„Zerschlagt das Schulsystem“, fordert Autorin Alexia Weiss in ihrem aktuellen Buch. Sie belässt es aber nicht dabei, sondern appelliert: „Und baut es neu!“ Dazu hat sie eine große Vision und viele konstruktive Ideen.
Als Alexia Weiss sich 2015 einer geflüchteten afghanischen Familie annahm, veränderte sich ihr Blick auf das heimische Schulsystem. Sie half der Familie nämlich nicht nur beim Asylverfahren und bei alltäglichen Hürden, sondern auch bei der Navigation durch das Schulsystem. Zu sehen, wie die Kinder behandelt wurden und wie es ihnen ergeht, wenn sie von zuhause keine Hilfe bekommen, machte ihr klar: Das System funktioniert nicht. Das hat sie dazu bewogen, ein Buch darüber zu schreiben. Darin zeichnet sie das visionäre Bild einer Schule, die für alle Kinder die gleichen Chancen bietet.
Was ist Ihre grundsätzliche Kritik am aktuellen Bildungssystem?
Erstens bietet es keine Chancengleichheit. Zweitens werden weder schulisch schwache Kinder unterstützt, noch werden Begabungen und Talente gefördert. Ich denke, jeder weiß, dass sich das Berufsleben später auf das stützt, was man gut kann und gerne macht. Es wäre also wichtig, das zu fördern. Darauf wird aber aktuell kaum Wert gelegt. Das Dritte ist, dass das Schulsystem überhaupt nicht die heutige gesellschaftliche Realität widerspiegelt. Es ist nämlich sehr viel Elternarbeit nötig. Nicht nur in der Betreuung, sondern tatsächlich in der schulischen Unterstützung. Leider sind dafür meist die Frauen zuständig, die deshalb viele Jahre Teilzeit arbeiten gehen, den Pensionsgap ertragen müssen oder einen Job annehmen, der nicht ihrer guten Ausbildung gerecht wird. Es wäre also auch aus feministischer Sicht wichtig, dass Frauen, sobald das Kind in den Kindergarten geht, Vollzeit ohne Sorgen und schlechtes Gewissen in den Beruf zurückkehren könnten.
In Ihrem Buch entwerfen sie ein neues System und beginnen genau hier: beim Kindergarten. Warum macht das Sinn?
Der Kindergarten bildet die Basis. Hier kann schon so viel erreicht werden, was später für die Schullaufbahn notwendig ist. Wir leben in einer Migrationsgesellschaft, deshalb ist Sprache natürlich sehr wichtig. Und im Kindergarten wird Sprache spielerisch erlernt, ohne dass sich die Kinder besonders anstrengen müssen. Je länger ein Kind in den Kindergarten geht – und dort auch entsprechende Betreuung in entsprechend kleinen Gruppen erfährt –, desto besser. Es hat natürlich wenig Sinn, riesige Gruppen zu haben, in denen kaum deutschsprachige Kinder sind und aufgrund der prekären Personalsituation nicht einmal eine ausgebildete Pädagogin ist. Aber bei entsprechender Betreuung findet im Kindergarten ganz viel Spracherwerb statt, aber auch andere Förderung: Grob- und Feinmotorik, das soziale Miteinander.
Sie beschreiben ein Schulsystem, wie es aussehen sollte – oder eigentlich sogar aussehen könnte. Nehmen Sie uns mit in die neue, bessere Schule! Was ist Ihre Vision?
Meine Schule sieht so aus, dass jedes Kind beim Schuleintritt auf seinem aktuellen Wissensniveau abgeholt wird und dazu jemanden zur Seite gestellt bekommt, der es durch das Schulsystem begleitet. Ich nenne diese Personen Coaches. Der Coach lernt das Kind bei der Schuleinschreibung kennen, schaut, wo es sprachlich und im Bereich Rechnen steht, welche Interessen man schon ablesen kann. Meine Schule ist eine Gesamtschule, eine Ganztagesschule, wo es aber einen teilweise individualisierten Unterricht gibt. Die Kinder bekommen gemeinsam Musik-, Zeichen- oder Projektunterricht. Dieser wird auch nicht beurteilt. Dazu gibt es Fächer, die in Gruppen zu maximal zehn Kindern oder Jugendlichen unterrichtet werden: Deutsch, Englisch, Mathematik, später auch naturwissenschaftliche Fächer und andere Sprachen.
Ein großes Thema sind immer wieder die Noten. Wie steht es damit in der idealen Schule?
