Barfuß, in Jeans und bunter Bluse und mit einer Tasse Kaffee in der Hand öffnet die Ordensfrau Melanie Wolfers (45) die Tür zu ihrem lichtdurchfluteten Wiener Vorstadthaus, in dem sie mit vier Mitschwestern des Salvatorianerinnen-Ordens lebt. Die Seelsorgerin strahlt, als ob sie FreundInnen zu Besuch hätte. Dabei ist es einzig und allein ihre eigene Gesellschaft, die Wolfers gerade so genießt.
Seit vielen Jahren „verabredet“ sich die gebürtige Deutsche, die Theologie und Philosophie studiert hat, regelmäßig mit sich selbst. Denn nur so könne sie, wie sie sagt, „die Freundschaft mit sich selbst pflegen“. Wie jetzt: Freundschaft mit sich selbst? Das klingt witzig. „Ja, und es ist ein origineller Weg zu gelebter Spiritualität!“, schwärmt sie.
Frau Wolfers, der Begriff „Freundschaft“ wird recht inflationär verwendet, unter anderem für Zweckfreundschaften, die auf Profit abzielen statt auf zwischenmenschliche Beziehung. Facebook suggeriert sogar, dass man FreundInnen per Mausklick finden kann. Gleichzeitig wächst aufgrund der hohen Scheidungsrate die Sehnsucht nach tragfähigen, verlässlichen Freundschaften. Sie plädieren nun dafür, sich mit sich selbst zu befreunden. Warum?
Melanie Wolfers: Weil die längste Beziehung unseres Lebens diejenige mit sich selbst ist. Je mehr wir mit uns selbst in Berührung kommen, umso reicher gestalten sich auch unsere Verbindungen im Außen. In meiner seelsorglichen Tätigkeit fällt mir auf, wie oft sich Menschen selbst im Weg stehen. Auch ich finde es manchmal ziemlich anstrengend, ich selbst zu sein … Daher habe ich mich gefragt: Wie können wir Freundschaft mit uns schließen und gut mit uns klarkommen, statt uns hart zu begegnen und uns das Leben schwer zu machen.
wohlwollend mit uns selbst umgehen
Ihre Erfahrungen beschreiben Sie in Ihrem neuen Buch „Freunde fürs Leben“. Die Zeiten für so ein Werk scheinen ideal.
Das sehe ich auch so. Ein Grund liegt im irrsinnigen Selbstoptimierungsdruck unserer Gesellschaft. Immer höher und schneller soll es gehen. In der Folge stellen wir auch an uns selbst zu hohe Erwartungen und glauben, schneller, dünner, erfolgreicher, anders sein zu müssen. Sind wir mit uns selbst befreundet, können wir Schwächen eingestehen, ohne uns dabei schlecht zu fühlen, und gehen auch dann wohlwollend mit uns um, wenn’s einmal nicht so gut läuft.
Wortkünstler Karl Valentin meinte: „Morgen gehe ich mich besuchen. Hoffentlich bin ich zu Hause!“
(lacht) Sein Spruch verdeutlicht, wie oft wir aus dem Häuschen sind, wie selten in uns selbst daheim. Und wie essenziell diese Selbstbesuche sind. Denn wenn ich nicht auf mich höre, höre ich primär auf andere und führe eine Existenz, die mir im Grunde fremd ist. Sobald ich aber mit meinem Körper und seinen feinen Signalen, mit meinen Gefühlen, Visionen und Werten in Verbindung trete, werde ich heimisch im eigenen Leben. Ich nehme echte Bedürfnisse wahr, nicht bloß suggerierte, und ich kann als Persönlichkeit wirken, nicht als Teil einer Mainstream-Masse.
Wo auch immer Sie stehen, genau dort können Sie damit beginnen, Ihre Umgebung bewusst wahrzunehmen.
Wann ist ein guter Zeitpunkt für den Beginn einer Freundschaft mit sich?
Jeder Augenblick eignet sich dafür, mit dem Hier und Jetzt auf Tuchfühlung zu gehen. Sogar das Warten auf den Bus, wo man oft gedankenlos über das Smartphone wischt. Womöglich haben Sie das Gefühl, hoffnungslos verliebt zu sein. Vielleicht haben Sie drei Kinder und einen Vollzeitjob und gehen im Stress unter. Oder Sie leiden an einer Krankheit. Wo auch immer Sie stehen, genau dort können Sie damit beginnen, Ihre Umgebung bewusst wahrzunehmen oder inneren Empfindungen zu lauschen, ohne eine davon mundtot zu machen. In einer echten Freundschaft darf man ja auch so sein, wie man ist, und muss nicht entsprechen.
Freundschaften leben von der Qualität der Treffen. Wo „daten“ Sie sich selbst?
Ich stelle mich jeden Abend zehn Minuten ans Fenster, blicke in den Himmel und lasse den Tag noch einmal durch die Erinnerung lebendig werden. Dann freue ich mich, spüre Dankbarkeit. Auch schwierigen Situationen gebe ich nochmals Raum. So lasse ich meine Seele atmen und vertraue alles Gott an. Andere Menschen betrachten ihr Leben etwa beim Joggen, Malen oder einer Tasse Kaffee aus einem Abstand heraus. Zeit dafür kann jeder finden. Denn diese Zeitpartikel, die uns in die Gegenwart ziehen und Fenster zu einer tiefen Wirklichkeitsdimension öffnen, sind überall verstreut.
Trotzdem weichen viele Menschen sich selbst lieber aus. Warum?
