Unsere Leserin Gerlinde Freller-Steindl aus Haibach ob der Donau & ihre Herzenstochter Doaa Al Rashid im „Welt der Frauen“-Gespräch.
Welt der Frauen-Leserin Gerlinde Freller-Steindl (61) aus Haibach ob der Donau ist pensionierte Behindertenbetreuerin. Zu ihrer Familie gehören neben „dem besten Ehemann“ und ihrer 85-jährigen Mutter zwei „wunderbare leibliche Söhne“, „zwei liebe, tüchtige Stieftöchter“, fünf Enkelkinder sowie ein „Herzenssohn“, der in einer Betreuungseinrichtung im gleichen Ort lebt und der ihr Leben enorm bereichert – schließlich lässt sich Liebe nicht auf Blutsverwandtschaft beschränken. Seit einiger Zeit gibt es da aber auch Herzenstochter Doaa Al Rashid (28). Wie sich diese Beziehung anbahnte? Wir fragten erst bei der Mutter nach und baten anschließend die Tochter zum Gespräch.
„Wäre Doaa meine leibliche Tochter, würde ich stolz behaupten, dass sie durch meinen Einfluss so eine starke Frau geworden ist. Aber sie hat es ganz allein geschafft!““
„Doaa ist ein richtiges Energiebündel.“
Ich traf Doaa erstmals 2016, als sie wegen eines starken grippalen Infekts im örtlichen Supermarkt kollabierte. Daraufhin fuhr ich sie zum Arzt und zur Apotheke. Sie konnte nur ein paar Worte Deutsch, doch das änderte sich schnell, denn ihr Wissensdurst ist enorm, obwohl sie in ihrer alten Heimat dem Irak, nie zur Schule ging. Von Anfang an fragte sie so viel: über das Leben hier in Österreich, über mögliche Perspektiven, wie die Frauen leben… Sie will sich hier ein eigenständiges Leben aufbauen, ihren Töchtern eine gute Zukunft sichern. Dafür hat sie meinen allergrößten Respekt! Doaa ist ein richtiges Energiebündel. Sie schläft und isst wenig und ist den ganzen Tag auf den Beinen. Dank ihr lerne ich nicht nur die köstliche orientalische Küche kennen, sondern dringe auch immer tiefer in die Welt der Migration ein. Ich habe Doaa richtig gern, genauso wie meine drei ‚orientalischen Prinzessinnen‘, wie ich ihre Töchter gerne nenne.
„Ich sehe mich in erster Linie nicht als Muslimin, sondern als Frau und Mutter.“
Doaa, dein Mann Hamid (32), eure drei Töchter Shahad (10), Fatima (9) und Sabrin (6) und du habt euch 2015 mit vielen anderen Menschen voller Hoffnung auf den Weg nach Europa gemacht. Was hat euch dazu bewogen, eure Heimat zu verlassen?
Doaa: Eigentlich führten wir im Irak ein sehr zufriedenes Leben. Nachdem meine Schwiegereltern nach Nebraska, USA, auswanderten, hatten wir das Haus für uns allein. Wir hatten auch etwas Land, bauten Gemüse und Obst an, hielten Tiere. Ich verarbeitete Milch zu Joghurt und Käse. So versorgten wir uns weitgehend selbst. Hamid arbeitete als LKW-Fahrer. Leider ließ die politische Situation kein friedliches Leben zu. Milizen verschiedenster Gruppierungen suchten immer wieder nach Hamid, weil sein Vater für die amerikanische Militärbasis gearbeitet hatte. Hamid musste sich deshalb oft verstecken, sonst wäre er vermutlich verhaftet worden. Eines Nachts, ich war gerade mit Sabrin schwanger, brachen die Männer von der Miliz unsere Tür auf, schmissen mit Möbeln umher, schlugen mich und nötigten mich: „Sag uns sofort, wo dein Mann ist!“ Ich habe natürlich geschwiegen, denn ich wollte nicht, dass Hamid etwas zustößt. Aus diesem Grund flüchteten wir im Frühjahr 2014 zunächst in die Türkei. Sabrin war damals zwei Monate alt.
Warum seid ihr nicht dort geblieben?
Doaa: Weil wir in der Türkei nicht arbeiten und Geld verdienen durften, um unsere Kinder ernähren und in die Schule schicken zu können. Also gaben wir unseren Familienschmuck und das Geld, das wir mitgenommen hatten, den Schleppern und fuhren eines Nachts mit einem Schlauchboot vier Stunden lang über das Mittelmeer nach Griechenland. Wenn ich gewusst hätte, wie viele Menschen bei der Überfahrt schon ertrunken sind, hätte ich diese Reise nie riskiert. Man setzt dabei sein Leben aufs Spiel! Die Wellen waren so hoch, dass das Boot dreimal voller Wasser war und meine Tasche mit meinen letzten Habseligkeiten ins Meer fiel. Auch Hamid und Sabrin kippten vom Boot. (Ihre Stimme bricht, klingt weinerlich) Das war furchtbar, denn sie können nicht schwimmen und trugen keine Schwimmwesten! Gott sei Dank konnten die anderen Männer sie wieder ins Boot ziehen. Als wir in Griechenland ankamen, blieben wir 20 Tage in einem Flüchtlingscamp. Dann setzten wir unsere Flucht über die Balkanroute fort. Nach mehreren Zwischen-Stationen landeten wir 2016 in Haibach.