Es stellt sich ja oft die Frage, wie es mit Abschlüssen und einer gewissen Vergleichbarkeit ausschaut. Es müssten natürlich Levels zum Erreichen eines Bildungsabschlusses definiert werden, wie etwa Pflichtschulabschluss oder Matura. Diese Levels gelten als Grundvoraussetzung, um diesen Abschluss zu bekommen und man durchläuft das System eben so lange, bis man diese erreicht hat. Das wäre, denke ich, ein durchaus praktikables System, das das Lerntempo von Kindern und ihre Stärken berücksichtigt. Darüber hinaus sollen schwächere Kinder sehr schnell aufgefangen werden. Das geschieht eben durch das System der Coaches. Jedes Kind sollte seinen Coach alle zwei Wochen treffen, besprechen, wo es Schwierigkeiten gibt, wo die Interessen liegen. Der Coach entwirft auch den Stundenplan mit dem Kind und sorgt dafür, dass es bei Bedarf gezielte Förderung bekommt.
Wird uns das, was wir heute in der Schule lernen, überhaupt weiterhelfen? Es steht ja ohnehin alles im Internet einen Klick entfernt. Wozu noch auswendig lernen?
Ja und nein. Einerseits halte ich das sture Auswendiglernen von lexikalischem Wissen für überflüssig. Auf der anderen Seite braucht es doch ein Basiswissen, um vernetzt denken zu können. Ich glaube, dass dieses vernetzte Denken über den Projektunterricht, wo auch fächerübergreifend gearbeitet würde, gefördert werden würde. Trotzdem braucht es ein Basiswissen, die große Übersicht, Geschichte, Chemie, Physik. Diese Fächer allerdings sollten viel mehr über Experimente und „hands-on“ unterrichtet werden, damit Kinder und Jugendliche praktisch erfahren, worum es geht und nicht nur theoretisch in Büchern darüber lesen.
„Im Idealfall geht jedes Kind einfach in die Schule um die Ecke, wodurch man automatisch eine andere Durchmischung hätte.“
Die Fähigkeiten, die Menschen heute brauchen, kann man von den Problemen ableiten, die wir haben. Eines ist das Thema Ernährung. Sie plädieren für gemeinsames Kochen in der Schule. Was ist dabei der Hintergedanke?
Mit dem Thema Ernährung hängt einfach sehr viel zusammen. Erstens ist das Schulessen oft wirklich eine Katastrophe. Man geht den Weg des geringsten Widerstandes und macht für die Kinder rein kohlenhydratlastige Speisepläne: Nudeln, Nudeln und noch mehr Nudeln, Pommes Frites und viel zu viel Frittiertes. Wir wissen außerdem, dass in vielen Familien nicht mehr frisch gekocht wird, billiges Fertigessen auf den – im besten Fall – Tisch kommt. Eine gesunde Ernährung ist aber nicht nur für die Leistungsfähigkeit des Gehirns wichtig, sondern auch körperlich. Erkrankungen wie Diabetes oder Adipositas sind direkt auf die Ernährung zurückzuführen. Und ich halte es für ein essenzielles Zukunfts- bzw. Gegenwartsthema, bei dem es um viel mehr als Essen geht: Umweltschutz, Umgang mit Ressourcen, Kultur.
In Ihrer idealen Schule läuft sehr viel über Projektunterricht – also beispielsweise lernen Kinder, indem sie vom Rezeptlesen über Einkaufslistenschreiben, Budgetberechnen, Einkaufen, Kochen und gemeinsamen Essen alles erfahren. So zu unterrichten fordert auch Einiges von den Lehrenden. Wie bilden wir in Zukunft LehrerInnen dafür aus?
