Die Suche nach der Heimat

Die Suche nach der Heimat
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  • Veröffentlicht: 29.03.2021
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75 Jahre „Welt der Frauen“

Anlässlich unseres Jubiläums haben die Redaktionsmitglieder in den Heften ihres jeweiligen Geburtsjahrganges gestöbert und ihr Highlight ausgewählt. Ein Streifzug durch eine bewegte Geschichte.

Sophia LangSophia Lang, Redakteurin seit 2015, über einen Beitrag in der Dezember-Ausgabe 1992

Der Artikel „Heimatsehnsucht“ der langjährigen Chefredakteurin Friederike Lenzeder aus dem Jahr 1992 handelt von der Suche nach Geborgenheit. Was ist „Zuhause“ eigentlich?

Ich kann mich sowohl an einem Ort als auch bei bestimmten Menschen oder in gewissen Situationen zu Hause fühlen. Ich kann aber auch in mir selbst zu Hause sein. Diese Ursehnsucht nach Geborgenheit und Schutz trägt jeder Mensch in sich, wir sehnen uns nach einem sicheren Hafen, in den wir zurückkehren können, wenn das Leben stürmisch ist.

Im besten Fall erfahren wir diese Geborgenheit als Kind bei unseren Eltern. Als Erwachsene begeben wir uns alleine in eine Zukunft, die ungewiss und unberechenbar ist. Manche Menschen haben das Glück, sofort Wurzeln schlagen zu können, andere ­bleiben ewig Suchende, ohne je „zu Hause“ anzukommen.

Als ich die alten Ausgaben durchblätterte, blieb ich bei diesem Artikel sofort hängen. Denn wie die Sehnsucht nach Geborgenheit begleitet uns auch eine ungewisse Zukunft ein Leben lang. Deshalb ist das Thema zeitlos, und gerade in der aktuellen Krise zeigt sich wieder: Haben wir bereits Wurzeln, um uns zu Hause fühlen zu können? Oder sind wir noch immer Suchende?

Heimatsehnsucht

Vom Streben nach Geborgenheit

„Mutti, nicht abnehmen!“, fleht die vierjährige Dagmar, als die Mutter verkündet, daß sie eine Abmagerungskur machen wird. „Wenn du dick bist, bist du so weich!“, sagt sie zärtlich und kuschelt sich in die behagliche Rundlichkeit der mütterlichen Arme.

Eine schöne, schlanke Mutti scheint kein Anreiz für die Jüngste im Familienkreis zu sein. Es soll alles bleiben, wie es ist. Instinktiv bangen Kleinkinder um ihre Sicherheit, wenn sich am gewohnten Lebensrahmen etwas ändert.

Sie sind zu Recht besorgt, denn noch bedürfen sie der Geborgenheit als einer der wichtigsten Grundlagen ihrer Entwicklung. Insofern ist der Konservatismus der Kinder, der auf Beständigkeit, Kontinuität und dem Festhalten am Gewohnten ausgerichtet ist, eine gesunde Schutzmaßnahme.

Heimatsehnsucht

Hin- und hergerissen!

Mit zunehmender Selbstsicherheit und dem Erlebnis der eigenen Handlungsfähigkeit kommen sehr bald auch die gegenteiligen Komponenten ins Spiel: die Freude am Wandel, das Sich-Herauslösen aus der Sicherheit in das Wagnis der Freiheit.

Dann wird sich die kleine Dagmar vielleicht sogar heftig gegen die heimelige Gemütlichkeit bei ihrer Mutter wehren, denn sie will und darf ja nicht das kleine Kind bleiben. Selbständigkeit ist nun das vordringliche Ziel.

Aber selbst bei den heftig nach Unabhängigkeit strebenden Heranwachsenden läßt sich immer wieder die Ursehnsucht nach Geborgenheit beobachten, auch wenn sie das durch rüdes Abwehrverhalten zu bemänteln suchen.

Aber wenn das Zahnweh gar zu arg geworden ist oder wenn der Liebeskummer drückt, pilgert so mancher Nestflüchter doch wieder in die Nähe der mütterlichen Arme, um sich trösten zu lassen. Aber nur verstohlen, versteht sich! Und später will man nicht mehr daran erinnert werden!

Dieser Zwiespalt bestimmt die Beziehungen des Kindes zu den Eltern: Einerseits das Bedürfnis nach Geborgenheit und Umsorgtwerden, anderseits der Wunsch nach Abgrenzung, Eigenständigkeit und Unabhängigkeit.

Und die Erwachsenen?

Man sollte sich nicht allzu sehr der Täuschung hingeben, daß mit dem Erwachsenenalter die Unabhängigkeit angebrochen wäre. Vielleicht entpuppt sich die schwer errungene Selbständigkeit schon bei der nächsten Lebenssituation als zu wenig tragfähig.

