Ins Blaue diskutieren

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  • Veröffentlicht: 09.01.2021
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Rahel Varnhagen war eine Gesellschaftskünstlerin und vertraute darauf, dass wir alle zusammen genügend Ideen in uns tragen, um aus einem Abend ein Erlebnis zu machen. Auf Geist und Witz kam es ihr an. Jede Frage war erlaubt.

Auf einen Augenblick: Selbst denken

Wenn du der Nachwelt drei Dinge sagen könntest, welche wären das? Was ist gerecht? Ist es besser, zu glauben, ohne zu wissen, oder zu wissen, ohne zu glauben? Wofür lohnt es sich zu leben? Welches Buch rettet die Welt? Wieso, weshalb, warum – wer nicht fragt, bleibt dumm: Die meisten von uns haben das schon als Kinder gelernt. Lauthals mitgesungen. Und wieder vergessen. Die Lust am Fragen und die Lust am Denken gehören höchstwahrscheinlich nicht zu den bevorzugten Freizeitbeschäftigungen Erwachsener. Es gibt bequemere Zerstreuungen. Hochglanzmagazine, in denen das Leben der anderen stattfindet.

E-Bay, wo man das Sein durchs Haben ersetzen kann. Xbox und Playstation, die Abenteuer mit Sicherheitsabstand bieten. Der Fernseher, der aus Leuten, die peinliche Dinge tun, Superstars macht. Satt wird man davon nicht. Die Langeweile kratzt an der Tür.

Auf das Selberdenken kommt es an.

Das dagegen war das Motto der Rahel Varnhagen. Sie lernte es von Gotthold Ephraim Lessing. Seine Werke las sie ebenso wie die von Rousseau, Shakespeare, Dante. Die großen Klassiker, deren Einträge in Wikipedia uns schon zu anstrengend sind.

Dabei war Selberdenken für eine Frau des 18. Jahrhunderts nicht vorgesehen. Der weibliche Wert bemaß sich nach Schönheit und Stand. Rahel hatte beides nicht. Bildung fand ihr Vater nicht notwendig – sie schon. Also las sie, und so öffnete sich die Welt. Doch das reichte ihr nicht. Was nützen die klügsten Gedanken, wenn man sie nicht teilen kann? Rahel lud Gäste ein. Es gab kein großes Diner. Auch keine Sitzordnung, Unterhaltung bot sie ihnen nicht. Sie unterhielten sich selbst. Ob einer von Rang war und von Namen, war nebensächlich. Der Schein war Rahel egal.

 Es hat sich ausgegnädigefraut! Nennt mich Rahel!

Sie war eine Gesellschaftskünstlerin und vertraute darauf, dass alle zusammen genügend Ideen in sich tragen, um aus einem Abend ein Erlebnis zu machen. Auf Geist und Witz kam es an. Jede Frage war erlaubt. Jede Meinung willkommen. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen gingen die Großen bei ihr ein und aus. Jean Paul. Bettina von Arnim. Alexander Humboldt. Diese schüchterten sie nicht ein:

Viel sprechen würd‘ ich immer, weil ich viel denke. Hierüber mündlich: dass das nämlich ein Irrtum ist, zu glauben, dass die, welche viel denken, schweigen. Wer plappert, freilich, der hat keine Zeit zum Denken. Aber wer Ideen hat, muss sie mitteilen.

Kunst. Philosophie. Literatur. Das Leben. So viel Stoff für spannende Geschichten. Die Welt ist so weit, wie man denkt. Rahel Varnhagen hätte sich wahrscheinlich gewundert, wie wenig davon auf unseren abendlichen Bildschirmen übrig geblieben ist.

Rahel Varnhagen lebte von 1771 bis 1833. Sie wurde bekannt durch ihre Salons, in denen philosophiert und diskutiert wurde. Als Schriftstellerin veröffentlichte sie Tagebücher und Briefe.

Mach's wie Rahel

Schalt den Fernseher aus. Setz den Computer in den Ruhezustand. Schaff Stühle herbei und lade Freunde ein oder andere interessante Menschen. Veranstalte einen Abend zum Reden, Denken, Ins-Blaue-Diskutieren. Ohne großes Essen, ohne aufwendige Vorbereitungen. Hab ein paar Themen in der Tasche und im Kopf. Verwandle die Welt in einen Ort voll Geist und Witz.

 


Erschienen in „Welt der Frau“ 3/2012 – von Susanne Niemeyer