Wäre der Buchtitel „Mein Schrei“, man würde nicht innehalten, man hätte das Bild einer dramatischen Geschichte vor sich, die einem keine Grammatikrätsel stellt, einen nicht im Lesefluss innehalten lässt. Doch dann wäre die Autorin wohl auch nicht Sophie Reyer. Resultat der Lektüre: Eine Begeisterung. Meine.
Überlebensdurst
Es ist ein mutiges Vorhaben, die Geschichte zweier junger Frauen zu erzählen, sie ineinander zu verweben, sie aneinander wachsen zu lassen, sie miteinander „spielen“ zu lassen: Andrea, die junge Architektin, findet in Linda, ihrer Psychiaterin das perfekte, herausfordernde, intensiv nachfragende, empathisch reagierende, professionell arbeitende Gegenüber. Doch die LeserInnen wissen mehr über Linda:
„In einem einfachen Elternhaus komme ich zur Welt. Die Tage takten sich von Anfang an mühsam. Die Familie ist schon früh von finanziellen Sorgen gebeutelt, sodass man verzichten, zusammenrücken muss.“
Andrea betritt Linda Maiers Praxis, schildert ihre Therapeutin distanziert und kritisch. Sie zählt zur Selbstberuhigung alles auf, was sie hat: einen fixen Job und einen guten Mann. Sie und Sascha wollen bald heiraten, wären da nicht die Ohnmachten, die Andrea immer wieder „überfallen“, jene Momente, in denen sie sich zu teilen scheint, um sich dann gleichzeitig von innen und von außen sehen zu können.
Beide Frauen erzählen in Ich-Form, beide versuchen, ihre Kindheitsmuster und -rollen zu verstehen, hinter sich zu lassen oder einfach noch einmal klarer zu durchschauen. Andrea verlässt die erste Sitzung bestärkt und gestärkt, schließlich hat ihr die Therapeutin mit auf den Weg gegeben: „Hier gibt es kein ‚komisch‘“.
Gekonnt erzählt das Folgekapitel alsdann von all den „komischen“ Momenten im Leben der Therapeutin Linda.
„Die Welt ist komisch. Du handelst, man lässt kein gutes Haar an dir. Du verharrst in der Starre, man nennt dich angewurzelt. Dabei musst du doch erst einmal das alles durchstehen. Das alles. Also dieses Ich. Es ist seltsam. Ich beschließe, keine verbotenen Dinge mehr zu machen, mich unauffällig zu verhalten, damit keiner schreit.“
Andrea lässt sich auf die sanfte Stimme Lindas ein, setzt sich mit ihrer Kindheit, dem Stiefvater auseinander, zieht sich immer stärker von Sascha, ihrem Freund, zurück. Kann sie überhaupt lieben? Will sie Sascha heiraten? Will sie weiterleben?
Der Epilog erzählt nicht die ganze Wahrheit, die kennen die LeserInnen, aber vielleicht haben auch sie sich täuschen lassen. Was ist wahr? Will Linda Maier wirklich Roboter konstruieren? Stimmt ihre Diagnose „Dissoziation“ über die junge Architektin, deren Zustand sich Sitzung für Sitzung verschlechtert, wirklich? Hier lässt sich Bewusstseinsspaltung Seite um Seite erleben, erkennen und analysieren, nicht nur bei der Klientin.
Was Sie versäumen, wenn Sie diesen Roman nicht lesen:
eine ausgeklügelte Komposition mit zwei Stimmen, zwei Stimmlagen, verwirrende Situationen, Rückblenden, Manipulationen, Spannung, Verletzlichkeiten, Bilder von Kindheit und Trugbilder einer glücklichen Kindheit, gesprächstherapeutische Spurensuchen und viele falsche Fährten.
Sophie Reyer:
1983 in Wien geboren, Studium der Germanistik und Komposition an der Musikuniversität Graz, promovierte Philosophin und Komponistin klassischer Musik, arbeitet als freischaffende Autorin für Kindertheater.
Sophie Reyer:
Ein Schrei. Meiner.
Wien: Czernin Verlag 2022.
Christina Repolust
Ihre Leidenschaft zu Büchern drückt die promovierte Germanistin so aus: „Ich habe mir lesend die Welt erobert, ich habe dabei verstanden, dass nicht immer alles so bleiben muss, wie es ist. So habe ich in Romanen vom großen Scheitern gelesen, von großen, mittleren und kleinen Lieben und so meine Liebe zu Außenseitern und Schelmen entwickelt.”
www.sprachbilder.at
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