Zudem lassen sich Angst und Unsicherheit angesichts der Unwägbarkeiten des Schicksals nie ganz ausschalten. Die Ungewißheit unserer Zukunft begleitet uns ein Leben lang. Und damit auch der Wunsch nach Geborgenheit.

Dies gilt besonders für Zeiten persönlicher Krisen. Wenn wir nicht weiter wissen, wenn wir enttäuscht wurden, oder wenn wir uns überfordert fühlen, gewinnt neuerlich an Bedeutung, was uns in der Kindheit so wichtig war: ein gesichertes Zuhause, Menschen, von denen man bedingungslos anerkannt und geliebt wird, zuverlässige Orientierungshilfen … Eben all das, was wir mit dem Begriff Beheimatung meinen.

Dann ist aber auch wieder die gegenläufige Tendenz wirksam: Wir müssen den Gewohnheitsrahmen immer wieder sprengen, um den geänderten Anforderungen gerecht werden zu können.

Jeder muß jeweils für sich fragen: Wieviel Geborgenheit brauche ich, um im Wandel der Lebensereignisse nicht unterzugehen? Und umgekehrt: Wo beginne ich zum Spießer zu verkommen, der sich im satten Genießen erschöpft? Ein ängstliches Festhalten am Gewohnten, das Vermeiden von Risken, eine strikte Abwehr von Veränderungen sind Warnsignale, die auf eine Stagnation in der Persönlichkeitsentwicklung hindeuten.

Allerdings: Wenn man bedenkt, daß sich in unserer Zeit das Tempo der Veränderungen laufend steigert, daß jeder ununterbrochen mit Neuem konfrontiert ist und die Erfahrungen von gestern bereits morgen schon wieder überholt sind, wird verständlich, daß das Streben nach Sicherheit und Geborgenheit im Wertbewußtsein heutiger Menschen besonders hoch rangiert.

Nicht zuletzt auch bedingt durch die Millionen Menschen auf der Flucht. Sie führen dramatisch vor Augen, wie zerbrechlich und nur gestundet der Wert Heimat ist. Niemand braucht heuer die Herbergsuche der Heiligen Familie zu spielen, denn sie ist schreckliche Wirklichkeit vor unserer Haustür.

Fremdsein, Unbehaustheit, Exil, Heimatlosigkeit sind Motive, die in Gebeten angesprochen werden, die die Literatur durchziehen und die in Märchen und Volksliedern anklingen. Es handelt sich um Urthemen, die unseren Lebensnerv berühren.

Was ist mir Heimat?

Irgendwie ist jeder Zeitlebens auf Suche nach dem Daheimsein. Denn nie werden unsere Wünsche ganz erfüllt, weil wir wohl selber nicht so recht wissen, wonach wir uns konkret sehnen. Daher unternimmt jeder seine individuellen Anläufe, um diese diffuse Sehnsucht zu erfüllen.

Der eine setzt auf ein eigenes Haus, der andere sucht Heimat in einem fernen Land; für den einen ist der gesellige Freundeskreis eine Art Heimat, für den anderen der Rückzug in die Einsamkeit. Bei manchen Menschen wird die Heimatsuche zu einer Irrfahrt, indem sie von einem Ziel zum anderen rasen, hoffend, einmal dort anzukommen, wo sie sich hingehörig fühlen.

Es gibt auch andere Ansätze, die vielleicht recht banal anmuten, aber doch mit Geborgenheitssuche zu tun haben: „Ich brauche einfach mein Kaffeehäferl, sonst schmeckt mir der beste Kaffee nicht!“, meint die alte Dame.

Tatsächlich können kleine Dinge, die wir liebgewonnen haben, unser Wohlbefinden stützen. Das kann der Stammplatz im Park sein, eine abgetragene Handtasche, ein zur Tradition gewordener Telefonanruf oder ein ganz bestimmter Blumenstrauß an einem ganz bestimmten Tag …

So baut sich jeder seine Geborgenheitsnischen, um sich auf diese Weise die Welt vertrauter zu machen, vielleicht auch, um Angste damit abzuwehren. Warum nicht?

„Jetzt habe ich die schöne neue Wohnung – aber daheim fühle ich mich hier nicht!“, sagt die 50jährige, grübelnd, woran es liegen mag, daß sie an diesem Ort offensichtlich keine Wurzeln schlagen kann. Mit dem Kopf läßt sich meist nicht erfassen, ob wir uns an einem bestimmten Ort wohlfühlen oder nicht.

