz, der auch Einstein selbst beeindruckt: „Es imponiert mir“, schreibt er an einem Brief, „sie scheint ihr Handwerk zu verstehen.“ Das von ihr geschaffene Noether-Theorem macht Emmy zu einer mathematischen Größe. Es gilt bis heute als zentraler Baustein der theoretischen Physik, mit dem beispielsweise die Entropie schwarzer Löcher berechnet werden kann.
Ihre Mentoren ermutigen Emmy, ihre Habilitation zu beantragen, was Frauen damals verboten ist. So könnte sie selbst an der Universität lehren. Doch viele Professoren können sich nicht vorstellen, eine Frau „Kollegin“ nennen zu müssen. Es kommt zu bitteren Debatten. Auch ein Bittbrief an den zuständigen Minister, für Emmy eine Ausnahme vom Habilitierungsverbot zu machen, nutzt nichts. Also finden Emmy und ihr Mentor David Hilbert eine ungewöhnliche Lösung: Er kündigt unter seinem Namen Vorlesungen an und vergisst anschließend zufällig, im Hörsaal zu erscheinen. Emmy muss an jedem einzelnen Termin für ihn einspringen und selbst lehren.
Erste Mathematikprofessorin Deutschlands
Nach Ende des Ersten Weltkriegs ändert sich in Deutschland viel. Einige Hürden für Frauen fallen, auch im akademischen Bereich. Emmy kann sich als erste Frau in Deutschland endlich in Mathematik habilitieren und als außerordentliche Professorin in Göttingen lehren. Damit ist sie die erste Professorin in Deutschland, doch bezahlt wird sie noch immer nicht.
Zu diesem Zeitpunkt ist Emmy seit vierzehn Jahren als renommierte Mathematikerin tätig und hat noch nie ein Honorar für ihre Arbeit erhalten. Sie kann sich nur durch ihren sparsamen Lebensstil und eine Erbschaft über Wasser halten, bis sie ein Jahr später endlich ein kleines Gehalt bekommt.
Professorin Noether wird von ihren Kollegen geschätzt und ist bei den Studierenden beliebt. Die Gruppe junger Leute, die sich stets um sie schart, wird scherzhaft „Noether Boys“ genannt. Nebenher leistet sie Außerordentliches auf dem Feld der Algebra.
Emigration in die USA
Doch Anfang der Dreißiger Jahre ändert sich alles. Weil Emmy eine Jüdin ist, wird ihr 1933 plötzlich die Lehrberechtigung entzogen. Zunächst bleibt sie unbeeindruckt und unterrichtet ihre „Noether Boys“ einfach in ihrer Wohnung, auch als einer von ihnen in einer SA-Uniform auftaucht.
Doch als die Lage immer gefährlicher wird, wandert Emmy in die USA aus. Dort unterrichtet sie an einem Frauencollege in Pennsylvania und in Princeton. Es ist eine glückliche Zeit, doch nach nur eineinhalb Jahren wird bei ihr ein Gebärmuttertumor festgestellt. Am 14. April 1935 verstirbt sie nach einer Operation überraschend mit nur dreiundfünfzig Jahren. Albert Einstein schreibt in ihrem Nachruf in der New York Times:
Fräulein Noether war das wichtigste kreative mathematische Genie, seit die höhere Bildung von Frauen begann.
Ricarda Opis
wurde 1996 in Graz geboren und studierte ebendort Journalismus und Public Relations (PR). Sie erzählt am liebsten die Geschichten von Frauen und Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen. Für diese Serie verbindet sie ihre beiden größten Leidenschaften, indem sie die Geschichten großer Frauen nicht nur erzählt, sondern auch bebildert. Wenn sie nicht gerade schreibt oder zeichnet, begeistert sie sich für alles, was sonst noch kreativ ist, und die Geschichte, Kulturen und Politik des Nahen Ostens.