Tja, wer weiß, wen ich da treffe! (lacht) Im Ernst: Es ist keineswegs selbstverständlich, sich selbst näher kennenlernen zu wollen. Das Reich der Innenwelt kann verängstigen, Fragen aufwerfen, die das bisherige Lebenskonzept infrage stellen. Außerdem liegt unserer Gesellschaft nicht viel daran, dass ihre Mitglieder den Wert der Selbstbegegnung und Stille erfahren. Denn je weniger wir in Kontakt mit uns selbst stehen, umso manipulierbarer sind wir. Freundschaft mit sich selbst hat also viel mit Selbsttreue zu tun, mit der Würde und Freiheit, seinem Wesen entsprechend zu leben, anstatt gelebt zu werden.
Sie schreiben: „Stell dein Licht nicht unter den Scheffel. Lass es leuchten und lass andere dasselbe tun!“ Ein schöner Ansatz, vor allem, wenn man bedenkt, dass die Kirche Frauen bis heute kleinhält.
Stimmt, die Kirche hat Frauen im Namen einer falschen Demutsforderung oft entwertet. Selbstbewusstsein wurde als Stolz verdächtigt. Zweifelsohne bildet Geltungssucht einen Straßengraben. Doch der andere Graben ist es, die eigenen Gaben zu beerdigen. Das ist nicht im Sinne des göttlichen Erfinders. Gerade weil Frauen lange die Dienerinnenrolle zugeschrieben wurde, ist es wichtig, sich selbst gut zu behandeln. Viele können Komplimente und Lob nicht annehmen. Geht es Ihnen auch so? Dann fragen Sie sich: „Warum bin ich so knausrig mit mir und rede mein Gutes selbst schlechter?“ Freuen Sie sich lieber an Ihren Gaben, loben Sie sich und halten Sie das Licht in Ihnen dankend hoch! Wem das nämlich bei sich gelingt, der kann es auch bei anderen zulassen.
Freu mich auf dich!
Tragen Sie eigentlich ein Freundschaftsband oder einen Ring, der das Bekenntnis zu Ihnen selbst besiegelt?
Nein, aber das ist ein origineller Gedanke. Genauso wie die Idee, sich Briefe zu schreiben oder ein Smiley auf sein Handydisplay zu speichern mit der Botschaft „Freu mich auf dich!Wo auch immer Sie stehen, genau dort können Sie damit beginnen, Ihre Umgebung bewusst wahrzunehmen“. Solche Symbole helfen, aus dem Funktionsmodus auszusteigen und sich der göttlichen Wirklichkeit gewahr zu werden, in der wir uns bewegen.
Gehen Sie mit Emotionen wie Wut, Ärger, Neid et cetera auch so pfleglich um?
Ich versuche es, denn auch diese Gefühle teilen uns etwas mit. Wut etwa teilt mir mit, dass jemand meine Grenzen überschritten hat. Sobald ich das erkenne, kann ich Wut in Mut umwandeln, für mich einstehen oder meine Grenzen neu definieren. Gerade bei Kränkungen spielen Angst und Ärger eine große Rolle. Und da die tiefsten Wunden unseres Lebens Beziehungswunden sind, wird deutlich, wie wichtig und heilsam ein fürsorglicher Umgang mit diesen Kränkungsgefühlen ist.
Grenzen anerkennen
Spätestens da wird vielen wohl schmerzlich bewusst, dass sie in der Vergangenheit sich vergessen oder sich vernachlässigt haben.
Ja. In meiner Begleitungstätigkeit fällt mir auf, wie viele Menschen ihren Körper ausbeuten, indem sie etwa pausenlos aktiv sind. Sterbende, die sich der Begrenztheit ihres Lebens bewusst werden, bedauern häufig: „Hätte ich doch nicht so viel gearbeitet!“ Ich glaube, wir brauchen eine tiefe Einsicht in die Begrenztheit unserer Kraft und Lebenszeit. In unserer „entgrenzten“ Kultur – immer weiter, schneller – ist das freilich unmodern, aber wir sind und bleiben begrenzte Wesen. Ein altes Wort für den Grenzzaun heißt „Umfriedung“. In der Freundschaft mit mir selbst anerkenne ich meine physischen, charakterlichen und lebensgeschichtlichen Grenzen als einen „Raum, in dem ich in Frieden leben kann“, und bleibe in meiner Mitte. Überschreite ich hingegen permanent meine Grenzen, herrscht innerer Bürgerkrieg.
Apropos: Streiten Sie hin und wieder auch mit sich selbst?
Natürlich, in jeder Freundschaft kommt Zwist vor. Es gibt ja genügend Stoff, um mit sich und der eigenen Vergangenheit im Streit zu liegen. Aber Konflikte sind nicht schlimm. Ich bin dann noch achtsamer mit mir. Tappe ich etwa zum dritten Mal mit einem Menschen in die gleiche Falle, trete ich mir nicht selbst ins Schienbein und sage: „Du bist echt blöd, du lernst nie dazu.“ Nein, ich tröste mich und stelle mir Fragen, warum es wieder passiert ist. Dann begreife ich, dass ich mir vieles selbst angetan habe. Diese Einsicht gehört wohl zum Schwierigsten, aber auch zum Befreiendsten. Sie macht wieder handlungsfähig und erinnert an Grenzen. Und dort fängt Freundschaft mit sich selbst aufs Neue an.
Weiterlesen
Melanie Wolfers: Freunde fürs Leben. Von der Kunst, mit sich selbst befreundet zu sein. Adeo Verlag, 17,90 Euro
Zu den weiteren digitalen Angeboten: Melanie Wolfers
Erschienen in „Welt der Frau“ 10/16 – von Petra Klikovits