Jedenfalls gibt es das: Alles scheint zu stimmen – und es stimmt dennoch nicht! Zum Glück ist bei dieser Frau das Heimatgefühl nicht allein auf den Ort beschränkt: „Heimaterlebnisse habe ich trotzdem“, sagt sie weiter, „das kann mich z. B. plötzlich bei einem Konzert überkommen, bei einem Spaziergang, beim Lesen oder mitten im Gespräch.

Da bin ich dann richtig glücklich, ich fühle mich geborgen und zugleich unheimlich frei!“ Sie hat sogar ein treffendes Wort erfunden: ,,Heimatpunkte“ nennt sie diese Augenblicke des Glücks.

An diesem Beispiel wird deutlich: Unser Heimatgefühl ist zwar auch an Orte gebunden, aber nicht nur. Es hat mit der Art unserer Beziehungen zu tun. Heimat kann entstehen als Folge eines geistigen Vorgangs: Etwa in einer beglückenden Begegnung mit einem Menschen, im plötzlichen Aufblitzen einer Erkenntnis oder in einem Augenblick der Dankbarkeit für irgendein unerwartetes Geschenk.

Immer dann, wenn ich mich als Person angesprochen fühle und mit einem mir entsprechenden Gegenüber in lebendige Beziehung treten kann. Hier sind auch religiöse Erfahrungen zu nennen. Das heißt also, daß sich Heimat überall ereignen kann, auch dort, wo jemand allein ist. Solche Erlebnisse hat es selbst in der aussichtslosen Trostlosigkeit der Konzentrationslager gegeben, wie aus Berichten von Überlebenden zu entnehmen ist.

Einander Heimat geben

„Nicht da ist man daheim, wo man seinen Wohnsitz hat, sondern wo man verstanden wird“, heißt es bei Christian Morgenstern. Hier wird eine heimliche Hoffnung angesprochen, die immer mit dabei ist, wenn wir mit anderen Menschen in Beziehung treten.

Denn es kann tatsächlich unser Leben verändern und die unwirtlichste Stätte wohnlich machen, wenn da ein Mensch ist, von dem man sich als Person angenommen weiß. Jemand, dem man vertrauen kann, bei dem man unbesorgt die Tarnkappe abnehmen kann, die man sich zum Schutz vor Verletzungen zugelegt hat.

Dieser berechtigte Wunsch nach Geborgenheit kann aber zum Stolperstein einer Beziehung werden, wenn es zu überzogenen Erwartungshaltungen kommt. Etwa, wenn jemand seine unabgedeckten Geborgenheitswünsche zum Anspruch an den Partner macht: „Du mußt alles tun, damit ich mich wohlfühle!“ Oder wenn sich einer in die Hilfsbedürftigkeit fallen läßt: „Mach’s du für mich!“

Es mag mancher Ehefrau anfangs gar nicht auffallen, daß sie ein Muttersöhnchen in den Armen hat, das verwöhnt und gehegt werden möchte. Spätestens wenn sie merkt, daß ihre eigenen Wünsche keinerlei Echo finden, erkennt sie die Einseitigkeit. Oft scheitern Beziehungen an solch ungleichgewichtigen Ansprüchen.

Ich meine, daß jeder von Zeit zu Zeit seine persönlichen Beziehungen kritisch prüfen sollte, ob und wie weit sie gleichgewichtig sind. Wobei man natürlich nicht mit der Briefwaage messen kann, ob jeder gleich viel an Zuwendung und Aufmerksamkeit bekommt. Die eigentliche Frage ist, ob einer dem anderen jeweils das nötige Maß an Hilfe und Verständnis entgegenbringt.

Nicht die Übereinstimmung in allem und jedem ist das Wichtigste. Auch nicht, daß einer die Last des anderen übernimmt. Viel wichtiger ist, daß jeder er selbst sein darf, ohne Bevormundung und Gängelung. Das schafft dann eine Atmosphäre der Geborgenheit, die die Identität eines jeden stärkt und zugleich die Kraft für die anstehenden neuen Aufgaben gibt. Wer auf solche Weise beheimatet ist, hat es dann nicht mehr not, ständig nach jemandem zu schielen, der ihn entlastet.

Friederike Lenzeder

Welt der Frau September 1992Erschienen in: Welt der Frau, September 1992

„Welt der Frauen“ begleitet ihre Leserinnen und Leser seit 75 Jahren – die erste Ausgabe erscheint 1946  unter dem Titel „Licht des Lebens“ in Wien im Kontext des ideellen Wiederaufbaus nach dem Krieg. 1964 wird „Licht des Lebens“ in „Welt der Frau“ umbenannt und schließlich 2018 zu „Welt der Frauen“.

Welt der Frauen April 2021

 

 

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