Die Pfarre Haibach ging damals auf die „Caritas“ zu und initiierte, dass ihr und eine syrische Familie im leerstehenden Pfarrhof ein neues Zuhause findet. Inzwischen wohnt ihr alleine hier. War es schwierig, sich in Österreich zu integrieren?
Doaa: Manchmal ja, weil ich anders aussehe. Aber selbst wenn Menschen böse schauen, bleibe ich offen und sage freundlich lächelnd „Grüß Gott!“ Um Anschluss zu finden, habe ich einen Sprachkurs besucht und im „Haus der Begegnung“ den Frauen von meiner Geschichte erzählt. Wir haben alle gelacht, weil wir uns am Anfang nur mit Händen und Füßen unterhalten konnten. Einmal habe ich den Frauen bei einem Workshop auch gezeigt, wie man auf orientalische Weise Haare entfernt und Augenbrauen zupft. Dabei entstanden ein witziges Video, und auch neue Freundschaften. Jene mit Gerlinde ist besonders innig. Ich werde nie vergessen, wie sie mich damals, als ich im Supermarkt zusammenbrach, aufgelesen und zum Arzt gebracht hat. Sie unterstützt mich seither, wo immer ich sie brauche. Ihre Hilfsbereitschaft ist vorbildlich. Sie ist wie eine zweite Mutter für mich! Neben ihr gibt es noch einen Mann, der uns zur Seite steht. Er heißt Gerhard Springer. Wie alle nennen ihn „Opa Gerhard“.
Dein Mann und du hattet Glück. Ihr habt eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen und Arbeit gefunden.
Doaa: Dafür sind wir unendlich dankbar. Hamid arbeitete zuerst auf der Gemeinde, inzwischen ist er bei einem metallverarbeitenden Betrieb im Ort angestellt. Ich bin seit drei Jahren im Gastronomiebereich als Reinigungskraft, Zimmermädchen und Küchengehilfin beschäftigt und verdiene zum ersten Mal im Leben mein eigenes Geld. Es fühlt sich gut an, finanziell unabhängig zu sein! Ich genieße meine Berufstätigkeit sehr. So erlebe ich viel Neues. Vor allem die Arbeit in der Küche gefällt mir. So kann ich gleich österreichische Kochrezepte sammeln. Unsere Töchter haben auch schon ein neues Lieblingsgericht: Wiener Schnitzel von der Pute mit Pommes!
Wie war dein Leben im Irak?
Doaa: Nicht leicht. Mein Papa, er ist Polizist und sunnitischer Muslim, hatte drei Frauen. Im Irak ist das normal, wenn man es sich leisten kann. Wir lebten alle gemeinsam im gleichen Haus, auch meine zwölf Brüder und meine sechs Schwestern. Meine Mutter, sie ist jetzt 42 Jahre alt, war Papas zweite Frau. Als er noch eine dritte, jüngere Frau heiratete, protestierte Mama. Daraufhin schlug sie mein Vater, reichte die Scheidung ein und setzte sie auf die Straße. Ich war damals sieben Jahre alt und habe sie seither nicht mehr gesehen, weil Papa es so wollte. Sie ist inzwischen wieder verheiratet und hat drei Kinder. Als sie weg war, mussten meine fünf leiblichen Brüder und ich bei Papa bleiben. Im Irak ist es nämlich Gesetz, dass Kinder nach einer Trennung beim Vater bleiben. Ich musste den Haushalt übernehmen, kochen, waschen, putzen und meine fünf kleinen Brüder großziehen. Deshalb durfte ich sieben Jahre lang keine Schule besuchen. Niemand hat mir geholfen, auch nicht die anderen Frauen meines Vaters. Ich musste es selbst tun, sonst hätte es große Probleme gegeben.
Wie ging es weiter?
Doaa: Ohne Halt. Eines Tages kam Hamids Vater in unser Haus, weil er für einen älteren Sohn eine Frau suchte. Dann sah er mich und fand mich passend für Hamid, den ich noch nie zuvor gesehen hatte. Mein Papa willigte ein. So war meine Ehe arrangiert. Das ist wie ein Geschäft. Mit 16 Jahren wurde ich im Zuge dieser Doppelhochzeit gleich mitverheiratet. Damit hatte mich mein Vater endlich aus dem Haus. Denn für meinen Ehemann musste ich von Mossul nach Basra ziehen, 950 Kilometer weit weg von zuhause.
Wie bist du damit umgegangen, dass über deinen Kopf hinweg entschieden wurde?