In einer durchschnittlichen Wiener Volksschulklasse ist die Lehrperson mit allen möglichen Dingen konfrontiert, die gar nicht ihre Aufgabe sind – sozialarbeiterische Tätigkeiten etwa oder mit Kindern, die kein Wintergewand haben und nicht mit hinausgehen können, die keinen Straßenbahnfahrschein haben, weil es am Geld scheitert. Man muss die Realität sehen, wie sie ist. Man müsste den LehrerInnen wirklich viel abnehmen in der Schule durch die Berufsgruppen, die eigentlich dafür zuständig sind: PsychologInnen, SozialarbeiterInnen usw. Das wäre auch Aufgabe der Coaches, die hier viel abfangen könnten. Auf der anderen Seite ist es immer noch oft so, vor allem in den Mittelschulen, dass sich die Lehrenden nicht als PartnerInnen der SchülerInnen sehen, sondern als die, die beurteilen und aussortieren. Sie bemühen sich nicht um ihre SchülerInnen – und das müsste ein zentrales Element der LehrerInnenausbildung sein: zu vermitteln, dass sie dafür zuständig sind, jedes Kind zu erreichen, sich als PartnerInnen der Kinder zu sehen. Viele PädagogInnen machen das, aber längst nicht alle. Je überlasteter Lehrende sind, desto weniger Initiative bringen sie mit, desto mehr versuchen sie, einfach den Schultag zu überleben. Ich bin deshalb auch dafür, dass die Beurteilung nicht durch die LehrerInnen selbst erfolgt, sondern, dass es standardisierte Überprüfungen in den Kernfächern gibt. Die LehrerInnen sind dann mitverantwortlich für den Erfolg und sind angespornt, gemeinsam dafür zu kämpfen, etwas zu erreichen.
Wie kann man verhindern, dass es zu sogenannten „Brennpunktschulen“ kommt?
Meine Schule wäre eine Gesamtschule und nachdem alle Schulen nach dem gleichen Prinzip funktionieren würden, gäbe es nicht den besseren oder schlechteren Standort. Im Idealfall geht jedes Kind einfach in die Schule um die Ecke, wodurch man automatisch eine andere Durchmischung hätte. Und: Wenn Kinder bereits im Kindergarten gut die Sprache erlernen, wenn sie gute Betreuung in der Volksschule haben, dann gibt es gar keine Brennpunktschulen. Dann sind eben 20 Kinder mit nichtdeutscher Muttersprache in der Klasse, aber sie wurden ja vom Kindergarten an gefördert und kommen voran, weil alles die Schule übernimmt. Für viele LehrerInnen ist das Gespräch mit den Eltern die Antwort auf jedes Problem. Wenn Eltern eines Kindes aber nicht in die Schule kommen, muss man überlegen, warum die Eltern nicht kommen. Vielleicht, weil sie nicht wissen, dass es erforderlich ist oder weil sie befürchten, ihrem Kind zu schaden, weil sie so schlecht Deutsch können oder weil sie Angst vor der Kommunikation haben. Schule darf nicht davon ausgehen, dass die Familie sich kümmern muss. Die Schule muss das selber machen. Das ist ja genau der Punkt.
„Eine Investition in das Schulsystem hat eine Umwegrentabilität auf das Sozial- und Gesundheitssystem. Es ist sozusagen ein präventives System.“
Welche Reaktionen haben Sie auf „Zerschlagt das Schulsystem“ erhalten? Gab es nur Liebesbriefe?
Interessanterweise kam bisher tatsächlich nur positives Feedback. Niemand hat sich beschwert, dass meine Vision reine Traumtänzerei oder nicht finanzierbar sei. Ich denke, inzwischen ist eben jeder und jedem, der irgendwie mit dem Schulsystem zu tun hat – dort arbeitet oder Kinder hat –, klar, dass es so nicht mehr weitergehen kann. Und sowohl die Corona- als auch die Energiekrise zeigt uns, wie schnell es anscheinend möglich ist, Geldmittel aufzustellen, wenn nötig. Eine Investition in das Schulsystem hat noch dazu eine Umwegrentabilität auf das Sozial- und Gesundheitssystem. Es ist sozusagen ein präventives System.
Was können wir als Eltern – oder Großeltern – dazu beitragen?
Ich denke, dass wir Eltern immer noch zu sehr diese autoritären Strukturen mitdenken und mittragen. Wir stehen unsere Frau oder unseren Mann im Job, verhandeln und diskutieren. Wenn wir dann aber beim Elternsprechtag sitzen, sind wir still und leise, um unseren Kindern nicht dadurch zu schaden, dass wir unsere Meinung sagen. Damit sollten wir alle aufhören. Es geht aber nicht darum, bessere Noten einzufordern, sondern besseren Unterricht. Es würde mich wirklich freuen, wenn dafür Bewusstsein entstehen würde, dass wir Forderungen an die Bildungspolitik stellen dürfen. Jedes Elternteil versucht, sein Kind irgendwie unbeschadet durch dieses System zu bringen. Aber es wäre im Sinne aller Schülerinnen und Schüler, dass sich der Unterricht für alle Kinder ändert – letztlich in unser aller Sinne, um die Gesellschaft zukunftsfähig zu machen.