Doaa: Ich wollte nicht heiraten, sondern spielen und meine verlorene Kindheit nachholen. Aber ich hatte nichts zu melden. Einen Monat lang war ich nur traurig, denn alle meinten, ich müsse mich fügen. Besonders schlimm war für mich, dass ich meine kleinen Brüder verlassen musste. Bis heute habe ich eine Mutterrolle für sie ein und werde bei Problemen oft um Rat gefragt… Irgendwann merkte ich, dass Weinen nichts hilft. Da habe ich mich ergeben. Ich hätte damals so gern mit Mama geredet, aber sie war nicht da. Deshalb sprach ich jeden Tag mit Gott. Das half mir, alles durchzustehen.
Wie hat Gott dir geholfen?
Doaa: Indem ich Hamid zum Mann bekam. Er behandelt mich gut. Außerdem ist er jung und sieht gut aus. Er ist für mich auch Vater und Mutter und Bruder. Er will mir alles sein!
Doaa, Hamid, Fatima, Shahad und Sabrin, die seit Herbst die Schule besucht, sind dankbar für ihre Bleibe im alten Pfarrhof. Die Kinder erfreut vor allem der Garten, in dem vier Hühner und eine Katze wohnen. Dass im Februar bei ihnen eingebrochen und Mobiliar mutwillig zerstört wurde, war für die Familie ein Riesenschock. Dennoch glauben sie weiterhin an das Gute.
„Das Wichtigste ist, ein schönes Herz zu haben.“
Bald darauf bekamt ihr drei Kinder. Hamid scheint mit der Tatsache, dass es Mädchen sind, gut leben zu können. Deine Schwiegereltern hingegen drängen vehement auf einen Enkelsohn, einen Stammhalter. Wie gehst du mit dieser Bevormundung um?
Doaa: Meine Schwiegereltern wünschen sich deshalb einen Sohn für meinen Mann, weil es im Irak Tradition ist, dass sich erwachsene Söhne um die Eltern kümmern. Sie sind ihre Versorgung im Alter. Jeden Tag rufen sie Hamid an und reden auf ihn ein. Ich drücke mich vor diesen Gesprächen, denn sie setzen mich unter Druck. Es liegt ja nicht in meiner Hand, welches Geschlecht ein Kind entwickelt. Für Hamid ist es schwer, sein eigenes Leben zu führen, wenn sie sich einmischen. Ihnen zuliebe erwarten wir bald ein viertes Kind.
Was, wenn es wieder ein Mädchen wird?
Doaa: Dann bin ich glücklich und Ende! Hauptsache das Kind ist gesund. Jedes Kind ist ein Geschenk. Auch Hamid sieht das so. Nach diesem vierten Kind ist Schluss mit Familienplanung. Ich möchte leben und nicht immer Kinder, Kinder! Ich muss auch auf mich schauen. Ich würde so gern deutsch schreiben lernen, aber momentan mache ich alles nur für die Kinder. Nur am späten Abend, wenn es ruhig im Haus ist, bleibt Zeit dafür. Dann schnappe ich mir Lernunterlagen und mein Schreibheft.
Zurück zum familiären Gehorsam: Ist es normal, dass erwachsene Kinder im Irak so unter der Fuchtel ihrer Eltern stehen?
Doaa: Ja, man muss den Eltern immer folgen, sonst schimpfen sie. Ich lerne erst hier in Österreich, dass ich das machen darf und soll, was ich will – und nicht das tun muss, was andere sagen. Viele junge Leute aus dem Irak, die hier in Österreich sind, müssen das auch lernen. Die Macht der Eltern reicht bis hierher, auch wenn sie tausende Kilometer entfernt sind. Deshalb finden viele im Kulturkreis hier nur schwer Halt. Das ist ein Problem, vor allem im Kopf.
Trägst du deshalb noch Kopftuch?
Doaa: Nein, das tue ich, weil es Tradition ist und zu mir gehört. Ich trage es schon seit meinem zwölften Lebensjahr und kann mir nicht vorstellen, ohne es zu sein. Hamid sagt, ich könne ruhig ohne unter Leute gehen – auch unsere Töchter tragen keines. Aber ich habe meinen eigenen Kopf. Nur wenn ich zuhause bin oder unter Frauen, lege ich es ab. Gerlinde hat schon meine neue Frisur gesehen. Vor kurzem habe ich mir nämlich meine langen Haare auf Pagenkopf-Länge abschneiden lassen. Das schaut gut aus! Aber das Wichtigste ist, ein schönes Herz zu haben. Schönheit kommt von innen.
Petra Klikovits
In ihrer monatlichen Onlinekolumne „Meine wunderbare Tochter“ führt Petra Klikovits bewegende Gespräche mit Töchtern, Schwiegertöchtern, Enkeltöchtern, Stieftöchtern, Adoptivtöchtern, Pflegetöchtern, Patchwork-Töchtern und anderen Bonustöchtern von Leserinnen, die auf diese via meinewunderbaretochter@welt-der-frauen.at aufmerksam machen. Mehr von Petra Klikovits lesen Sie jeden Monat in Welt der Frauen.
Fotos: privat